22
A ch, wie schön!«, rief Lisa aus und presste die Nase ans Seitenfenster des Wagens. »Es schneit, Humbert. Fahr bitte nicht so schnell, ich will mir den Park anschauen.«
Humbert drosselte gehorsam das Tempo, damit die gnädige Frau den zarten Schneeflaum auf den alten Bäumen und die weiß getüpfelten Wiesen bewundern konnte. Der Schnee fiel in dicken, wattigen Flocken vom schweren Winterhimmel, haftete an den Koniferen und an den Stämmen der alten Bäume, doch auf Wiesen und Beeten verging er rasch, denn der Boden war nicht kalt genug.
»Wenn wir am Heiligen Abend solch ein Winterwetter bekommen, wie werden sich die Kinder freuen! Besonders weil Hanno seinen ersten Rodelschlitten bekommt. Und Charlotte wird ganz allerliebst in dem rosafarbenen Mäntelchen und den Fellstiefelchen ausschauen.«
»Gewiss, gnädige Frau«, bestätigte Humbert.
Warum war er so still heute, fragte sich Lisa. Hoffentlich wurde er so kurz vor Weihnachten nicht krank.
»Humbert, du bist nicht etwa …«
Sie unterbrach sich erschrocken, als der Spielplatz in Sicht kam und sie ihren Sebastian mit den drei Jungen auf der Wiese um einen Ball kämpfen sah. Dieser Kindskopf! Hatte Dr. Kortner nicht ausdrücklich gesagt, dass er sein Knie schonen musste? Hochlegen und warm halten, höchstens bedingt belasten, keinen Sport treiben, selbst beim Treppensteigen vorsichtig sein .
»Anhalten!«, rief sie Humbert zu. »Steig aus, und lauf hinüber zu meinem Mann. Er soll bitte sofort mit dem Unsinn aufhören. Sonst muss ich Dr. Kortner benachrichtigen.«
»Aber gnädige Frau«, wollte Humbert einwenden, besann sich jedoch, stellte den Motor aus und tat, was ihm aufgetragen worden war. Lisa beobachtete, wie Sebastian einen kurzen Moment lang stehen blieb und eine beschwichtigende Handbewegung in Humberts Richtung machte. Dann fing er den Ball auf und warf ihn seinem Sohn Johann zu.
Ärgerlich schüttelte sie den Kopf über so viel Unverstand und zog den Pelzmantel vorne zu, denn Humbert hatte die Fahrertür nicht geschlossen, und die Schneeflocken wehten in den Wagen herein.
»Ihr Gatte möchte nur rasch das Spiel beenden, gnädige Frau, danach wird er sofort zurück ins Haus gehen.«
Humbert klopfte den Schnee von seinem Mantel, bevor er sich wieder hinter das Steuerrad setzte, ein paar Flöckchen hingen noch in seinem Haar, was – so fand Lisa – sehr hübsch aussah. Er fuhr bis vor den Haupteingang der Tuchvilla, sprang dann aus dem Auto und öffnete die Wagentür für die gnädige Frau. Gerti und Hanna eilten die Stufen herunter, um die vielen Pakete ins Haus zu tragen, die im Auto verstaut waren. Lisa hatte heute Vormittag Weihnachtseinkäufe getätigt.
»Danke, Humbert«, sagte sie etwas gequält, als sie sich aus dem Auto helfen ließ. Leider hatte sie ihren Vorsatz, ein paar Pfündchen abzunehmen, nicht in die Tat umsetzen können. Schuld war ihre Leidenschaft für cremige Soßen, Spätzle und süße Zwischenmahlzeiten. Zum Glück gab es ja Marie und ihr Atelier, wo sie ihre Kleider umarbeiten lassen konnte .
In der Eingangshalle duftete es nach Fichtennadeln und Harz, man hatte den großen Weihnachtsbaum aufgestellt, und die Kartons mit den Weihnachtskugeln standen schon bereit.
»Nein«, rief Lisa und schlug die Hände vor Entsetzen zusammen. »Das kann nicht euer Ernst sein! Dieser verkrüppelte Zwerg kann nicht in unserer Eingangshalle stehen!«
Tatsächlich hatte man schon edlere, größere Fichten zu Weihnachten in der Halle aufgestellt. Vor allem früher, als Lisa und die Geschwister noch Kinder waren, hatte es immer den Anschein gehabt, als würde der Baum bis hinauf an die Decke reichen, und seine Zweige waren so dicht gewesen, dass sie sich alle drei dahinter verstecken konnten.
