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E
r hatte sie vergessen. Seit Tagen hatte Liesl ihren Vater nur aus der Entfernung gesehen, er kümmerte sich nicht um sie, sprach sie nicht an, tat, als gäbe es sie nicht. Zweimal hatte sie versucht, im Gutshaus vorzusprechen, doch man hatte sie schon an der Tür fortgeschickt.
»Der Herr Baron hat keine Zeit, und Frau von Maydorn empfängt niemanden.«
Beim zweiten Mal hatte das hübsche Dienstmädchen sie beschimpft. »Was hast du hier zu suchen? Verschwinde in den Kuhstall, wo du hingehörst.«
Liesl konnte und wollte das nicht verstehen. Sie war schließlich seine Tochter. Hatte er sich gar nicht gefreut, sie zu sehen? Vielleicht musste er erst darüber nachdenken und brauchte Zeit. Immerhin war sie überraschend auf dem Gutshof aufgetaucht, hatte ihn regelrecht überfallen. Also beschloss sie, vorerst abzuwarten und zu tun, was man von ihr verlangte. Es blieb ihr ohnehin nichts anderes übrig, mittellos, wie sie war. Sie hätte höchstens zu Fuß nach Kolberg laufen können, um dort nach einer Arbeit zu fragen.
Schon früh am Morgen nach ihrer Ankunft, als es noch stockdunkel war, hatte eine Magd an ihre Kammertür gebollert. »Aufstehen! Die Klemp melken!«
Erschrocken war sie aus dem Tiefschlaf gefahren und hatte zuerst nicht gewusst, wo sie sich befand. In ihrer Kammer oben in der Tuchvilla? In einer fremden
Wartehalle? Ach nein, sie war auf Maydorn in einem engen, feuchten Dachbodenverschlag, wo es fürchterlich nach Kuhmist stank. Die Magd war die Leiter wieder hinabgeklettert, Liesl zog den Pelzmantel enger um den Körper und lauschte auf die fremden Geräusche unter ihr. Ketten rasselten leise, das Schnauben und Brummen großer Tiere drang durch die dünne Holzdecke des Kämmerchens, das direkt über dem Kuhstall lag.
Was hatte die Magd eben gesagt? Die Klemp melken? Meinte sie etwa die Kühe? Die Stimme war barsch und befehlsgewohnt gewesen. Auf jeden Fall war es wohl besser aufzustehen, um sich auf keinen Fall gleich zu Anfang Ärger einzuhandeln. Sie tastete sich zu der schwach beleuchteten Bodenöffnung nahe der Tür, in der die Leiter stand. Vorsichtig stieg sie hinunter, die Sprossen waren mit frischem Kuhmist beschmiert, der vermutlich an den Schuhen der Magd geklebt hatte. Unten hingen mehrere Petroleumlampen an den Wänden, in ihrem gelblichen Schein bewegten sich die Hinterteile der Kühe, die zu beiden Seiten des Stalles nebeneinander angekettet waren. Ihre dunklen Leiber traten mal vor, dann wieder zurück, sie schlugen mit den Schwänzen, an denen verklebte schwarze Haarbüschel hafteten. Was darunter auf dem Steinboden lag, stank entsetzlich. Es war frischer Kuhmist, noch flüssig und warm. Sie hielt sich die Nase zu und wollte hinaus auf den dunklen Hof gehen, als plötzlich eine Magd neben ihr stand, die eine grobe, verdreckte Schürze vorgebunden hatte.
»Da«, sagte sie und reichte Liesl einen einbeinigen Schemel, ging dann durch den Mittelgang davon und ließ Liesl verständnislos mit dem seltsamen Möbelstück in den Händen stehen.
»Komm her!«, rief die Magd barsch
.
Liesl blickte sich im Stall um und sah zwischen den Kühen hier und da eine Frau auf einem solchen Schemel hocken, die eifrig beschäftigt war, aus dem prallen rosafarbenen Euter Milch in einen Blecheimer zu melken. Viel war von den zusammengekauerten Gestalten im Dämmerlicht nicht zu erkennen, sie trugen bauschige Kopftücher und lange, weite Röcke, die Eimer hielten sie zwischen den Knien eingeklemmt.
»Ich … kann nicht melken«, gestand Liesl schüchtern.
Das Gesicht der Magd war rundlich und von Falten zerfurcht wie ein zerknittertes Papier, sie sagte etwas zu ihr, das die nicht verstand, drängte sich zwischen zwei Kühe, schob die eine mit kräftigen Schlägen der flachen Hand beiseite und hockte sich neben die andere.
