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N
ovembernebel lag über dem Park der Tuchvilla, waberte in milchigen Schwaden über die Wiesen und gab nur ab und zu die schwarze Form eines Wacholders frei oder das kahle Gerippe einer laublosen Buche, auf der eine einsame Krähe hockte.
»Das schaut aus, als wären wir ganz allein auf der Welt«, meinte Else beklommen. »Man sieht nicht einmal mehr den Perlach und den Dom, der Nebel hat alles verschluckt.«
»Ist halt Herbst«, gab Fanny Brunnenmayer zurück. »Die Zeit der Nebelfrauen und Gespenster.«
»Heilige Maria!«, rief Else erschrocken und bekreuzigte sich. »Sag net so was, Köchin. Ich hab eh Angst, wenn ich in der Nacht durch den schmalen Gang zum Abort schleichen muss.«
»Warum schaltest net das elektrische Licht an?«, fragte Fanny Brunnenmayer kopfschüttelnd. »Das hat der gnädige Herr extra legen lassen, damit wir nimmer mit der Laterne im dunklen Flur herumtappen müssen.«
Else machte eine abwehrende Bewegung. »Das elektrische Licht? Nie im Leben! Wo das so grell ist und man alles sehen kann? Da soll ich im Nachtgewand umherlaufen?«
»Ja, freilich«, sagte Fanny Brunnenmayer grinsend. »Da könnt man dich glatt für ein Gespenst halten, Else. Hol mal die Schachtel mit dem Silberputzzeug und den
Lappen aus der Kammer. Arbeit ist das beste Mittel gegen Trübsinn und Nebelgeister.«
Es war Sonntagnachmittag, die Köchin hatte eine große Kanne Kaffee für die Angestellten zubereitet, dazu würde man Butterbrot mit Pflaumenmus essen, um sich die Arbeit zu versüßen. Liesl hatte die Anweisung bekommen, den Herd blank zu scheuern, und schrubbte sich die Seele aus dem Leib, um die schwarze Herdplatte zum Glänzen zu bringen. Hanna würde nachher den Eisschrank putzen, das hatte die Köchin ihr schon verkündet, und sie selbst wollte sich die Speisekammer vornehmen. Gestern war Liesl dort auf die eindeutigen Hinterlassenschaften einer Maus gestoßen, deshalb mussten die mit Draht geschützten Vorratsschränke genau daraufhin kontrolliert werden, ob der Nager sich nicht irgendwo durchgefressen hatte. Fanny Brunnenmayer hatte gleich eine Mausefalle aus der Tischschublade genommen und schnitt ein Stückchen Speck ab, um das Mäuslein anzulocken.
Eigentlich sollte Hanna langsam erscheinen. Sie war zur alten Frau Melzer gerufen worden, um ihr die Schläfen mit Pfefferminzöl einzureiben, weil die Ärmste mal wieder von einer bösen Migräne heimgesucht wurde, bedingt durch dieses drückende Nebelwetter.
Dafür kam Gerti aus dem Dienstbotengang gelaufen, sie trug ein Tablett mit der großen Teekanne und mehreren Tassen.
»Wie eine Glucke betüttelt die gnädige Frau Elisabeth ihren Mann«, schimpfte sie und ahmte deren Sprechweise nach. »Ach, mein armes Schatzilein. Sitzt du weich genug? Hast du deine Tablette genommen? Lass mich deinen Verband wechseln, mein Liebster …«
»Der ist wirklich arm dran, der Herr Winkler«, meinte die Köchin mitleidig. »Wer diesen Drecksäcken in die
Finger gerät, der hat nix zu lachen. Die von der rechten Ecke, die warten bloß auf eine Gelegenheit, Randale zu machen und sich zu prügeln.«
Gerti war schlecht gelaunt wie immer in letzter Zeit. Sie zuckte die Schultern und meinte, dass der Herr Winkler gewiss selbst kein Unschuldslamm sei.