»Da bist du ja, Lisa«, hörte sie Maries Stimme. »Ich hatte bereits nach dir gesucht.«
Dass die Schwägerin heute nicht in ihrem Atelier war, wunderte Lisa. Zugleich war sie froh, sich mit ihr über dieses unmögliche Gestrüpp austauschen zu können, das vermutlich irrtümlich hierhergeraten war.
»Eine Schande ist das, Marie«, regte sie sich auf. »Ich hatte extra einen besonders schönen Baum beim Händler bestellt. Wie konnte diese jämmerliche Krücke …«
»Das war es, was ich dir heute früh mitteilen wollte, Lisa«, unterbrach Marie sie. »Paul und ich haben den Baum wieder abbestellt. Aus Kostengründen. Stattdessen hat Christian diese Fichte im Park gefällt, und ich denke, wenn sie erst geschmückt ist …«
Lisa glaubte, sie habe der Schlag getroffen. Über ihren Kopf hinweg hatten Paul und Marie gehandelt. Seit Jahren waren sie und Mama für alles, was die Haushaltsführung in der Tuchvilla betraf, verantwortlich, und jetzt das!
»Aus Kostengründen? Ausgerechnet an Weihnachten kommt ihr mit euren Sparmaßnahmen? Nein, Marie! Das geht wirklich zu weit.«
Die Schwägerin schwieg, weil Else und Hanna begannen, die roten Kugeln an den Baum zu hängen, und Humbert mit der großen Leiter kam, um den goldenen Stern auf der Spitze zu befestigen. Man besprach solche brisanten Themen niemals vor dem Personal.
»Gehen wir hinüber zu dir, Lisa«, schlug Marie vor. »Du brauchst jetzt sicher einen warmen Tee.«
»Wenn du meinst«, gab ihre Schwägerin beleidigt zurück. »Hanna, nimm bitte meinen Pelz. Und die Stiefel. Ach ja, wenn mein Mann aus dem Park kommt, gib ihm die gefütterten Hausschuhe.«
»Sehr gern, gnädige Frau.«
Lisa ging hinter Marie her die Treppe hinauf, ohne sich noch ein einziges Mal umzudrehen. Wenn dieses hässliche Monstrum tatsächlich in der Halle stehen blieb, dann würde sie nur noch mit geschlossenen Augen daran vorbeigehen.
»Wieso bist du überhaupt zu Hause?«, wollte sie von Marie wissen. »Überlässt du dein Atelier inzwischen Frau Ginsberg?«
Lisa ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen. Dann rief sie Gerti und bestellte Tee mit einer Schale Gebäck.
Marie wartete mit der Antwort, bis Gerti wieder gegangen war. »Mein Atelier bleibt bis nach Weihnachten geschlossen«, sagte sie und nahm eine Stoffpuppe vom Sofa, um sich setzen zu können. »Es gibt momentan keine Aufträge, daher habe ich meine Näherinnen in den Weihnachtsurlaub geschickt.«
»Keine Aufträge?«, fragte Lisa ungläubig nach. »Wie ist das möglich? Mindestens drei meiner Freundinnen haben mir erzählt, sie würden bei dir arbeiten lassen. «
Marie seufzte tief, man sah, dass ihr die Antwort nicht leichtfiel. »Ich habe mich falsch ausgedrückt. Gewiss gab es Aufträge, doch haben diese Damen seit Monaten Rechnungen offengelassen, und ich bin nicht bereit, ohne Bezahlung zu arbeiten.«
»Du meine Güte! Was ist dabei, wenn sie etwas später zahlen? Du wirst dein Geld schon irgendwann bekommen.«
»Und was soll ich meinen Angestellten sagen?«, erwiderte Marie. »Dass ich ihnen ihr Gehalt leider erst in einigen Monaten geben kann? Dass sie bis dahin umsonst arbeiten sollen?«
Lisa musste das einsehen. Natürlich wusste sie um die angespannte finanzielle Lage und war bereit, sich mit einem wesentlich geringeren Haushaltsbudget zu begnügen. An Urlaubsreisen oder dergleichen Luxus war ohnehin nicht zu denken. Aber dass Marie ihr Atelier hatte schließen müssen, gab ihr zu denken.
»Weiß Mama es bereits?«, fragte sie beklommen.
