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D
as Telefon, dieser penetrante, boshafte Störenfried, der sie nicht in Ruhe lassen wollte, läutete schon wieder. Wer da heute zum zweiten Mal anrief, darüber herrschte kein Zweifel.
»Ich wünschte, ich wäre nicht eine solche Belastung für euch«, seufzte Tilly.
Kitty hatte ihre Staffelei ins Wohnzimmer getragen, stand davor mit dem Pinsel in der Hand und malte fantastische Landschaften im Kleinformat.
»Quatsch«, erwiderte sie und setzte zwei Tupfer auf das Bild. »Du bist keine Belastung, sondern eine wundervolle Bereicherung für uns alle, Tillylein. Und dem Herrn von Klapperstein, dem wird irgendwann die Luft ausgehen. Seine Telefonrechnung möchte ich jedenfalls nicht bezahlen müssen.«
»Unsere ist auch nicht gerade niedrig«, bemerkte Gertrude, die sich an einem gestreiften Wollschal versuchte, den sie Robert zu Weihnachten schenken wollte und der eine seltsame Form angenommen hatte. Ein Problem, das sie durch energisches Bügeln aus der Welt zu schaffen hoffte.
»Reg dich nicht auf«, meinte Kitty und ging zwei Schritte zurück, um ihr Werk kritisch in Augenschein zu nehmen. »Robert hat noch nie etwas über solche Kleinigkeiten wie Telefonrechnungen gesagt. Und außerdem habe ich inzwischen sieben Bilder verkauft. Das reicht für
mindestens hundert Telefonrech… Brrrrr … Jetzt hau ich den Apparat gleich an die Wand.«
»Ich geh ran«, rief Tilly und warf ihr Buch zur Seite.
»Sag ihm, dass er ein armer, kranker Psychopath ist und dass wir ihn demnächst in eine gepolsterte Gummizelle ohne Telefonanschluss sperren lassen«, rief Kitty zu ihr herüber.
»Hier bei Scherer.«
»Verzeihung«, kam es aus dem Hörer. »Ich bin vermutlich falsch verbunden, ich wollte Frau von Klippstein sprechen.«
Tilly erschrak. Dr. Kortner war der Anrufer. Und sie hatte einen derart abweisenden Ton angeschlagen, dass er sie nicht erkannt hatte.
»Am Apparat«, sagte sie leise. »Entschuldigen Sie bitte, ich erwartete jemand anderen.«
»Tut mir leid, ich wollte Sie keinesfalls stören, gnädige Frau.«
»Sie stören nicht«, antwortete sie rasch. »Ganz im Gegenteil.«
Drüben an der Staffelei spähte Kitty neugierig zu ihr herüber, und Gertrude war damit beschäftigt, mehrere Maschen, die ihr entwischt waren, wieder auf die Nadel zu spießen.
»Ich wollte auf mein Angebot zurückkommen, liebe Frau von Klippstein. Erinnern Sie sich? Meine neue Praxis. Ich würde sie Ihnen gar zu gern zeigen und Ihre Meinung dazu erfahren.«
Tilly verspürte heftiges Herzklopfen, vermutlich war sie zu rasch von ihrem Stuhl aufgesprungen. Der Kreislauf.
»Das würde ich in der Tat sehr gern tun«, gestand sie. »Vielleicht nach dem Fest?«
»Ich dachte eher an kommenden Sonntagnachmittag.
Das wäre günstig, weil keine Patienten in der Praxis sind. Ich könnte Sie gegen zwei Uhr abholen.«
Wie entschlossen er war! Ihr Herz klopfte noch schneller, sie musste sich eingestehen, dass es dieser Anruf war, der ihren Kreislauf beschleunigte. »Am Sonntag? Oh, das geht leider nicht. Wir, nun wir bekommen Besuch.«
Sie sah, wie Kitty die Augen verdrehte. Fast hatte sie das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun.
»Wie schade«, sagte der Anrufer mit Bedauern. »Dann vielleicht morgen? Ich habe Hausbesuche zu machen und könnte danach in der Frauentorstraße vorbeifahren.«
»Morgen?«, überlegte sie unsicher.