»Einen Prozess hat er am Hals«, berichtete sie. »Weil er einen SA-Mann mit einem Bierseidel verletzt hat.«
»Der Herr Winkler? Das kann ich mir gar net vorstellen«, meinte Fanny Brunnenmayer kopfschüttelnd.
»Stille Wasser sind tief«, belehrte Gerti sie und setzte sich zu Else an den Tisch, um einen Kaffee zu trinken. »Auf den ersten Blick siehst du keinem Mannsbild an, was in ihm steckt. So mancher entpuppt sich erst, wenn du näher hinschaust. Davon wisst ihr zwei ehrbaren Jungfern ja nix.«
Die Köchin verkniff sich eine bissige Bemerkung und ging lieber mit der Mausefalle in die Speisekammer, um sie dort an einem guten Platz aufzustellen. Sie wusste, dass Gerti in letzter Zeit mehrfach Liebschaften gehabt hatte, zweimal war sie an ihrem freien Tag sogar mit einem Automobil abgeholt und wieder zurückgebracht worden. Inzwischen kam der Autofahrer nicht mehr, dafür ein Radfahrer, ein ansehnlicher Bursche mit dunkelbraunem lockigem Haar. Unvorsichtig sei sie, die Gerti, fand die Köchin. Wie leicht konnte es ihr wie der Auguste gehen, die plötzlich mit einem Kind dagesessen hatte und schauen musste, wo sie einen Vater fand. Aber man konnte Gerti nicht wirklich einen Rat geben, sie war schnippisch und meinte alles besser zu wissen.
Aus dem Nebenhaus läutete es, die Herrschaft verlangte erneut nach Gerti.
»Kaum eine Minute hab ich gesessen«, moserte sie. »
Soll sie sich ihren Tee selber kochen, die faule Person. Immerhin hat mich die gnädige Frau Elisabeth als Kammerzofe eingestellt, doch ich komm gar net dazu, mich um ihre Kleider zu kümmern, weil sie mich wegen jeder Kleinigkeit herumschickt.«
Beinahe wäre sie mit Humbert zusammengestoßen, der einen mächtigen Henkelkorb mit schwärzlich angelaufenem Silber trug.
»Das Besteck liegt ganz unten«, erklärte er und stellte seine Last auf dem Boden ab. »Das muss zuerst geputzt werden, wünscht die Frau Alicia.«
»Wenn sie meint, dass wir es brauchen werden«, warf Else achselzuckend ein, »hat lang keine großen Gesellschaften mehr in der Tuchvilla gegeben. Wenn ich da an die schönen Bälle denk, die hier stattgefunden haben, als das Fräulein Kitty und das Fräulein Elisabeth noch unverheiratet waren! Das war ein Glanz! Die Damen in den eleganten Abendroben und die jungen Herren im Frack, die durch den Saal getanzt sind.«
»Man könnte meinen, du hättest mitgetanzt, Else«, spottete Humbert.
»Unsinn«, meinte sie errötend. »Zugeschaut hab ich, nachdem ich den Gästen die Garderobe abgenommen hab. Und manchmal bin ich hinauf, wenn die Damen im Badezimmer etwas gebraucht haben.«
»Die schönen Zeiten sind vorbei«, seufzte die Köchin. »Die gnädige Frau Elisabeth hat mir den Etat schon wieder gekürzt. Grad das gewohnte Menü zu Weihnachten hat sie genehmigt, ansonsten muss gespart werden. Bald wird sie mir noch die Kohlen für den Herd einzeln abzählen.«
»Besser so als anders«, warf Humbert leise ein. »Haben Sie gestern die Zeitung gelesen?
«
Er sprach nicht weiter, weil soeben Gerti gemeinsam mit Hanna in die Küche kam. Beide setzten sich zu Else an den Tisch, und Hanna goss Kaffee und Milch in die Becher. Die Köchin schwieg, sie wusste recht gut, was Humbert gemeint hatte. Die Villa Mantzinger war verkauft worden, und man hatte alle Hausangestellten entlassen. Fanny Brunnenmayer kannte einige von ihnen, sie waren fünfzehn, manche sogar über zwanzig Jahre im Dienst der Familie gewesen – nun standen sie vor dem Nichts. Was für Zeiten! Gott sei Dank sah es ja so aus, als würde es in der Melzer’schen Fabrik noch einigermaßen laufen. Und solange dort gearbeitet wurde, würde es in der Tuchvilla ebenfalls weitergehen, daran glaubte sie felsenfest.
