20
K aum hatte Tilly den Hörer aufgelegt, stürmte Kitty ins Wohnzimmer und warf sich in den geflochtenen Sessel.
»Das war heute der dritte Anruf«, sagte sie empört. »Was bildet sich dieser Mensch ein? Glaubt er, dich zurückzugewinnen, indem er Terror ausübt, alle halbe Stunde anruft und dir die Leviten liest? Warum sagst du ihm nicht, dass er auf diese Weise nichts, aber auch gar nichts erreicht?«
»Das sage ich ihm seit Tagen, Kitty«, seufzte Tilly. »Bloß interessiert es ihn überhaupt nicht. Es ist, als ob man gegen eine Wand redet.«
Sie stellte den Apparat auf die Kommode und tat einen tiefen Seufzer. Nein, so schwierig hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass Ernst sich wie ein Gentleman verhalten würde. Gut, ihre überstürzte Abreise hatte ihn gekränkt, das war verständlich, da sie bisher nicht die Frau spontaner, einsamer Entschlüsse gewesen war. Allerdings hatte sie noch am gleichen Abend angerufen, ihm gesagt, dass sie in Augsburg bei ihrer Mutter sei und dass sie die Absicht habe, sich von ihm zu trennen. Er hatte diese Nachricht zunächst kommentarlos zur Kenntnis genommen, ihr am folgenden Morgen jedoch telefonisch erklärt, er sei nicht einverstanden und wolle mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln um seine Ehe kämpfen. Tage später war dann ein Brief gekommen, in dem er auf fünf Briefbögen in winzig kleiner Schrift seine Sicht der Dinge dargestellt hatte. Darin erinnerte er sie an ihr Eheversprechen sowie an ihre Übereinkunft, eine Vernunftehe miteinander zu führen, an die er selbst sich immer gehalten habe. Anschließend zählte er ihre Verfehlungen auf, mit denen sie dieses Abkommen verletzt und unterlaufen habe: ihren übertriebenen beruflichen Ehrgeiz, ihr Desinteresse an seinen Aktivitäten, ihre mangelnden Bemühungen, den Haushalt zu führen, was ihre Aufgabe als seine Ehefrau sei, ihre seelische Kälte, ihr Beharren auf einer Arztpraxis in einem Arbeiterviertel, und, und, und … Im Übrigen sei er der Ansicht, sie kleide sich unpassend, wolle nicht fraulich und begehrenswert wirken und lege eine demonstrative Langeweile an den Tag, wenn sie mit den Damen der Münchner Gesellschaft bei größeren Anlässen zusammentreffe.
Tilly las die Seiten mehrmals durch, und obgleich sie einiges dagegen hätte vorbringen können, war sie tief deprimiert. Gewissermaßen hatte Ernst recht. Sie war ihm eine schlechte Ehefrau gewesen, und er hatte allen Grund, sich über sie zu beklagen. Umso mehr erstaunte sie Kittys Reaktion. Als sie ihr nach einigem Zögern den Brief gezeigt hatte, war ihre Schwägerin nach kurzer Lektüre auf den Diwan gesunken und vor Lachen beinahe erstickt.
»Der ist ja wohl nicht ganz bei Trost … Ich glaub es nicht! Seelische Kälte! Dass ich nicht lache! Hahaha …Führung des Haushalts! Hahaha … Nein, der Klippi war immer eine komische Nummer …«
Das hemmungslose, völlig übertriebene Lachen tat Tilly in diesem Moment gut. Es war befreiend zu erleben, dass eine Frau alle diese Vorwürfe mit einem Lachen abtun konnte.
»Was machst du für ein Gesicht, Tillylein?«, fragte Kitty und warf das Schreiben achtlos neben sich auf den Diwan. »Ziehst du dir diesen Schuh etwa an? Steht der Herr von Klippstein in seiner ganzen männlichen Strenge vor deinen Augen, und du vergehst vor schlechtem Gewissen?«
»Natürlich nicht«, gab Tilly gereizt zurück. »Leider kann ich nicht leugnen, dass ich ein Versprechen gegeben habe, mit ihm in einer Vernunftehe zu leben …«
Kitty rollte die Augen, wie sie es immer tat, wenn jemand etwas äußerte, das nicht ihrer Ansicht entsprach. Eine Selbstsicherheit, die ihre Schwägerin immer bewunderte – Kitty war grundsätzlich davon überzeugt, dass sie selbst recht hatte und alle anderen unrecht.