Kitty machte eine auffordernde, kreisende Bewegung mit der rechten Hand, in der sie noch den Pinsel hielt. Nun sag schon Ja! Zier dich nicht so!
Gertrude sandte strafende Blicke zu Kitty hinüber, weil Tilly unsicherer denn je wirkte.
»Morgen? Ja, vielleicht … Ich komme selbst, Sie brauchen mich nicht abzuholen.«
»Dann bitte am Nachmittag, weil ich vormittags Hausbesuche mache. Ich würde mich wirklich sehr freuen, Frau von Klippstein. Darf ich Sie also morgen Nachmittag erwarten?«
Er war außerordentlich hartnäckig, dieser Dr. Kortner. Ein wenig penetrant vielleicht. Aber auf liebenswürdige Weise, und sie fühlte sich geschmeichelt.
»Also gut. Morgen Nachmittag werde ich einen kurzen Besuch in Ihrer Praxis machen. Sagen Sie mir noch einmal die Adresse, bitte.«
»Lange Gasse Nummer sieben. Nicht an der Straße, Sie müssen durch das Hoftor gehen. Im ersten Stock. Zwei Treppen. Sie machen mir wirklich eine große Freude, Frau von Klippstein.
«
»Vielen Dank, Herr Dr. Kortner. Die Freude ist ganz meinerseits. Bis morgen dann.«
»Bis morgen.«
Sie lauschte noch ein paar Sekunden, bis er auflegte.
»Du liebe Güte!«, platzte Kitty heraus. »Du stellst dich an wie eine prüde alte Jungfer. Was ist dabei, wenn er dich am Sonntag durch seine Praxis führt? Denkst du, er fällt dort über dich her und vergewaltigt dich auf der Patientenliege?«
Tilly brauchte einen Moment, um sich von dem Eindruck des Telefonats zu lösen, das diesem Tag einen hellen, frohen Schein verliehen hatte.
»Natürlich nicht«, wehrte sie ab. »Trotzdem … Ich kann mich als verheiratete Frau schließlich nicht allein mit einem Mann in einer leeren Arztpraxis treffen. Was sollen da die Nachbarn von mir denken?«
Kittys Miene zeigte deutlich, was sie von dieser Antwort hielt.
»Wenn du dich weiter so albern benimmst, wirst du dir alle Chancen verderben, meine gute Tilly. Stell dir vor, er zeigt dir seine Praxis und lädt dich anschließend in ein hübsches Café ein. Ihr plaudert nett miteinander, und danach fährt er dich nach Hause. Und beim Abschied ist es dann bereits dunkel … Verstehst du? Glaub mir, Tillylein, ich kenne die Männer. Dieser da ist ein romantischer Typ. Höchstens ein zartes Küsschen, mehr wagt er beim ersten Mal nicht. Und das sind eigentlich die schönsten Momente in der Liebe. So voller Erwartung. Mit Herzklopfen und heißen Wangen. Und in der Nacht träumst du ganz verrückte Sachen …«
Tilly fand diese Schilderung eher peinlich, doch Kitty war in puncto Männer bewundernswert unbefangen. Sie selbst war leider anders gestrickt und hielt sich für eine
nüchtern denkende, vernunftorientierte Person. Romantik hatte ein einziges Mal in ihrem Leben eine Rolle gespielt. Und das war vorbei. Vergoldete Erinnerung, die sie mit ins Grab nehmen würde.
»Es wäre vor allem unangenehm, wenn Ernst davon erfahren würde«, verteidigte sie sich. »Er könnte es bei dem Scheidungsprozess gegen mich verwenden.«
»Mein Gott, Tillylein«, lachte Kitty sie aus. »Wenn es zur Scheidung kommt, wirst du auf alle Fälle schuldig geschieden werden. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Was kann dir also noch Schlimmes passieren? Er wird all sein Geld für sich behalten, der Herr von Raffgier. Dafür bekommst du deine Freiheit, und die ist tausendmal mehr wert als sein schnöder Mammon!«
Das wusste Tilly inzwischen. Dennoch beharrte sie darauf, dass man Ernst auf keinen Fall provozieren sollte.