Gerade tat sich die Tür zum Hof auf, und Christian trat ein, hinter ihm Dörthe, die sich im Flur noch die Gummistiefel von den Füßen zog.
»Die Dörthe kommt«, witzelte Gerti. »Passt auf eure Butterbrote auf.«
Christian ging hinüber zum Herd, um ein paar Worte mit Liesl zu reden. Die war jedoch so in ihre Arbeit vertieft, dass sie nur einsilbige Antworten gab. Deshalb ließ er sich mit enttäuschter Miene am Tisch nieder und stärkte sich erst einmal mit Milchkaffee und einem dick mit Pflaumenmus bestrichenen Brot. Das Gleiche brachte Fanny Brunnenmayer der Liesl zum Herd hinüber.
»Da, Mädel«, sagte sie und stellte es auf die Herdplatte. »Iss, damit du was wirst.«
Am Tisch begann man unterdessen über die veränderte Situation bei den Melzers zu sprechen.
»Ist die Tilly von Klippstein eigentlich immer noch bei der Frau Kitty zu Besuch?«, fragte die Köchin Humbert, der als Fahrer am besten Bescheid wusste. »Das sind inzwischen über drei Wochen.
«
»Sie muss halt nimmer im Krankenhaus arbeiten«, meinte Hanna. »Da hat sie Zeit, ihre Mutter zu besuchen.«
Gerti fand diesen Zustand merkwürdig. Zumal Humbert erzählt hatte, dass Tilly mit dem Auto aus München gekommen sei und nicht wie sonst mit dem Zug.
»Da stimmt was net«, vermutete sie. »Wenn ich die Mizzi das nächste Mal in der Stadt seh, dann fühl ich ihr mal auf den Zahn.«
»Was soll denn da nicht stimmen?«, wunderte sich Hanna.
Gerti dagegen machte ein betont wissendes Gesicht und hob die Schultern. »Ist halt nicht so einfach, wenn eine mit einem Mann verheiratet ist, der im Bett nix taugt …«
Sie fand wenig Zustimmung am Tisch. Humbert erwiderte kühl, sie habe wohl in letzter Zeit nur noch das eine im Kopf, und Fanny Brunnenmayer sagte streng: »Hier in meiner Küche wird net so hinterfotzig über die Herrschaft hergezogen. Merk dir das, Gerti!«
Da sie ein dickes Fell hatte, lächelte Gerti abfällig und prophezeite: »Die hat ihn verlassen und bleibt in Augsburg. Ihr werdet noch sehen, dass ich recht hab.«
»Und selbst wenn’s so wär«, argumentierte die Köchin. »Dann ging’s dich trotzdem nix an.«
»Mir tut einfach der arme Herr von Klippstein leid«, gab Gerti unverdrossen zurück. »Erst will sie mit ihm eine ›Vernunftehe‹ führen, und dann lässt sie ihn sitzen.«
»Pass auf, dass dich nicht einmal einer sitzen lässt, Gerti«, warnte Humbert sie ernst. »Bei deinem Mundwerk würd ich mich nicht drüber wundern.«
Hanna stieß ihn sacht mit dem Ellenbogen an. »Geh, Humbert. Sei friedlich. Die Gerti meint das net so.«
»Ist aber wahr«, behauptete er und schnitt sein
Pflaumenmusbrot in kleine Stücke, damit er sich beim Essen nicht versehentlich den Anzug bekleckerte.
Ein Weilchen war es still, die Kaffeekanne machte die Runde, die Messer kratzten auf den Tellern, man hörte Dörthe behaglich schmatzen.
Else erwähnte schließlich, dass ihr das Klavierspiel vom Leo fehlen würde.