»Dieses Versprechen hast du dem Mann gegeben, der er einmal gewesen ist«, belehrte Kitty sie mit erhobenem Zeigefinger. »Leider hat er sich inzwischen zu einem hässlichen, größenwahnsinnigen, hirnverdrehten Idioten entwickelt. Einem Menschen, der meine Herzensmarie eine – was hat er gesagt – Dreivierteljüdin genannt hat. Nein, dieser Kerl ist für mich komplett erledigt. Den kenne ich nicht mehr! Und es tut mir fürchterlich leid, dass ich ihn je gekannt habe.«
Tilly hatte Kitty von dem Gespräch berichtet, das das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, und Kitty war so entsetzt gewesen, dass sie am liebsten auf der Stelle nach München gefahren wäre, um Ernst von Klippstein höchstpersönlich die Augen auszukratzen.
»Besonders schlimm fand ich es, dass er es in Dodos Gegenwart gesagt hat«, fügte Tilly voller Abscheu hinzu. »Das Mädel hat mich während der Fahrt nach Strich und Faden darüber ausgefragt, was der Onkel da wohl gemeint haben könnte. Und ob es schlimm sei, ein jüdischer Mischling zu sein, weil ihre Mama jetzt auf der Straße verprügelt werden könnte, wie es mit dem Freund ihres Bruders geschehen sei. Du meine Güte, ich wusste kaum, was ich ihr antworten sollte, so entsetzt war ich …«
»Kein Wort mehr!«, hatte Kitty gesagt und den Satz mit einer entschiedenen Geste bekräftigt. »Du bleibst bei uns und basta!«
Daraufhin hatte Tilly sie dankbar umarmt. Mittlerweile war sie überzeugt, dass sie das Richtige getan hatte, es längst hätte tun müssen. Jedes Zögern, jede Verlängerung dieses unhaltbaren Zustands war unverzeihlich gewesen. Jetzt umgab sie hier in der Frauentorstraße Liebe und Wärme, heiteres Familienleben, freundliche Menschen – alles das, was sie jahrelang so schmerzlich vermisst hatte. Vor allem ihre Mutter war selig, die Tochter wieder bei sich zu haben, sie verwöhnen zu dürfen und natürlich – wie konnte es anders sein – ihre Lebensweisheiten über sie auszugießen: »Ich hab es dir von Anfang an gesagt, Tilly. Dieser Kerl ist nichts für dich. Wer eine so heikle Verletzung hat, die seine Männlichkeit außer Kraft setzt, der wird mit der Zeit komisch.«
»Ach Quatsch, Gertrude«, hatte sich Kitty eingemischt. »Der Klippi war immer komisch. Frag mal Paul, der kann dir was über ihn erzählen. Und meine liebe Marie weiß genauso über ihn Bescheid.«
»Mag sein«, hatte Gertrude versetzt. »Außerdem wollte ich immer Enkelkinder, und in dieser Hinsicht war ja von ihm nichts zu erwarten.«
Am Abend mischte sich Robert, Kittys Ehemann, ebenfalls in die Diskussion ein. Er kannte Ernst von Klippstein nur flüchtig, man war sich auf Familientreffen begegnet und hatte einige kurze Sätze gewechselt, aber es war ihm unangenehm aufgefallen, dass der Herr von Klippstein eine Schwäche für seine Frau und für Marie an den Tag legte. Insofern war er von ihm wenig angetan .
»Wenn du zu einer Trennung entschlossen bist, liebe Tilly«, sagte er, als sie zusammensaßen, »dann solltest du so bald wie möglich einen Rechtsanwalt beauftragen und die Scheidung einreichen.«
»Beauftrage auf keinen Fall den Grünling mit seiner Serafina, dieser giftigen Tarantel«, hatte Kitty dazwischengerufen, woraufhin Robert lachend abgewinkt hatte.
»Wenn du einverstanden bist, Tilly, kümmere ich mich darum«, schlug er vor.