»Sehr richtig«, ließ sich Gertrude vernehmen. »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.«
Am folgenden Tag war die Stadt voller Menschen. Unter dem düsteren Winterhimmel schleppten die Augsburger Weihnachtsbäume, Pakete und gefüllte Einkaufskörbe durch die Straßen, vorbei an den Kriegskrüppeln und Bettlern, die überall an den Ecken saßen und immer wieder von Ordnungshütern vertrieben wurden. Viele Menschen standen vor den Schaufenstern und blickten mit brennenden Augen auf Würste, Schinken und geräucherten Fisch, Köstlichkeiten, die für sie unerschwinglich waren. Kinder drückten sich an Spielwarengeschäften die Nasen platt, starrten auf die Wohlhabenden, die mit Taschen und Päckchen beladen aus den Läden kamen und davongingen. Tilly hatte Mühe, ihr Auto durch das Gewimmel von Radfahrern und Fahrzeugen zu steuern, mehr als einmal musste
sie hart auf die Bremsen treten, um keinen Fußgänger zu überfahren, der zwischen den Autos hindurch über die Straße lief. Wie seltsam, dachte sie. Die Menschen müssen sich einschränken, weil fast jeder um sein täglich Brot zu kämpfen hat, aber alle wollen das Weihnachtsfest so aufwändig und schön wie möglich feiern. Die Wirtschaftskrise einfach wegfeiern. So tun, als gäbe es sie nicht.
Sie musste eine Weile suchen, bis sie die genannte Adresse in der Langen Gasse fand. Es waren mehrere zweistöckige Häuser, die aneinandergebaut waren und bessere Zeiten gesehen hatten. Die Dächer waren an einigen Stellen mit Moos bewachsen, hier und da bröckelte der Putz ab und ließ das rötliche Mauerwerk darunter erkennen. Schon Dr. Greiner, der Vorbesitzer der Praxis, hatte mit den Schäden an dem einst ansehnlichen Haus leben müssen. Sie stellte den Wagen am Straßenrand ab und ging durch das breite Tor zu dem Rückgebäude, in dem sich die Praxis befand. Am Eingang leuchtete ihr ein neu angebrachtes Schild entgegen.
Dr. Jonathan Kortner. Praktischer Arzt.
Erster Stock links.
Sprechstunde: Montag bis Samstag 8–12 Uhr und 15–17 Uhr
Sonntagvormittag nur in dringenden Fällen
Es gefiel ihr, denn Dr. Greiner hatte sonntags überhaupt keine Sprechstunde abgehalten. Während sie dort stand, um das Schild zu lesen, drängten sich zwei Frauen an ihr vorbei, die einen kleinen Jungen zwischen sich führten. Der Kleine hustete stark, ein Husten, der auf eine schlimme Erkrankung hindeutete, möglicherweise auf eine Tuberkulose. Beklommen ging sie hinter den drei Personen
her, stieg die Treppen hinauf und stellte fest, dass die Eingangstür mit den vergitterten Glasfenstern einen frischen Anstrich bekommen hatte. Außerdem hatte jemand ein kleines Stoffpolster zwischen die Türknäufe gebunden, sodass die Tür nicht schloss und man, ohne zu läuten, eintreten konnte.
Der breite Flur war angenehm hell, die Wände weiß gestrichen, man hatte mehrere gerahmte Drucke aufgehängt. Grüne Wälder, Berge, das Meer. Es wirkte beruhigend und ästhetisch, fand Tilly. Die düsteren geschnitzten Schränke, die einmal hier gestanden hatten, waren verschwunden. Die Tür des Wartezimmers stand einen Spaltbreit offen, sodass sie einen Blick hineinwerfen konnte. Dort drängten sich die Patienten, es waren so viele, dass die Stühle nicht ausreichten. Das war zu Zeiten des Dr. Greiner anders gewesen, dort wurde eine bestimmte Anzahl an Patienten angenommen, wer zu spät kam, wurde wieder fortgeschickt, es sei denn, es war ein Notfall.
Tilly entschied sich, an der Tür mit der Aufschrift
Kein Eintritt
anzuklopfen. Es war ein Zugang zum Sprechzimmer, der von Arzt und Helferin benutzt wurde, die Patienten traten durch eine Verbindungstür vom Wartezimmer ins Sprechzimmer des Arztes ein.