»Halt fest!«
Liesl begriff, dass sie den verdreckten Kuhschwanz festhalten sollte, was sie einige Überwindung kostete. Danach schaute sie neugierig zu, wie die alte Magd die Zitzen rhythmisch bearbeitete und die helle, frische Milch in einem dünnen, gleichmäßigen Strahl in den Blecheimer spritzte. Es sah sehr einfach aus. Eine leichte Arbeit, wenn da nicht diese mächtigen, unruhigen Kuhleiber wären, zwischen denen man zerdrückt werden konnte. Und die verdreckten Kuhschwänze, die einem um die Ohren geschlagen wurden.
»Nun mach selbst«, befahl die Magd, als sie mit Melken fertig war. »Nimm die Lonni, die ist brav.«
Lonni war schwarz-weiß gefleckt wie alle anderen, bloß war ihr Hinterteil etwas knochiger, was wohl darauf hindeutete, dass sie eher ein altes Mädchen war. Liesl streichelte ihren Hals, dann wagte sie sich an den Kopf, kraulte sie hinter den Ohren und stellte fest, dass Kühe wunderschöne große Augen hatten. Das Melken erwies sich dagegen
als schwierige Kunst, was nicht an Lonni lag, die freundlich stillhielt und ganz selten mit dem Schwanzbüschel zuschlug. Es lag daran, dass Liesl eine Weile brauchte, um zu verstehen, dass man nicht einfach zudrücken musste, damit die Milch floss. Man musste sanft von oben nach unten arbeiten, die Milch hervorlocken und im richtigen Moment ein wenig pressen. Lonni war gewiss das geduldigste Tier im ganzen Stall, denn sie hielt aus, bis die dumme, junge Kuhmagd endlich auf den Trichter gekommen war.
Liesl tat der Rücken weh, als sie fertig war und die Milch in einen der großen Behälter goss, in denen sie zur Molkerei gebracht wurde. Sie freute sich, dass es nach getaner Arbeit ein gutes Frühstück in einem beheizten Nebenraum gab, wo sich auch die Knechte einfanden. Heiße Milch, Brot, Speck und sogar Schlackwurst stand auf dem groben Holztisch, Teller schienen unbekannt, jeder bekam eine Schale für die Milch und schnitt sich selbst Brot, Speck und Wurst mit einem eigenen Messer ab. Für Liesl hatte die Magd ein altes, rostiges Küchenmesser hingelegt. Sie war hungrig, konnte kaum aufhören zu essen, weil sie seit dem gestrigen Morgen keine Mahlzeit mehr gehabt hatte, und als sie endlich satt war, spürte sie bleischwere Müdigkeit. Aber an Schlafen war nicht zu denken, die Kühe mussten gefüttert, der Stall gesäubert werden. Das Ausmisten war die schlimmste Arbeit. Sie bekam eine hölzerne Mistgabel in die Hand, damit warf man den Tieren erst das Heu vor, dann wurde ausgemistet. Liesl ekelte sich vor dem stinkenden braunen Kuhmist, der in Schubkarren gegabelt und auf einen der dampfenden Haufen im Hof gefahren werden musste. Wehe, wenn man die Schubkarre nicht schwungvoll und gerade über das schräge, glitschige Holzbrett beförderte, dann konnte
sie zur Seite kippen und ihren Inhalt auf das Hofpflaster ergießen, schlimmstenfalls auf Schuhe und Beine der ungeschickten Jungmagd. Niemand hatte Mitleid, als ihr gleich am ersten Tag solch ein Unfall passierte, sie wurde schallend ausgelacht und zusätzlich gescholten. Zum Glück verstand sie nicht alles, was ihr an Schimpfworten an den Kopf geworfen wurde, weil der pommersche Dialekt ihr fremd war. Als endlich die Sonne aufging, hatte sie das Gefühl, vor Erschöpfung auf der Stelle umfallen zu müssen, sie lehnte den Rücken gegen die kalte Stallwand, atmete tief die Morgenluft und hatte den dringenden Wunsch, endlich schlafen zu dürfen.