Tilly hatte einen Moment gezögert. Es gab da einen inneren Widerstand, den sie überwinden musste. Die Scheidung! Sie hatten damals auf seinen Wunsch hin kirchlich geheiratet, und das hieß, dass vor Gott diese Ehe unauflöslich war. So sah Tilly das, die wie Ernst katholisch erzogen worden war. Ihr fiel es schwer, ein Versprechen zu brechen, das sie vor dem Altar gegeben hatte. Und dennoch musste es sein. Allein deshalb, weil sie weder Kitty und Robert noch ihrer Mutter auf der Tasche liegen wollte. Sie musste sich eine Arbeit suchen, und um einen Arbeitsvertrag zu unterzeichnen, brauchte sie nach dem Gesetz die Erlaubnis ihres Ehemanns, die Ernst vermutlich als Faustpfand benutzen würde, solange sie mit ihm verheiratet war.
»Wenn du das für mich tun würdest, Robert«, sagte sie, »dann wäre ich sehr froh. Ich möchte diese scheußlichen Formalitäten so schnell wie möglich hinter mich bringen.«
»Bravo. Darauf trinken wir«, hatte Kitty triumphiert. »Wo ist der Sekt, den ich heute gekauft habe, Gertrude?«
»Im Eisschrank, wo sonst? Ach, Tilly! Diese ganzen unangenehmen Dinge hättest du dir ersparen können, wenn du damals auf mich gehört hättest … Nun ja, lassen wir das … «
Zwei Tage später hatte Tilly einen Termin bei einem jungen Advokaten, einem Dr. Spengler, den Robert persönlich kannte und schätzte. Die Scheidung wurde eingereicht, Gerichtsort war Augsburg, da sie seinerzeit hier geheiratet hatten. Damit würde das Schlimmste überstanden sein, hoffte Tilly, und alles würde seinen gesetzlich geregelten Lauf nehmen. Sie hatte sich gewaltig geirrt. Ernst weigerte sich, einer Scheidung zuzustimmen, und beauftragte selbst einen Anwalt, um alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen. Es wurden Briefe und Drohschreiben hin- undhergeschickt, und zusätzlich verlegte sich Ernst von Klippstein darauf, täglich mehrfach in der Frauentorstraße anzurufen.
»Wir gehen einfach nicht mehr ans Telefon«, entschied Kitty. »Ich habe es satt, mir sein Ich möchte meine Frau sprechen anzuhören.« Sie hatte Ernst jedes Mal mit einem kühlen »Ich kenne Sie nicht« abgefertigt und den Hörer aufgelegt.
Was ihn leider nicht hinderte, es nach einer Weile erneut zu versuchen.
Gestern Abend war Robert der Geduldsfaden gerissen, und er hatte gedroht, bei weiteren Anrufen die Polizei zu benachrichtigen und Ernst wegen Belästigung anzuzeigen. Schließlich brauche er sein Telefon beruflich, und es sei geschäftsschädigend, wenn Herr von Klippstein ständig die Leitung besetze.
»Sei vorsichtig, Robert«, hatte Tilly gewarnt. »Er ist rachsüchtig und kennt zudem wichtige Leute in München.«
»Soll ich etwa Angst vor ihm haben?«, hatte Robert gelacht.
»Natürlich nicht. Nur muss man mit ihm rechnen.«
Heute hatte Ernst bisher erst dreimal angerufen, ein Fortschritt also. Kitty führte das auf Roberts Drohung zurück, Tilly hoffte insgeheim, ihr Mann sei endlich zur Vernunft gekommen.
»Er hat sich wie ein trotziges Kind aufgeführt, und jetzt bemerkt er, wie lächerlich er sich macht.«
»Dein Wort in Gottes Ohr, Kind.«
Gertrude servierte Tee mit Weihnachtsgebäck und rief Henny und Dodo nach unten. Seitdem ihre Tante Tilly in die Frauentorstraße eingezogen war, kam Dodo fast täglich zu Besuch.
»Was treiben die beiden Gören eigentlich?«, wunderte sich Gertrude. »Sie sind so still. Ich fürchte, sie verkleiden sich wieder.«
»Bestimmt nicht.« Kitty griff nach einem Schokoladenstern. »Henny hat striktes Schrankverbot bekommen.«
Die Weihnachtskekse dufteten verführerisch, denn Gertrude verwendete jede Menge Butter, Nüsse und Mandeln. Hier in der Frauentorstraße war wenig von der Wirtschaftskrise zu bemerken, Robert hatte sich rechtzeitig aus den Börsengeschäften zurückgezogen und sein Geld anderweitig angelegt. Wie und wo, das wusste Kitty nicht, und sie kümmerte sich wenig darum, weil sie ihm vollkommen vertraute und ihn für einen guten Geschäftsmann hielt. Immerhin hatte er ihr die Ursachen des Börsencrashs in New York genau erklärt.