Auf ihr Klopfen hin erschien eine kräftige, dunkelhaarige Frau im weißen Kittel, musterte sie eindringlich und nicht übermäßig freundlich.
»Was gibt’s? Können Sie nicht lesen?«, fragte sie und zog die dunklen Augenbrauen vorwurfsvoll in die Höhe.
»Verzeihung, ich bin Tilly von Klippstein. Herr Dr. Kortner erwartet mich. Wenn ich ihn gerade bei einer Behandlung störe, setze ich mich ins Wartezimmer, bis er für mich Zeit hat.«
Die Sprechstundenhilfe nickte und zog die Tür ein
Stück weiter auf. »Frau von Klippstein. Richtig, ich weiß Bescheid. Kommen Sie bitte herein. Der Herr Doktor wurde zu einem Notfall gerufen, müsste jedoch gleich wieder hier sein.«
»Vielen Dank.«
Die Frau blickte streng drein, ihre Gesten waren energisch, beinahe ruppig. Sie hatte Ähnlichkeit mit einigen Krankenschwestern, denen Tilly in der Schwabinger Klinik begegnet war und die teilweise sehr despotisch mit ihr umgegangen waren.
»Sie können Ihren Mantel dort aufhängen.« Die Sprechstundenhilfe deutete auf zwei Wandhaken. An einem hingen ein dunkler, halb langer Mantel und ein altmodischer Damenhut, der andere Haken war frei.
»Danke, sehr freundlich.«
»Nehmen Sie auf dem Hocker dort Platz. Möchten Sie eine Tasse Pfefferminztee?«
Tatsächlich durchzog der Duft von Pfefferminze den Raum und verdrängte den üblichen Geruch einer Arztpraxis, der aus einem Gemisch aus Desinfektionsmitteln, Linoleum, Bohnerwachs und Salmiak bestand.
»Vielen Dank.«
Sie hätte das Wörtchen Nein hinzufügen sollen, denn die Sprechstundenhilfe verstand ihre Antwort als Einverständnis. Sie goss eine Tasse Tee ein und brachte sie Tilly. Oh weh, sie hasste Pfefferminztee. Natürlich wollte sie nicht unhöflich sein, also nahm sie die Tasse dankend entgegen.
»Trinken Sie gleich, jetzt ist er noch heiß«, wurde sie angewiesen. »Brauchen Sie Zucker?«
»Nein danke.«
Tilly schlürfte etwas von der gelblichen Brühe, die sie an Urin erinnerte, schluckte und verspürte Ekel. Warum
war sie so empfindlich? Pfefferminztee war gesund, regte den Kreislauf an und reinigte das Blut.
»Ich bin übrigens Frau Kortner«, erklärte die Frau und fügte mit leiser Ironie hinzu: »Die rechte Hand des Herrn Doktor und Mädchen für alles.«
Er ist verheiratet, dachte Tilly und stellte die Tasse auf einem Instrumentenwagen ab. Warum hatte er nie davon gesprochen? Sie verspürte eine tiefe Enttäuschung und schämte sich zugleich dafür. Was hatte sie sich eigentlich eingebildet? Dass er persönlich Interesse an ihr haben könnte? Was für ein Unsinn! Sein Interesse war rein beruflich, er war ein verheirateter Mann und arbeitete sogar mit seiner Frau gemeinsam in der Arztpraxis. Alles, was sie für Avancen gehalten hatte, die Komplimente, die Liebenswürdigkeiten, es hatte der Ärztin, nicht der Frau gegolten.
»Da hat Dr. Kortner gewiss eine zuverlässige Hilfe an seiner Seite«, sagte sie und lächelte.
»Man gibt sich Mühe«, war die Antwort.