»Der Bub ist ganz schmal geworden«, meinte Fanny Brunnenmayer. »Und immer hockt er allein in seinem Zimmer.«
»Das is net gesund«, fand Else. »Er wollt nicht mal mit in die Frauentorstraße. Und seinen Freund, den Walter, hab ich seit Wochen nimmer in der Tuchvilla gesehen.«
»Der ist auf dem besten Weg, ein Einsiedler zu werden, der Leo«, fügte Humbert hinzu. »Seine Mutter, die gnädige Frau Marie Melzer, ist darüber recht unglücklich. Anders sein Vater. Der hat neulich beim Frühstück gesagt, er sei froh, dass der Leo endlich begriffen habe, worauf es im Leben ankommt.«
»Freilich«, mischte sich Gerti ein. »Der Leo soll ja einmal die Fabrik übernehmen. Falls es die Firma Melzer’sche Tuchfabrik dann noch gibt.«
»Was redest du wieder für einen Schmarrn, Gerti?«, fuhr die Köchin sie an. »Natürlich wird die Fabrik weiterbestehen, bis er erwachsen ist. Die gibt’s seit dem Jahr 1882, die hat den Krieg überstanden und wird genauso diese Krise überdauern.«
Gerti hatte wie immer eine diebische Freude daran, schlechte Nachrichten zu verbreiten. »Damit ihr’s wisst und mir nicht später vorwerft, ich hätt euch net gewarnt: Vorgestern war der gnädige Herr drüben bei der gnädigen Frau Elisabeth, und weil ich ihnen den Tee gebracht hab, konnte ich ein paar Worte mithören …
«
»Mit dem Ohr an der Tür wie immer«, fuhr Humbert dazwischen.
»Ich kann gerne schweigen, wenn ihr’s nicht wissen wollt«, schoss Gerti bissig zurück.
»Nun red endlich«, knurrte die Köchin. »Sonst erstickst am End noch an deinen Neuigkeiten.«
Gerti nahm einen langen Schluck aus dem Kaffeebecher und sagte geziert, sie habe es nicht nötig, ihr Wissen weiterzuerzählen, sie täte es nur, um den anderen einen Gefallen zu erweisen.
»Ist es denn was Schlimmes?«, fragte Hanna besorgt.
»Wie man’s nimmt. Der gnädige Herr hat seine Schwester gebeten, einen Brief nach Pommern zu schreiben. Sie soll die Tante Elvira bitten, ihnen Geld zu leihen. Das hab ich gehört. Und ich weiß auch, warum er so dringend Geld braucht, der Herr Melzer.« Sie machte eine Pause und schaute in die Runde. Weil jetzt aller Augen an ihr hingen, nickte sie zufrieden und fuhr fort: »Das Geld braucht der gnädige Herr, weil ihm die Bank den Kredit gekündigt hat und alles auf einmal zurückhaben will.«
»Was für einen Kredit?«, wollte Humbert wissen.
»Für den Anbau hat er Geld bei der Bank geliehen«, erklärte Gerti. »Und weil der Anbau für die gnädige Frau Elisabeth und ihre Familie errichtet wurde, soll sie helfen, das Geld zusammenzubekommen. Aber das ist noch lange nicht alles …«
»Das hast du alles gehört, während du den Tee serviert hast«, meinte Humbert ironisch. »Hast die Zuckerstücke gezählt und die Tassen mehrmals ausgewischt?«
Alle wussten, dass die Herrschaft niemals solche Dinge in Gegenwart eines Angestellten beredete – es war klar, dass Gerti an der Tür gelauscht hatte. Doch außer Humbert regte sich niemand darüber auf, weil die Nachrichten
zu bedrohlich klangen. Jetzt setzte sich Liesl ebenfalls mit an den Tisch, um zuzuhören, bloß Dörthe nahm sich gleichmütig das letzte Brotstück und bestrich es mit Butter.
»Was denn noch?«, fragte Fanny Brunnenmayer beklommen.
Gerti machte eine Kunstpause, weil sie sich über Humberts Bemerkung geärgert hatte, schob ein paar Brotkrümel auf dem Tisch zusammen und formte ein Kügelchen daraus.