»Weißt du, Tilly, Robert hat gesagt, dass allein die Ahnungslosen an der Börse ihr Geld verloren haben. Die alten Börsianer hätten längst mitbekommen, dass es nicht mehr lange so weitergehen würde, und ihre Aktien verkauft, solange man noch einen anständigen Preis erzielen konnte. Stell dir vor: In Amerika hatte jeder Schuhputzer und jedes Ladenmädchen Aktien erworben. Das Geld bekamen sie von den Banken nachgeworfen, und sie haben sich ausgerechnet, dass die Dividenden der Aktien höher sind als die Zinsen für den Kredit, sodass sie ein gutes Geschäft machen würden. Doch funktioniert so etwas allein unter der Voraussetzung, dass die Wirtschaft schwarze Zahlen schreibt.«
Tilly nickte und trank ihren Tee in nervösen kleinen Schlucken. Es gelang ihr nur oberflächlich, Kittys Vortrag zu folgen, weil sie einerseits ständig Angst hatte, das Telefon könnte klingeln, und andererseits darüber nachdenken musste, wo sie eine Arbeitsstelle finden konnte. Das war momentan auch in Augsburg nicht leicht. Je früher sie sich danach umschaute, desto größer war die Chance, einen Glückstreffer zu landen. Wobei ihr klar war, dass das Glück sie in ihrem bisherigen Leben nicht gerade verschwenderisch bedacht hatte. Sie musste sich zwingen, Kitty erneut zuzuhören.
»Und als die Leute dann gemerkt hatten, dass die Firmen und Betriebe gar keine Dividenden ausschütten konnten, da wollten auf einmal alle ihre Aktien verkaufen. Dadurch brachen die Kurse ein, und man sagte diesen armen Dummköpfen: Ihr müsst noch mehr Aktien kaufen, um den Kurs zu stützen. Da hat so mancher den letzten Penny weggegeben, und es hat trotzdem nichts …«
»Was meint ihr?«, unterbrach Tilly den komplizierten Vortrag ihrer Schwägerin. »Sollte ich es einmal im Hauptkrankenhaus in der Jakobervorstadt versuchen, selbst wenn mir die Erlaubnis des Ehemanns noch fehlt?«
Gertrude schüttelte missbilligend den Kopf, sie fand, ihre Tochter solle eine eigene Praxis eröffnen. Kitty runzelte die Stirn und wollte etwas sagen, da kam wütendes Mädchengekreisch von oben, wo offenbar ein erbitterter Streit ausgebrochen war.
»Gib das her, das gehört dir nicht!«
»Dir gehört’s genauso wenig! «
»Das gehört meinem Bruder!«
»Und wieso liegt das in Mamas Schrank unter den Nachthemden?«
Kitty warf das angebissene Vanillekipferl weg und sprang auf. »Henny«, brüllte sie. »Komm sofort herunter!«
Zornige Stille folgte auf ihre Worte. Dann hörte man Dodos leise Stimme: »Das haste jetzt davon!«
»Wird das bald?«, trompetete Hennys Mutter.
Tilly war ebenso überrascht wie beeindruckt von Kittys Stimmvolumen. Man glaubte gar nicht, dass in diesem zarten Körper ein derart lautes Organ wohnte.
Die beiden Vierzehnjährigen stiegen die Treppe herunter und öffneten langsam die Wohnzimmertür. Der Anblick, den sie boten, war abenteuerlich. Henny hatte ein glamouröses Ballkleid in schillerndem Grün angezogen, das vergessen im Schrank gehangen hatte. Dodo trug einen Anzug von Robert: eine gestreifte Hose, eine gelbe Weste und dazu eine dunkelblaue Jacke, die ihr viel zu weit war.
Tilly und Gertrude mussten sich zusammennehmen, um ernst zu bleiben – Kitty starrte in zornigem Entsetzen auf das Bündel in Dodos Händen.