»Nein«, gestand Marie, »aber sie wird darüber hinwegkommen. Mama war immer der Meinung, dass ich besser zu Hause bleiben sollte, als ein Modeatelier zu führen.«
Das war allerdings richtig. Bloß gefiel es Lisa überhaupt nicht, dass Marie künftig vom Morgen bis zum Abend in der Tuchvilla sein würde.
»Hast du etwa vor, dich mit der Haushaltsführung zu befassen?«, fragte sie mit misstrauischem Unterton. »Ich denke, dass Mama und ich diese Dinge recht gut regeln.«
»Das weiß ich, Lisa«, sagte Marie und beugte sich vor, um ihr begütigend die Hand auf den Arm zu legen. »Wir alle sind sehr froh darüber, dass ihr beide diese Last von uns genommen habt.«
Sie schwieg, weil Gerti anklopfte und den Tee brachte. Nachdem sie das Tablett abgesetzt hatte, machte sie einen Knicks und berichtete mit verhaltener Empörung eine Neuigkeit.
»Leider hat mir die Köchin verboten, an die Blechdosen mit dem Weihnachtsgebäck zu gehen. Frau Brunnenmayer ist der Ansicht, dass die Kekse erst zu Weihnachten gegessen werden dürfen. Und außerdem erinnert sie daran, dass die Mittagsmahlzeit in einer knappen Stunde serviert wird.«
»Das ist ja allerhand«, regte sich Lisa auf. »Sagen Sie Frau Brunnenmayer, dass ich sie nach dem Essen sprechen möchte. Danke, nicht eingießen. Wir bedienen uns selbst.«
»Sehr gern, gnädige Frau!«
Seitdem das Küchenmädchen Liesl die irrwitzige Idee gehabt hatte, nach Pommern zu ihrem Vater zu reisen, war die Köchin noch brummiger als zuvor. Lisa seufzte. Nichts als Ärger vor Weihnachten. Dabei hatte sie sich so auf dieses schöne Familienfest gefreut.
Marie bemühte sich, den abgerissenen Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. »Ich werde mich ganz sicher nicht in die Haushaltsführung einmischen, Lisa«, sagte sie mit Freundlichkeit. »Ich muss lediglich auf unser Budget achten, das momentan leider sehr knapp bemessen ist. Selbstverständlich wird es in Absprache mit dir und Mama geschehen. Dass es mit dem Baum nicht geklappt hat, bedauere ich sehr. Ich wollte mit dir sprechen, aber du warst unterwegs.«
»Natürlich. Ich habe Weihnachtsgeschenke eingekauft. Wie immer um diese Zeit«, gab Lisa verärgert zurück, weil sie sich angegriffen fühlte. »Und falls du glaubst, ich hätte damit unser schwächelndes Budget über Gebühr belastet, dann solltest du wissen, dass ich alles von meinem eigenen Geld bezahlt habe.«
Marie nickte. Wie alle anderen wusste sie, dass Lisa monatlich eine Zahlung aus Pommern erhielt, das hatte Elvira Maydorn nach Lisas Scheidung mit ihr vereinbart.
»Wenn du das Gut nicht erbst, sondern es deinem Mann überlassen willst, sollst du wenigstens vor meinem Tod etwas davon haben«, hatte Elvira sie wissen lassen, als ihr die Scheidungsmodalitäten mitgeteilt wurden.
Lisa war sehr froh darüber gewesen, selbst wenn Klaus von Hagemann sich beständig über diese Leibrente aufregte und behauptete, er und seine Familie müssten sich deshalb einschränken.
»Aber Lisa«, meinte Marie kopfschüttelnd. »Niemand will dir Vorwürfe machen. Im Gegenteil. Es ist sehr lieb und großzügig von dir, uns alle mit Geschenken zu bedenken. Paul und ich werden diese Weihnachten etwas bescheidener angehen. Vor allem sollen unsere Angestellten nicht unter der Krise leiden, wir werden sie beschenken, wie es in diesem Haus Tradition ist.«
Gleichmütig zuckte Lisa die Schultern und goss Tee ein. Wenn Marie der Ansicht war, man müsse die Angestellten großzügig bedenken und dafür an der eigenen Familie sparen – nun, das war ihre Sache. Sie selbst fand, dass man an Weihnachten großzügig sein sollte zu allen Menschen. Vor allem zu denen, die dem eigenen Herzen am nächsten waren.
»Verzeihung, gnädige Frau!« Hanna war an der Tür, sie sah abgehetzt aus, und ihr Häubchen war wie immer auf die Seite gerutscht. Das Mädchen war ja lieb, doch zu einer guten Angestellten hatte sie kein Talent. Wenn Gäste im Haus waren, ließ Lisa Hanna gern im Hintergrund arbeiten.