Da die Unterhaltung beendet war, schaute Tilly sich im Sprechzimmer um. Wie im Flur waren die Wände weiß gestrichen, die Gardinen an den beiden Fenstern waren zart und hell, sodass der gesamte Raum lichtdurchflutet wirkte. In den hohen weißen Vitrinen standen Bücher neueren Datums, die längst überholten Schinken, die Dr. Greiner dort aufbewahrt hatte, waren verschwunden. Ebenfalls neu waren zwei weiße Instrumentenschränke mit vielen Schubladen und der Behandlungstisch. Hingegen stammten der mit bunten Tüchern bespannte Paravent und das Waschbecken sowie der breite, abschließbare Stahlschrank, in dem die Gifte aufbewahrt wurden, aus früheren Zeiten. Unter anderem wurden Arsen, Morphium und Chloroform unter Verschluss gehalten.
Er war verheiratet, das war vollkommen normal. Wie
konnte sie etwas anderes annehmen! Sie musste vollkommen verrückt gewesen sein.
Sie erschrak, als eilige Schritte im Flur zu hören waren und eine fröhliche Stimme erklang: »Guten Tag zusammen! Ich bin sofort für Sie da.«
Bevor sie sich sammeln konnte, wurde die Tür aufgerissen, und Dr. Kortner stand in Hut und Mantel vor ihr. Sein Gesicht leuchtete, als er sie erblickte. »Frau von Klippstein«, sagte er und trat mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »Wie schön, dass Sie es möglich gemacht haben. Herzlich willkommen in meinem neuen Domizil, gnädige Frau!«
In ihrer Verwirrung stand sie auf, um ihn zu begrüßen, was er mit warmem Lächeln zur Kenntnis nahm. Er drückte stürmisch ihre Hand, dann wies er auf seine Frau. »Ihr habt euch bereits miteinander bekannt gemacht, sehe ich das recht? Doris ist meine rechte Hand, sie organisiert, erledigt die lästigen Schreibarbeiten, die Buchführung und alles andere, zu dem ich unfähig bin.«
Nett, dass er ihr so viel Anerkennung spendet, dachte Tilly und fühlte sich ungemein beklommen. Ob seine Frau diese überschwängliche Begrüßung einer fremden Kollegin nicht störte? Nun, sie dürfte es gewohnt sein, er war ein Mensch, der auf andere zuging.
»Nun«, fragte er Tilly nicht ohne stolze Erwartung. »Wie gefällt es Ihnen?«
»Es ist hell und freundlich in dieser Praxis geworden. Wie ich sehe, haben Sie verschiedene Neuanschaffungen getätigt und Bewährtes übernommen.«
Er nickte erfreut und erklärte, dass er einen modernen Untersuchungsstuhl von einem Kollegen erstanden habe, dazu die Wärmelampe und das Blutdruckmessgerät.
»Ich habe vor, einen Reizstromapparat anzuschaffen, der bei inneren Verspannungen sehr hilfreich ist, momentan
muss ich allerdings ein wenig langsamer tun. Meine Rücklagen sind aufgebraucht, und einen Bankkredit möchte ich nicht aufnehmen, solange die Zinsen derart in die Höhe steigen.«
Tilly wich seinem Blick aus, die Begeisterung, die er an den Tag legte, war berechtigt, er ging ganz und gar in seinem Beruf auf. Ein sympathischer junger Mensch, der ihre Anerkennung voll und ganz verdiente. Wenn sie trotz allem befangen war und nicht die richtigen Worte fand, dann lag das an ihren dummen, lächerlichen Fantastereien.
»Das kann ich voll und ganz verstehen, Herr Dr. Kortner«, stimmte sie zu und bemühte sich um ein warmes Lächeln. »Die Praxis gefällt mir sehr, aber ich möchte Sie nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten. Ihre Patienten warten.«
»Da haben Sie völlig recht, Frau von Klippstein. Doris, gibst du mir bitte meinen Kittel? Er hängt über dem Stuhl, glaube ich …«
»Nein, du hattest ihn über den Messstab der Waage geworfen«, erwiderte Frau Kortner kopfschüttelnd. »Ich sage dir zum hundertsten Mal, der Arztkittel gehört in den Schrank.«
Er war etwas verlegen, weil er wie ein Schuljunge getadelt wurde, immerhin bedankte er sich, als seine Frau ihm das gute Stück reichte, und zog es über.