»Du hast gesagt, du willst es gut verstecken«, sagte ihre Nichte vorwurfsvoll.
Ganze drei Sekunden lang war Kitty sprachlos, dann wandte sie sich wütend ihrer Tochter zu. »Was hast du im Schrank unter meinen Nachthemden zu suchen, Henriette? Hatte ich dir nicht verboten, in meinen Sachen zu wühlen?«
»Ich brauche ein Kleid für die Weihnachtsaufführung in der Schule, Mama«, redete sich Henny heraus. »Für den Engel der Verkündigung.«
»Ich glaube nicht, dass Kittys durchsichtige Spitzenhemdchen dafür geeignet sind«, mischte sich Gertrude ein.«
»Schluss damit!«, rief Kitty ärgerlich aus. »Und du, Dodo, gib mir die Notenblätter. Ich werde sie anderswo aufbewahren. Und ihr beide geht sofort wieder hinauf und zieht euch …«
»Es ist Unsinn, die Blätter zu verstecken, Mama«, protestierte Henny aufgeregt. »Damit helfen wir Leo überhaupt nicht. Wir müssen sie an jemanden schicken, der ihm Mut macht. An einen Musiker. Einen ganz berühmten. Der muss Leo dann einen Brief schreiben und ihm erklären, dass er richtig gut komponieren kann.«
Kitty stand immer noch mit ausgestrecktem Arm vor ihrer Tochter, der Zeigefinger deutete zur Tür. »Abmarsch!«
Henny rollte die Augen und sah in diesem Moment ihrer Mutter unfassbar ähnlich.
»Ihr seid alle so dumm«, schimpfte sie, drehte sich mit einer steifen Bewegung um, hob den weiten Rock mit beiden Händen an und stolzierte hinaus. Das Kleid passte wie angegossen, außer dass es ein wenig zu lang war.
»Was sind das für Notenblätter?«, wollte Gertrude wissen, als die beiden Mädchen auf der Treppe waren.
»Leos Kompositionen. Er hat sie weggeworfen, und Dodo hat sie gerettet«, erklärte Kitty.
Tilly hatte schon von Marie erfahren, dass Leo nicht mehr Klavier spielte, sondern mit verzweifeltem Eifer für die Schule lernte. Marie hatte auch angedeutet, was im Konservatorium geschehen war, und Tilly fand es sehr schade, denn sie hatte immer geglaubt, dass die Musik Leos Bestimmung sei.
»Vielleicht hat Henny ja recht«, meinte Tilly nachdenklich. »Taugen die Kompositionen etwas, Kitty?«
»Natürlich«, gab die Schwägerin im Brustton der Überzeugung zurück. »Sie sind großartig. Jedenfalls für einen Vierzehnjährigen. Vielleicht sollte man sie wirklich jemandem zeigen. Dem Klemperer, dem Furtwängler oder dem Strauß …«
»Dem Walzerkönig aus Wien? Der ist doch längst tot«, behauptete Gertrude.
»Nicht dem Johann, dem Richard Strauß. Der lebt noch.«
Tilly empfahl ihr, gründlich darüber nachzudenken, und vor allem, die Noten zu kopieren, bevor sie sie wegschickte. Damit sie nicht verloren waren, falls der Herr Dirigent es nicht für nötig hielt, sie zurückzugeben.
Das Telefon schrillte in ihr Gespräch hinein, und alle drei fuhren erschrocken zusammen.
»Ich halte das nicht länger aus«, rief Tilly. »Ich fahre jetzt zur Klinik in der Jakobervorstadt und frage einfach, ob sie jemanden brauchen.«
»Wenn du meinst.« Kitty sah genervt zum Telefon hinüber. »Da kannst du Dodo gleich zur Tuchvilla mitnehmen, es ist die gleiche Richtung.«
Gertrude stand auf und begab sich zum Telefonapparat. Gelassen hob sie den Hörer ab und hielt ihn einen Moment lang in der Schwebe.
»Hallo? Hallo, Tilly? Bist du das?«, kam es in knarzendem Ton aus dem Gerät.
»Falsch verbunden«, sagte Gertrude und ließ den Hörer auf die Gabel fallen.
»So macht man das«, sagte sie zufrieden und setzte sich wieder an den Tisch, um ihre vierte Tasse Tee zu trinken.