»Die Kinder sind unten in der Halle und wollen mithelfen, den Baum zu schmücken.«
Lisa warf Marie einen vernichtenden Blick zu. Nun würden sie also gemeinsam mit den Kindern und den Angestellten diesen Krüppel mit Kugeln behängen und mit Lichtern bestecken müssen. Die Lebkuchen hingegen würden erst am Heiligen Abend an den Baum gehängt, so wollte es die Tradition.
»Wir kommen, Hanna.«
Wenn Lisa erwartet hatte, dass die Kinder über den mickrigen Weihnachtsbaum enttäuscht sein würden, dann hatte sie sich gründlich geirrt. Unten in der Halle waren Johann und Kurti mit Feuereifer dabei, die roten und goldenen Kugeln an den Zweigen zu verteilen, und Rosa hatte Hanno auf den Arm genommen, damit er einen Stern aus Goldpapier an einen der oberen Äste hängen konnte. Bloß hatte der Dreijährige keine Lust, das schöne, glänzende Ding wegzugeben, er zeterte energisch, dass er es behalten wolle. Charlotte saß im Kinderwagen und jammerte ebenfalls lautstark, weil man sie nicht mittun ließ.
»Mama, das ist der schönste Weihnachtsbaum von der ganzen Welt«, sagte Johann, als sie die Treppe hinunterkam.
»Ach, findest du wirklich, mein Schatz?«
»Ja klar. Weil ich ihn gestern selber gefällt habe. Der Christian hat mir nur ein bisschen geholfen.«
»Ich auch«, meldete sich Kurti stolz. »Beim Reintragen. Der Christian hat gesagt, ohne uns beide hätte er es gar nicht geschafft.«
Alle redeten sie durcheinander.
»Mama, ich will auf die Leiter …«
»Mama, deine Kugel hängt schief …«
»Mama, der Hanno hat den Stern angefressen …«
Es war das übliche, wundervolle Durcheinander, das jedes Jahr ausbrach, wenn der Baum in der Halle geschmückt wurde. Alle Angestellten kamen dazu, denn jeder von ihnen wollte wenigstens eine Kugel oder einen Goldstern aufhängen. Für die roten Kerzen hingegen war Humbert allein verantwortlich. Sie mussten mit Bedacht platziert werden, damit man am Heiligen Abend, wenn alle angezündet wurden, keine bösen Überraschungen erlebte. Für den Fall des Falles stand neben der Küchentür ein großer Eimer mit Wasser bereit.
»Mama, ich will Lametta«, rief Kurti und zerrte an Maries Ärmel.
Sie nahm ihren Jüngsten zärtlich in den Arm. »Erst wenn alle Kugeln und Sterne aufgehängt sind … Rosa, nehmen Sie Charlotte den Stern weg, sie steckt ihn in den Mund.«
Lisa erwischte Fanny Brunnenmayer, die sich ebenfalls am Schmücken beteiligte, und da die Köchin in puncto Weihnachtsgebäck eisern blieb, konnte Lisa bloß aushandeln, wenigstens einen der frisch gebackenen Lebkuchen für die Kinder zu gestatten. Nach dem Mittagessen selbstverständlich.
Kurz darauf erschien Paul Melzer in Hut und Mantel, der zum Mittagessen aus der Fabrik in die Tuchvilla kam. »Ich würde gern vor dem Essen noch kurz mit dir sprechen, Lisa«, sagte er zu seiner Schwester, bevor er sich an Christian wandte, der etwas verschüchtert hinter ihm eingetreten war.
»Eine ganz so schlimme Krücke hätte es nicht sein müssen«, sagte er leise zu dem jungen Gärtner. »Warum hast du keinen schöneren Baum ausgesucht?«
»Ich hab mir halt gedacht, der hätte im Frühjahr eh weggemusst, da war es praktisch, ihn als Weihnachtsbaum zu nehmen«, verteidigte sich der junge Gärtner bedrückt.
Paul machte eine wegwerfende Handbewegung und meinte: »Na schön, jetzt steht er halt da. Geh wieder an deine Arbeit.«
»Jawohl, Herr Melzer«, sagte Christian und lief rasch davon.
Paul gab Gerti Mantel und Hut, betrachtete das bunte Treiben in der Halle, wechselte Blicke mit Marie und lächelte für einen Moment. Als er sich Lisa zuwandte, war er wieder sehr ernst. Täuschte sie sich, oder hatte ihr Bruder Schatten unter den Augen?