Der Kittel war keine Neuanschaffung, allerdings sorgfältig gewaschen, gebleicht und gebügelt. Doris, die unentwegte, unersetzliche Frau an seiner Seite. Tilly spürte, dass ihre Gedanken ins Sarkastische abglitten.
»Wenn Sie noch zwei Minuten Zeit haben, liebe Frau von Klippstein«, sagte er, als sie ihm die Hand zum Abschied reichte. »Ich wollte auf unser Gespräch neulich zurückkommen. Tatsächlich fehlt mir eine Vertretung, ich
mache häufig Hausbesuche, da kommt die Praxis zu kurz, und es ist nicht meine Art, Patienten abzuweisen. Darf ich Ihnen in aller Kürze einen Vorschlag machen, Frau Kollegin?«
Nein,
sagte etwas in ihrem Inneren.
Das geht nicht gut. Du hast dich verliebt. In einen verheirateten Mann. Gib es zu. Wenn du hier arbeitest, wirst du unglücklich sein.
»Natürlich«, antwortete sie, ihre innere Stimme geflissentlich überhörend.
Dr. Kortner war plötzlich aufgeregt, ging zum Schreibtisch und suchte dort herum, wühlte in einer Schublade, bis seine Frau ihm etwas zurief. »Linke Seite, zweite von oben. In der blauen Mappe.«
»Wenn ich dich nicht hätte«, rief er lachend zurück, zog die blaue Mappe heraus und öffnete sie. »Ich habe mir erlaubt, einen Vertrag zu entwerfen, gnädige Frau. Lesen Sie alles in Ruhe durch, und lassen Sie mich wissen, ob solch eine Anstellung für Sie infrage käme. Dreimal in der Woche vormittags oder nachmittags, je nach Absprache. Die Bezahlung erfolgt nach Arbeitsstunden. Leider kann ich vorläufig keine besseren Konditionen bieten. Ich weiß natürlich, dass Sie von Ihrer fachlichen Qualifikation und von Ihrem Können her weitaus mehr verdienen müssten.«
Tilly nahm die Blätter in Empfang, warf einen kurzen Blick darauf, faltete sie dann zusammen und steckte sie in ihre Handtasche. Es war ein gutes Angebot, sie hätte auf der Stelle zugesagt, wenn nicht ein gewaltiges Hindernis im Weg stehen würde.
»Damit wäre ich einverstanden, Dr. Kortner«, sagte sie. »Aber ich brauche, wie Sie sicher wissen, die Erlaubnis meines Ehemanns, um einen Vertrag zu unterschreiben. Deshalb muss ich Sie um einige Tage Geduld bitten.«
»Selbstverständlich. Ihr Ehemann kann sehr gerne in
der Praxis vorsprechen und sich alles ansehen. Falls das seine Entscheidung positiv beeinflussen würde.«
Eher nicht, dachte Tilly. Ernst würde vermutlich vor Eifersucht platzen. Allerdings ohne einen Grund zu haben.
»Ich lasse von mir hören.« Sie reichte ihm die Hand, verabschiedete sich höflich von Frau Kortner, bedankte sich für die freundliche Aufnahme und verließ die Praxis.
Als sie wieder in ihrem Wagen saß, machte sie sich Vorwürfe. Warum hatte sie ihm falsche Hoffnungen gemacht? Sie würde dieses Angebot nicht annehmen. Sie durfte es nicht. Wenn sie einen einzigen Funken Selbstachtung hatte, musste sie ablehnen. Sie hatte sich selbst um diese Chance gebracht, weil sie sich wie ein Backfisch in einen Mann verliebt hatte, der ungemein sympathisch war, ihre lächerlichen, kitschigen Gefühle jedoch in keiner Weise erwiderte. Sie war so durcheinander, dass sie sich in ihrer Heimatstadt, in der sie aufgewachsen war, zweimal verfuhr, den Wagen wenden musste und um ein Haar den Kotflügel eines parkenden Lastwagens gestreift hätte.