»Du wirst hiermit zu unserem Fräulein vom Amt ernannt«, sagte Kitty lachend und eilte in den Flur hinaus, um nachzuprüfen, ob die Mädchen ihre Anordnungen befolgt hatten .
Draußen war es kalt und ungemütlich, ein echter Novembertag. Der Himmel hing tief und regenschwer über der Stadt, auf den Straßen und in den Anlagen häufte sich das feuchte Laub, und viele Passanten trugen bereits Wintermäntel. Dodo saß neben Tilly auf dem Beifahrersitz und beobachtete jede ihrer Bewegungen.
»Der Benzinanzeiger ist ganz unten, Tante Tilly«, meldete sie. »Und ich glaube, es muss auch Öl nachgefüllt werden. Soll ich das morgen mal machen? Ich weiß, wie das geht.«
Es war seltsam, dass die Zwillinge jeder für sich eine ausgeprägte Begabung besaßen. Leo war der geborene Musiker, Dodo die Technikerin. Kittys Tochter Henny hingegen zeigte keine besonderen Talente außer ihrer Fähigkeit, Knaben unterschiedlichen Alters am Gängelband zu führen.
»Ich denke, das wird nicht notwendig sein, Dodo. In der nächsten Zeit werde ich den Wagen wohl nicht mehr benutzen, sondern mit der Straßenbahn fahren.«
»Warum das?«
»Weil er leider auf meinen Mann eingetragen ist und er ihn zurückfordern wird.«
Dodo schwieg daraufhin, und Tilly konzentrierte sich auf den Verkehr. Es war längst dunkel geworden, im gelblichen Schein der Straßenlaternen wirkte die Stadt unwirklich wie eine düstere Theaterkulisse. Vermummte Fußgänger eilten über die Straße, in den Geschäften wurden letzte Einkäufe getätigt, die beleuchtete Straßenbahn ratterte vorüber, man konnte die blassen Gesichter der Menschen darin erkennen. Als sie sich dem massiven Backsteingebäude des Hauptkrankenhauses näherten, sank Tilly der Mut. Wie groß und gewaltig dieser Bau in der Dunkelheit aufragte. Zahllose helle Fenster zeugten davon, dass dort gerade das Abendessen ausgeteilt wurde, danach würde man die Patienten für die Nacht versorgen, und der Chefarzt würde mit den Oberärzten zusammensitzen, um den Operationsplan für den morgigen Tag oder komplizierte Behandlungen durchzusprechen. Nein, es war keine gute Idee gewesen, ausgerechnet um diese Zeit nach einer Anstellung zu fragen. Besser, sie wartete bis morgen Vormittag, in der Eile hatte sie ohnehin ihre Papiere vergessen. Ihre Papiere! Dazu gehörten unter anderem die Entlassungspapiere des Schwabinger Krankenhauses, und die waren alles andere als eine Empfehlung. Plötzlich hatte sie das Gefühl, vor einer undurchdringlichen Mauer zu stehen. Wie konnte sie so blauäugig sein, sich so schnell in einer Klinik zu bewerben? Ganz sicher wusste man hier ebenfalls von ihrer unehrenhaften Entlassung, so etwas sprach sich unter Kollegen herum.
»Wir fahren zur Tuchvilla, Dodo.«
»Nicht in die Klinik?«
»Nein.«
Dodo war froh über diese Sinnesänderung, sie hatte wenig Lust gehabt, in einem langweiligen Krankenhausflur zu warten, wo es immer so komisch roch.
»Du kannst gleich nach Onkel Sebastian sehen«, schlug sie vor. »Der läuft immer noch nicht richtig, weil er das Knie nicht beugen kann.«
Tilly kannte das Problem, sie hatte Sebastian schon mehrfach besucht und sich Lisas Klagen angehört, man habe ihren Mann falsch behandelt, jetzt würde er ein steifes Knie davontragen. Sie hatte Sebastian vorsichtige Bewegungen empfohlen, die täglich durchzuführen waren und die – so glaubte Tilly – mit der Zeit zum Erfolg führen würden. Von einer Operation hatte sie abgeraten. Die Kniescheibe brauche ihre Zeit, um zu heilen, man müsse Geduld haben. Sebastian hatte zu ihrer Diagnose schicksalsergeben genickt, er war nicht das Problem, sondern Lisa, die ihn wie eine Glucke mütterlich umsorgte und den armen Kerl ständig mit Wolldecken, Kniewickeln und Wärmflaschen traktierte. Auf diese Weise machte sie ihn letztlich kränker, als er war.