»In der Fabrik scheint es sehr schlecht zu stehen«, sagte sie dann. »Der Herr Melzer musste inzwischen drei Häuser in Augsburg verkaufen, um das Geld in die Fabrik zu stecken.«
»Etwa auch das Haus, in dem sich das Atelier befindet?« Gertis Wissen hatte Grenzen, sie konnte Hannas Frage nicht beantworten. Die Melzers besaßen mehrere Häuser in Augsburg, wie viele es waren, das wusste weder sie noch jemand anders am Tisch.
»Und wenn die Fabrik trotzdem Pleite macht?«, sprach Hanna aus, was alle insgeheim dachten. »Dann wird vielleicht sogar die Tuchvilla verkauft.«
»Freilich«, bestätigte Gerti. »Und wir alle sind dann arbeitslos.«
Stummes Entsetzen verbreitete sich am Tisch. Christian saß mit offenem Mund und schreckensweiten Augen da.
»Das könnt wirklich geschehen?«, flüsterte Liesl voller Furcht.
»Nun, es wäre immerhin möglich, dass der neue Besitzer einige der Angestellten übernimmt«, kam es gedehnt von Humbert.
Die Vorstellung, für einen anderen, völlig fremden Besitzer der Tuchvilla zu arbeiten, war für alle ein Schlag ins
Gesicht. Nicht einmal Gerti wollte das. Für Fanny Brunnenmayer und Else war es schlichtweg undenkbar, und Hanna erklärte, lieber stempeln zu gehen. Humbert hüllte sich in düsteres Schweigen, Christian starrte verzweifelt auf den leer gegessenen Teller, allein Dörthe meinte lakonisch: »Dann geh ich halt zurück nach Pommern. Da gibt’s Arbeit genug.«
Mit diesen Worten schlurfte sie hinaus, um ihre Gummistiefel wieder anzuziehen. Als sie die Außentür mit gewohntem Ruck öffnete, hörte man draußen einen ärgerlichen Fluch.
»Kannst net aufpassen?«
»Durch das Holz kann ich net hindurchschauen«, sagte Dörthe und ging in den Nebel hinaus, um noch die letzten Bäume zu beschneiden. Auguste taumelte in die Küche, die Hand gegen die Stirn gepresst. »So ein Trampel hat die Welt noch net gesehen«, schimpfte sie. »Schlägt mir die Tür an die Stirn. Gib mal rasch einen kalten Lappen, Liesl, das wird sonst eine Beule.«
Liesl sprang auf, um ein Küchentuch unter das Wasser zu halten, die anderen sahen Auguste missgünstig an, weil man genau wusste, dass sie kam, um zu schnorren.
»Habt’s noch einen Schluck Kaffee?«, fragte sie prompt und zog die feuchte Jacke aus. »Ich bin ganz durchgefroren. Und daheim gibt’s kaum noch Kohlen. Wie wir da über den Winter kommen sollen, weiß der Himmel. Der Hansl hat eine Bronchitis, und der Fritz hustet auch.«
Sie nahm das feuchte Tuch, das Liesl ihr reichte, und presste es auf die Stirn, dann ließ sie sich theatralisch auf einen Stuhl fallen.
»Kannst deine nasse Jacke ruhig in den Eingang hängen, Auguste«, ermahnte die Köchin sie unfreundlich.