Es dämmerte langsam, als sie vor dem Haus in der Frauentorstraße anhielt und erleichtert aus dem Wagen stieg. Ein unangenehmer Wind rüttelte an den Dächern, er trieb feinen Nieselregen mit sich, der durch die Kleidung bis auf die Haut zu dringen schien. Tilly fröstelte und beeilte sich, nach drinnen zu gelangen, um sich in ihrem Bett zu verkriechen, die Decke über den Kopf zu ziehen und alles so schnell und gründlich wie möglich zu vergessen.
Es kam anders. Als sie eintrat, schlug ihr ein warmer Duft nach Tannennadeln und Lebkuchen entgegen, aus dem Wohnzimmer drangen Hennys und Kittys helle Stimmen, dazwischen Roberts heitere Mahnungen.
»Vorsicht, Henny! Gleich fällst du mitsamt dem
Lametta in den Baum! Kitty, mein Schatz. Wenn du diese Kerze so aufhängst, wird sie den Ast darüber anzünden …«
»Dann mach du es, Mr. Besserwisser!«
»Mit Vergnügen, Mrs. Neunmalklug!«
»Wer hat den blöden Wassereimer dahingestellt? Mir ist das ganze Lametta reingefallen«, hörte sie Henny.
Sie schmückten den Weihnachtsbaum. Wie sehr hatte Tilly sich darauf gefreut, dieses Weihnachtsfest in Augsburg bei ihren Lieben zu verbringen, denn ihre Familie würde ihr helfen, über diese unglückliche Geschichte hinwegzukommen. Es war wunderbar, nicht allein zu stehen, sondern liebe Menschen zu haben, die Anteil nahmen, die Trost und Freude spendeten. Lächelnd trat sie ein.
»Tillylein! Da bist du ja«, rief Kitty, die auf einer Leiter stand und mehrere Kerzenhalter in den Händen hielt. »Na, wie war’s? Hat er dich eingeladen? Habt ihr Kaffee getrunken und Torte gegessen?«
»Leider nein! Er musste sich um seine Patienten kümmern. Übrigens hat er eine sehr tüchtige Arzthelferin. Frau Doris Kortner.«
Kittys Unterkiefer sank herab. »Er ist verheiratet?«
»Richtig.«
»Pass auf, Tante Tilly«, rief Henny. »Tritt nicht in die Schachtel mit den Christbaumkugeln!«
»Richtig verheiratet?«, regte sich Kitty auf. »Mit einer Frau? So ein Schluri! Man erlebt mit den Männern immer wieder Überraschungen. Nein! Ich hätte meine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass er …«
»Dass er was, Mama?«, wollte Henny neugierig wissen.
Kitty räusperte sich hörbar: »… dass Herr Dr. Kortner Junggeselle ist. Und du fischst jetzt das Lametta aus dem Wassereimer und hängst es im Badezimmer zum Trocknen auf.
«
»Ich dachte, du wolltest sagen, dass er in Tante Tilly verknallt ist, Mama.«
»Das Lametta«, befahl Kitty streng von der Leiter herab, und Henny hockte sich murrend vor den Wassereimer, den Gertrude vorsorglich bereitgestellt hatte, falls der Baum heute schon abbrennen sollte.
»Magst du uns helfen, Tilly?«, fragte Kitty. »Da drüben im Karton sind die silbernen Vögelchen und die Glöckchen.«
Da die Gespräche nicht eben trostreich verlaufen waren, nickte sie. Es hatte keinen Zweck, sich jetzt zurückzuziehen, damit machte sie am Ende alles nur noch schlimmer.
»Da ist ein Brief für dich gekommen, Tilly«, ließ sich Robert vernehmen, der der Aktion Weihnachtsbaum von einem Sessel aus zusah und dabei die Zeitung las. »Liegt auf der Treppe. Vielleicht ist es besser, wenn du ihn später liest.«
Tilly seufzte. Der Brief war ganz sicher von Ernst, der ihr erneut versicherte, dass er sich auf keinen Fall scheiden lassen wollte, da weder er noch sie einen juristisch gültigen Grund vorweisen konnten. Vor einigen Tagen hatte er ihr eine christliche Eheberatung auf den Hals gehetzt, die sie über die Bedeutung der Ehe und die Gründung einer Familie aufklären wollte. Nun ja, wahrscheinlich war es besser, wenn sie den Brief gleich las.