»Schau, Tante Tilly. Sie haben die Lichter angemacht.«
Das Backsteingebäude der Tuchvilla begrüßte sie anheimelnd und warm im Schein der Außenbeleuchtung. Mehrere Fenster waren erhellt, oben im Speisezimmer deckte Humbert den Tisch für das Abendessen, im Herrenzimmer war es dunkel, dafür brannte in Pauls Büro Licht. Hinter den Küchenfenstern sah man Schatten vorübergleiten, dort eilten die Angestellten geschäftig hin und her, um die Speisen vorzubereiten. Tilly fuhr um das Rondell herum, das der Gärtner sorgsam mit Tannenreisern abgedeckt hatte, und parkte den Wagen vor dem Haupteingang.
»Die Handbremse nicht vergessen«, riet Dodo, bevor sie ausstieg und die Stufen zur Eingangstür hinaufhüpfte. Oben öffneten sich die beiden Türflügel, und im Schein der Innenbeleuchtung war Gerti in dunklem Kleid mit weißer Schürze zu erkennen. Hinter ihr tauchte die Silhouette eines jungen Mannes auf.
»Guten Abend, Dorothea«, ertönte eine bekannte Stimme, die Tilly zusammenzucken ließ.
»Schönen guten Abend, Herr Dr. Kortner«, gab Dodo höflich zurück. »Waren Sie etwa bei Onkel Sebastian?«
»Kluges Mädel«, gab er lachend zurück. »Du hast es erraten.«
»Das hätten Sie sich sparen können«, meinte Dodo altklug, »wo jetzt meine Tante Tilly hier ist.«
»Frau von Klippstein ist in Augsburg?«, rief er erfreut aus. »Das wusste ich gar nicht.« Er schaute in die Runde. »Ah, jetzt sehe ich sie«, sagte er und stieg die Treppenstufen zum Vorplatz hinunter. »Was für eine wunderbare Überraschung, gnädige Frau!« Er lächelte sie an und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich hoffe, Sie bleiben dieses Mal ein wenig länger im schönen Augsburg, damit ich Ihnen meine neu eingerichtete Praxis zeigen kann.«
Sie fasste die dargebotene Hand und spürte seinen warmen, festen Händedruck. Etwas durchzuckte sie, ein längst vergessenes Empfinden, das ihren Herzschlag beschleunigte und ihre Gedanken verwirrte.
»Guten Abend, Herr Dr. Kortner. Ja, ich werde dieses Mal wohl länger in Augsburg bleiben.«
»Wie mich das freut! Wo kann ich Sie erreichen, gnädige Frau?«
»Ich logiere derzeit bei meiner Mutter und meiner Schwägerin in der Frauentorstraße.«
Dodo stand vor der Eingangstür, um auf Tilly zu warten. Ungeduldig trat sie von einem Bein auf das andere, dann platzte sie plötzlich heraus: »Sie müssen nämlich wissen, dass meine Tante eine Anstellung als Ärztin sucht. Und wenn ich mich recht erinnere, haben Sie neulich gesagt, Sie hätten zu viel zu tun.«
Tilly bekam fast einen Herzschlag vor Schreck. Wie konnte das Mädchen bloß so einen Unsinn verzapfen! Das klang ja, als wollte sie sich dem Arzt anbiedern.
»Ist das wahr?«, fragte er prompt und trat in seiner Freude dichter heran. »Bedeutet das etwa, Sie wollen sich in Augsburg niederlassen?«
Seine Nähe erschreckte Tilly, weil da etwas war, das sie zu ihm hinzog und das ihr mehr als unpassend, ja unheimlich erschien.
»Hören Sie nicht auf meine Nichte«, sagte sie verlegen. » Dodo ist ein wenig vorlaut. Ich möchte Sie nicht aufhalten, Herr Dr. Kortner. Einen angenehmen Abend …«
Verwirrt stürmte sie die Stufen hinauf, und erst als Gerti die Türen hinter ihr geschlossen hatte, fühlte sie sich sicher.
»Du bist komisch, Tante Tilly«, sagte Dodo kopfschüttelnd.