»Gehen wir in mein Büro, Lisa.«
Es passte ihr gar nicht, dort würde sie vermutlich ein unerfreuliches Gespräch erwarten. In diesem Jahr ließ man wirklich keine Gelegenheit aus, ihr das Weihnachtsfest zu verderben.
»Was gibt es denn so Wichtiges?«, fragte sie ungeduldig, während Paul die Tür hinter ihnen schloss und sich an seinen Schreibtisch setzte.
»Nun, du hast Marie gestern Abend zwischen Tür und Angel mitgeteilt, dass Tante Elvira meine Bitte leider strikt abgelehnt hat«, sagte er und blickte sie vorwurfsvoll an.
»Ja, sie hat mir einen Brief geschrieben …«
Warum schaute er sie so böse an? Konnte sie vielleicht etwas dafür, dass Tante Elvira eine solche Summe nicht ausleihen wollte? Sie hatte von Anfang an daran gezweifelt, aber weil Paul sie so dringend gebeten hatte, war sie schließlich bereit gewesen, einen Brief mit dieser Bitte nach Pommern zu schicken.
»Hat sie ihre Entscheidung begründet?«
Lisa grub in ihrem Gedächtnis. Was hatte Tante Elvira noch geschrieben? Es würde ihr leichter einfallen, wenn Paul weniger streng schauen würde. Man kam sich ja vor wie eine Angeklagte!
»Sie schreibt, dass sie Rückenschmerzen habe und seit Tagen nicht mehr geritten sei. Überhaupt kommt sie mir in den letzten Briefen unzufrieden vor. Du kennst ja Tante Elvira, sie war immer wie ein Fels in der Brandung, nie hat sie sich über etwas beklagt …«
Sie schwieg, weil Paul eine ungeduldige Bewegung machte. »Das kann ja wohl nicht der Grund für diese Absage sein.«
»Nein, nein«, räumte Lisa ein. »Das war so nebenbei. Sie schreibt, warte mal … Ach ja, jetzt weiß ich es wieder. Sie schreibt, dass das Gut Unsummen verschlinge, weil ihr Verwalter überall elektrischen Strom haben wolle und die Leitungen sehr teuer seien …«
Paul schnaubte verärgert und warf sich gegen die Rückenlehne des Schreibtischstuhls, der einst dem Vater gehört hatte. »Das ist wohl lächerlich«, schimpfte er. »Die Gutsherren im Osten haben Steuererleichterungen und allerlei Vergünstigungen. Dafür sorgt unser Reichspräsident. Wir hier können sehen, wie wir zurechtkommen, uns werden die Steuern erhöht, die Löhne gekürzt …«
Lisa war froh, dass er einen anderen Schuldigen gefunden hatte. Reichspräsident Hindenburg hatte einen breiten Buckel und war weit fort in Berlin – sollte er den ruhig beschimpfen.
»Ich kann dir den Brief gern geben, Paul«, bot sie an. »Dann kannst du dir selbst ein Bild machen.«
»Ja, tu das bitte, Lisa.«
Er seufzte und schien in sich zusammenzufallen. Anscheinend hatte ihr armer Bruder wirklich schlimme Sorgen, überlegte Lisa.
»Ich dachte, du hättest die Häuser in Augsburg verkauft?«, fragte sie fast schüchtern.
»Das habe ich, alle bis auf eines. Das Haus, in dem sich Maries Atelier befindet, werde ich nicht verkaufen. «
Das tut er aus Liebe zu Marie, dachte Lisa, und sie war einen Moment lang gerührt. Dann fiel ihr ein, dass sie wohl aus diesem Grund Tante Elvira hatte anbetteln müssen, und ihre Stimmung schlug um. So war das also. Sie durfte als Bittstellerin auftreten und sich eine Abfuhr einhandeln, damit seine liebe Marie ihr Atelier behalten konnte, das sie sowieso hatte schließen müssen. Das hieß wirklich, die Liebe zu weit zu treiben!
»Ich dachte fast, du hättest es an Rechtsanwalt Grünling verkauft«, sagte sie leicht süffisant. »Serafina erwähnte so etwas – wir trafen uns zufällig, als ich Sebastian zum Zahnarzt begleitete.«
»Da war vermutlich der Wunsch Vater des Gedankens«, entgegnete Paul düster. »Gut, Lisa. Beenden wir das Gespräch, das Mittagessen wird gleich aufgetragen. Sei mir bitte nicht böse, wenn ich etwas nervös und ungehalten bin, ich hatte große Hoffnungen auf Elvira gesetzt, die sich leider in Luft auflösten.«
Er stand auf und nahm sie in die Arme, gleichzeitig ertönte der Essensgong, dem in der Tuchvilla jeder Folge zu leisten hatte.