Das Schreiben war dieses Mal von Ernsts Rechtsanwalt, einem Dr. Dröhmer. Nervös riss sie den Umschlag auf und förderte einen Brief zutage.
Sehr geehrte Frau von Klippstein,
im Auftrag Ihres Ehemanns teile ich Ihnen mit, dass Herr Ernst von Klippstein in keinem Fall einem wie auch
immer gearteten Arbeitsvertrag mit Herrn Dr. Jonathan Kortner zustimmen wird.
Hochachtungsvoll
Gezeichnet Dr. Artur Dröhmer
Rechtsanwalt und Notar
Sie musste sich auf die Treppenstufen setzen, um diesen kurzen Satz ein zweites Mal zu lesen. Dann lief sie mit dem Brief in der Hand ins Wohnzimmer, wo inzwischen Robert auf der Leiter stand und nach Anweisungen seiner Frau die Kerzen im Baum befestigte.
»Wie ist das möglich?«, rief sie und hielt Kitty den Brief hin. »Woher kann er das überhaupt wissen?«
Kitty warf einen kurzen Blick auf den Brief, dann nahm sie ihn Tilly aus der Hand.
»Das ist ja unglaublich … Robert, weiter nach links, sonst ist da ein schwarzes Loch. Noch weiter. Ja so … Also Tilly, ich verstehe das nicht. Er muss hellseherische Fähigkeiten haben. Oder er lässt dich durch einen Detektiv überwachen. Das würde ich ihm zutrauen! Einen Agenten, der dich auf Schritt und Tritt beobachtet.«
Eine Vermutung, die Tilly recht unwahrscheinlich schien, obwohl sie nicht ganz unmöglich war. Jedenfalls hörte es sich bedrohlich an.
»Was ist nun schon wieder passiert?«, wollte Robert wissen.
»Stell dir vor, Schatz: Ernst will Tilly verbieten, bei Dr. Kortner zu arbeiten.«
Robert runzelte verständnislos die Stirn, hängte den Kerzenhalter irgendwo an einen Zweig und stieg von der Leiter. »Hast du Ernst mitgeteilt, dass du dort arbeiten willst?«
»Natürlich nicht, nein!
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»Dann verstehe ich nicht, wieso er davon Kenntnis hat.«
Henny kam mit einem Streifen Lametta im Haar aus dem Badezimmer zurück und mischte sich ein. »Er weiß es von Mama«, rief sie vergnügt. »Sie hat es ihm am Telefon erzählt.«
»Iiiich?«, rief Kitty empört. »Nie im Leben.«
»Doch, hast du«, beharrte Henny. »Dodo hat uns gesagt, dass Dr. Kortner eine Hilfe in der Praxis braucht und dass er Tante Tilly einstellen will. Und du hast es noch am gleichen Tag Onkel Ernst am Telefon gesteckt.«
Kitty starrte ihre Tochter verärgert an, klimperte mit den Augenlidern und rieb sich nachdenklich die Nase. »Du liebe Güte, daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern«, seufzte sie. »Das muss ja ewig her sein. Und wenn überhaupt, dann habe ich höchstens gesagt, dass sie möglicherweise dort arbeiten könnte …«
»Mrs. Plaudertasche«, sagte Robert und sah sie mit heiter strafendem Blick an. »Jetzt haben wir das Malheur.«
Energisch ging Kitty zum Gegenangriff über. »Falls ich das tatsächlich gesagt haben sollte, dann einzig und allein, weil dieser Mensch uns seit Wochen terrorisiert und mir die Nerven durchgegangen sind.«
Tilly nahm ihre Hand und drückte sie beruhigend. »Reg dich bitte nicht auf, Kitty. Niemand macht dir einen Vorwurf.«
So sah Kitty es aber. Sie reckte sich und blickte mit funkelnden Augen in die Runde. »Gut, ich habe geplaudert. Also mache ich es wieder gut. Ich fahre nach München und knöpfe mir den Herrn vor. Und wenn ich mit ihm fertig bin, dann wird er alles unterschreiben, was ich ihm vorlege. Kniefällig und mit Kusshand! Das verspreche ich euch!«