»Das kann die Liesl machen«, meinte Auguste und
stöhnte. »Wenn ich schon mal sitze, fällt’s mir schwer, wieder hochzukommen. Und dann hab ich draußen noch einen Korb mit frischen Kräutern aus dem Gewächshaus abgestellt. Weißkohl ist drin, dazu ein paar Lauchstängel für die Suppe.«
»Kann dir nicht alles abkaufen«, versetzte die Köchin. »Oder du musst mit dem Preis runtergehen. Lauch hab ich noch von gestern, und dein Kohl von neulich, der hat Frost bekommen.«
»Allweil hast was zu nörgeln. Dabei weißt du genau, wie schwer ich es hab, seitdem der Gustav gestorben ist. In den Gewächshäusern wird’s halt kalt bei Frost. Wie soll ich sie denn heizen? Geh, Liesl, schenk mir einen Kaffee ein.«
»Kaffee ist alle«, erklärte die Köchin resolut. »Brüh ihr halt den Satz aus der Kanne auf, Liesl.«
Inzwischen hatte Humbert den Korb mit dem Silberzeug demonstrativ auf den Tisch gestellt, und Hanna trug einen Stapel alter Zeitungen herbei, die untergelegt werden mussten, damit die Tischplatte nicht verschmutzt wurde. Else griff nach dem Sahnekännchen, aber Humbert nahm es ihr aus der Hand und klappte den Besteckkasten auf. Gerti holte sich die Gabeln heraus und meinte zu Auguste, die ihren Kaffee schlürfte: »Kannst ruhig mittun, Auguste. Wenn du sowieso hier bist.«
Die lachte wegen dieser Bemerkung auf und meinte, sie habe daheim genug Arbeit, da brauche sie nicht in der Tuchvilla Silber zu putzen. »Noch dazu umsonst. Ja, wenn die gnädige Frau Elisabeth, die jetzt dem Haushalt vorsteht, mich für ein paar Stunden in der Woche einstellen täte, da wär mir und den Buben geholfen. Leider will sie nicht.«
Niemand gab darauf eine Antwort. Natürlich konnte
die gnädige Frau Elisabeth, wenn das Geld so knapp war, keine zusätzliche Arbeitskraft einstellen, doch das würde keiner von ihnen Auguste auf die Nase binden. Es wäre Verrat an ihrer Herrschaft, solche Dinge nach außen dringen zu lassen. Letzte Woche hatte die gnädige Frau ihr immerhin einen ganzen Korb voller abgelegter Kleider geschenkt, und Marie Melzer hatte Hosen und Pullover für ihre Söhne dazugelegt, aus denen der Leo herausgewachsen war. Aber Auguste war halt nie zufrieden, war es nicht einmal bei ihrem Mann gewesen. Immer hatte sie den armen Gustav zur Arbeit angetrieben, da musste sie jetzt schauen, wie sie ohne ihn fertig wurde.
»Kannst mir deine Buben morgen Mittag schicken«, sagte Fanny Brunnenmayer. »Es gibt Schupfnudeln mit Kraut, da bleibt immer etwas übrig.«
»Ist recht«, sagte Auguste wenig erfreut. »Holz für den Winter täten wir dringender brauchen. Und Kohlen sowieso«, fügte sie auffordernd hinzu.
Fanny Brunnenmayer zuckte die Schultern. Was dachte die sich eigentlich? Sollte sie für sie vielleicht heimlich etwas von dem Kohlenvorrat der Tuchvilla abzwacken?
»Dann musst eben Holz und Kohlen kaufen«, versetzte sie mitleidslos.
Hilfesuchend blickte Auguste sich um, bloß war niemand bereit, ihr zur Seite zu stehen, alle gingen ihrer Arbeit nach.
»Einkaufen?«, schimpfte Auguste. »Von was soll ich wohl Holz und Kohlen bezahlen? Ich muss einen Kredit abtragen, und die Gärtnerei bringt nichts ein im Winter. Hungern müssen wir und frieren. Hier in der Tuchvilla, da leben alle in Saus und Braus. Fleisch haben sie auf dem Teller und Kohlen im Ofen. Jeden Sonntag laufen sie zur Messe, um für ihre armen Seelen zu beten. Gleichzeitig
schaut ihnen der Geiz aus allen Knopflöchern, einer armen Witwe gönnen sie nicht einmal ein Stückerl Holz im Ofen.«
»Mama, bitte«, unterbrach Liesl sie, die es nicht mehr mit anhören konnte. »Hör auf zu schimpfen, eine Schande ist das.«
Schlagartig richtete Auguste ihren Zorn gegen die Tochter. Frech sei sie, hochmütig, wenn der Gustav noch am Leben wär, der hätte ihr längst den Marsch geblasen.