»Ach, Paul«, seufzte sie und war schon wieder versöhnt. »Es tut mir leid, dass du solch schlimme Sorgen hast. Alles wegen dieser schrecklichen Wirtschaftskrise.«
»Ja, Lisa. Wir müssen uns leider alle damit befassen.«
Im Flur trafen sie auf Sebastian, der soeben aus der Halle hinaufgestiegen war und – wie Lisa sofort bemerkte – nicht die neuen, gefütterten Pantoffeln trug, die sie extra für ihn hatte anfertigen lassen.
»Da bist du ja endlich!«, rief sie vorwurfsvoll. »Wie konntest du so unvernünftig sein?«
Er hörte ihr gar nicht zu, sondern fasste Paul am Arm, um ihn ein wenig zur Seite zu ziehen. »Lieber Paul«, hörte sie ihren Mann leise sagen. »Mir ist die bedrohliche Situation in der Firma wohlbekannt, und ich möchte dir zum wiederholten Male meine Arbeitskraft anbieten. Ehrenamtlich natürlich, ich will die Fabrik weder Lohn noch Gehalt kosten. Dennoch möchte ich etwas tun, um gemeinsam mit dir und allen Beteiligten dieser Krise zu begegnen.«
Paul wusste nicht, was er dazu sagen sollte, da er nicht viel von den Ideen des Schwagers hielt. »Deine guten Absichten in allen Ehren, Sebastian, es sind nicht die Arbeitskräfte, die in der Fabrik fehlen, sondern die Aufträge. Insofern kann ich dein großherziges Angebot nicht annehmen. Entschuldige, Mama hat mich gerufen.«
In der Tat war Alicia hinunter in die Halle gegangen, um sich den geschmückten Weihnachtsbaum anzuschauen, und Lisa ahnte, warum sie so aufgeregt war.
»Geh schon ins Speisezimmer, Paul«, sagte sie rasch zu ihrem Bruder. »Überlass Mama mir.«
»Danke, Lisa«, sagte er leise und zwinkerte ihr zu.
Ihr Herz ging auf – er zwinkerte genauso spitzbübisch wie damals, als er ein kleiner Junge gewesen war! Nein, ganz so ernst konnte die Lage nicht sein.
Mama stand fassungslos vor der Krüppelfichte, die selbst mit bunten Kugeln, Sternen und Silberlametta behängt nicht viel an weihnachtlichem Glanz gewonnen hatte.
»Das ist wohl kaum der Baum, den wir bestellt haben«, rief sie ihrer Tochter entgegen. »Dieses jämmerliche Gewächs in unserer Eingangshalle, es ist eine Schande! Mein guter Johann dreht sich im Grabe um!«
»Lass gut sein, Mama«, sagte Lisa und lächelte begütigend. »Die Kinder hatten einen solchen Spaß, sie werden es dir gleich brühwarm erzählen. Johann und Kurti haben Christian geholfen, den Baum zu fällen und in die Halle zu tragen.«
Alicia schüttelte missbilligend den Kopf. »Trotzdem, Lisa! Es ist peinlich vor unseren Gästen. Und sogar vor den Angestellten. Es schaut ja hier aus wie im Armenhaus.«
»Sicher nicht. Die Fichte ist gerade gewachsen und die Zweige …«
In diesem Moment erklang vom Treppenaufgang her Kurtis helle Stimme. »Hurra, Großmama! Das ist der schönste Weihnachtsbaum von der ganzen Welt! Und weißt du auch, warum?«
Alicias Züge glätteten sich bei diesem kindlichen Freudenausbruch. Lächelnd trat sie ein wenig zur Seite, um am Weihnachtsbaum vorbei zum Treppenaufgang zu schauen. Dort stand Marie mit Johann und Kurti, die zum Mittagessen sauber gekleidet und sorgfältig gekämmt worden waren.
»Warum ist es denn der schönste Baum, mein kleiner Schatz?«, fragte sie und stieg die Treppe hinauf.
»Weil ich endlich mal die große Axt halten durfte«, rief Kurti ihr entgegen. »Die ist sauschwer!«