»Hast diesen Monat keinen Pfennig Geld heimgebracht«, schalt sie weiter. »Was hast du mit deinem Lohn gemacht? Der Maxl braucht neue Schuhe, und die kosten Geld.«
Fanny Brunnenmayer kochte vor Zorn, aber bevor sie eine Antwort geben konnte, machte Gerti den Mund auf. »Wieso muss das Mädel dir den ganzen Lohn geben, Auguste? Was hast du überhaupt an Kosten für die Liesl? Schläft sie bei dir? Isst sie bei dir? Wenn ich die Liesl wär, ich würde keinen müden Pfennig abgeben.«
Da hatte Gerti ausnahmsweise einmal etwas Richtiges gesagt. Die Auguste war selbst schuld an ihrer Misere, weil sie nicht auf den Rat der Marie Melzer gehört hatte. Anstatt eine Summe für den Winter anzusparen, hatte sie sich unter anderem mehrere Tischtücher aus Damast gekauft, dazu geschliffene Weingläser und eine teure Glaskaraffe. Sie wollte es halt fein haben in ihrem Häusl. So wie sie es in der Tuchvilla gesehen hatte, so sollte es bei ihr daheim sein.
»Bring den Korb mit dem Gemüse herein«, befahl die Köchin energisch, um weitere Streitereien zu verhindern. »Ich schau, was ich brauchen kann, und zahl es.«
Da beeilte sich Auguste, ihre Waren anzubieten, denn ganz ohne einen Verdienst wollte sie nicht heimgehen. Sie feilschte eine Weile mit der Köchin um einen Weißkohl,
musste schließlich nachgeben und bekam ihr Geld bar auf die Hand.
»Das reicht ja nicht einmal für den Weg«, schimpfte sie, zog die Jacke über und stapfte mit ihrem Korb davon.
In der Küche wurde schweigend gearbeitet. Vor allem Humbert und Gerti hätten sich allzu gern über Auguste ausgelassen, doch sie taten es nicht, weil sie die Liesl nicht verletzen wollten. Auguste war immerhin ihre Mutter. Später, als das Abendbrot für die Herrschaft gerichtet war und in der Küche einzig Fanny Brunnenmayer mit Liesl zurückgeblieben war, versuchte die Köchin, das Mädel zu trösten.
»Musst das Gerede von der Gerti nicht ernst nehmen, Liesl. Die Tuchvilla wird gewiss nicht verkauft. Und die Fabrik, die kommt wieder hoch.«
»Ich wollt Sie was fragen, Frau Brunnenmayer«, druckste sie herum.
»Frag halt …«
Liesl spülte den letzten Teller ab und trocknete sich die Hände an der Schürze, schaute dann die Köchin mit großen Augen bittend an.
»Ich …, ich brauchte ein wenig Geld. So fünfzig oder sechzig Reichsmark. Würden Sie mir die vielleicht leihen?«
Fanny Brunnenmayer war nicht sicher, ob sie recht gehört hatte. Geld brauchte die Liesl? Das hatte es ja noch nie gegeben.
»Wozu brauchst du so viel Geld?«, fragte sie verständnislos. »Für einen guten Mantel reichen zehn Reichsmark, wenn du ihn gebraucht kaufst.«
Liesl kniff die Lippen zusammen und schüttelte energisch den Kopf. »Ich will keinen Mantel kaufen, Frau Brunnenmayer. Ich will nach Pommern fahren. Zu meinem Vater.
«
»Das schlag dir aus dem Kopf«, rief die Köchin erschrocken. »Der wird ganz bestimmt net auf dich gewartet haben.« Als das Mädel zu Boden schaute und schwieg, fügte sie hinzu: »Geh lieber ins Bett, und vergiss die Dummheiten, Liesl.«
»Ich fahr auf jeden Fall«, kam die leise, entschlossene Antwort. »Auch ohne Geld. Weil ich ihn sehen will. Sonst hab ich keine Ruh mehr im Leben.«