Als sie so erschöpft dastand und sich kaum aufrecht halten konnte, fuhr ein großer Schlitten, von zwei Pferden gezogen, vor dem Gutshaus vor. Die Haustür wurde geöffnet, und zwei Frauen erschienen, eine im Pelz, eine andere im Tuchmantel, vermutlich eine Bedienstete. Die Frau im Pelzmantel war jung. Sie hatte ein weiches, wollenes Tuch um das Haar geschlungen, die Lippen waren rot angemalt, an ihren Füßen sah Liesl voller Neid zierliche Lederstiefel, deren Rand mit dem Pelz des Mantels besetzt war.
»Kannst du nicht näher heranfahren, Leschik?«, hörte Liesl sie unwillig rufen. »Ich mag mir auf dem gefrorenen Hofpflaster kein Bein brechen, weil du nicht anständig kutschieren kannst.«
Der Kutscher nahm den Ruf gelassen hin und fuhr eine Runde über den Hof, um dieses Mal dichter am Gutshaus anzuhalten. Das muss seine Frau sein, dachte Liesl und beobachtete trotz ihrer Müdigkeit, wie die Hausherrin in den Schlitten stieg und sich eine Felldecke über die Beine legte. Ihrer Bediensteten ließ sie gerade mal ein Eckchen der warmen Decke. Das hübsche Dienstmädchen reichte
zwei Taschen in den Schlitten, aus denen in Handtücher gewickelte Kannen herausragten, Proviant für die Fahrt.
»Fahr los, Leschik!«, rief die Frau. »Sonst kommen wir zu spät zum Markt.«
Der Schlitten glitt fast geräuschlos über das Eis, nur die Pferde hatten Mühe, auf der glatten Fläche nicht auszugleiten. Was die Sonne tags zuvor aufgetaut hatte, war in der Nacht wieder gefroren. Als sie zum Ausgang fuhren, konnte Liesl für einen Moment das Gesicht der Frau erkennen. Es passte zu der ehemaligen Bäuerin. Sie hatte feiste Wangen und eine niedrige Stirn sowie eine kleine, dicke Nase – es war kein schönes Gesicht, sondern eines, das von Willenskraft und Herrschsucht zeugte. Ohne die neue Magd, die da an der Stallwand lehnte, eines einzigen Blickes zu würdigen, glitt die junge Herrin auf dem Hof in ihrem Schlitten an ihr vorbei und redete auf ihre Begleiterin ein.
»Gib mir einmal die Liste, die die Köchin aufgeschrieben hat. Pfeffer und Muskat, das brauchen wir für Weihnachten«, hörte sie gerade noch.
Wenn sie erst jetzt auf den Markt nach Kolberg fährt, wird sie wohl nicht mehr viel einkaufen können, überlegte Liesl. Die besten Sachen sind in Augsburg gleich am Morgen ausverkauft.
Die Tage vergingen mit harter, eintöniger Arbeit, aber Liesl war keine, die schnell aufgab, sie hatte daheim das Arbeiten gelernt, wenngleich sie nie zuvor eine solch schmutzige, niedere Tätigkeit verrichtet hatte wie diese hier.
Bald begriff sie, dass die alte Magd sie nicht nur einarbeiten sollte, sondern die Anweisung hatte, dafür zu sorgen, dass ihr keiner der Knechte zu nahe kam. Vor diesen dreckigen, rauen Burschen hatte Liesl große Angst, sie pflegten sich an den Abenden mit Schnaps zu betrinken,
führten groteske Tänze auf und griffen den Mägden unter die Röcke. Auch die Stallmägde tranken gern nach getaner Arbeit. Dann wurde es laut in der Gesindekammer, die Gesichter röteten sich, der Ton war grob und anzüglich. Außer der alten Frau, die recht wortkarg und barsch war, redete keine der Mägde mit Liesl, sie mieden die Neue, wichen ihr aus und lästerten hinter ihrem Rücken über sie. Wenn sie nach der Abendmahlzeit in ihren winzigen Verschlag hinauflief, wickelte sie sich in ihren Pelz und versuchte, sich vorzustellen, sie wäre in ihrer Kammer in der Tuchvilla und Dörthe läge neben ihr. Doch statt der Schnarchtöne der Augsburger Zimmergenossin drangen Geschrei und Gelächter des betrunkenen Gesindes herauf zu ihr, untermalt vom Kettenrasseln und Schnauben der Kühe.
Sie begann diese großen, hilflosen Wesen zu mögen, die so stark waren und sich dennoch so willig den Ketten fügten. Bevor sie zu melken begann, streichelte sie ihnen die weichen, pelzigen Ohren, kraulte das Haarbüschel an der Stirn, sprach in leisem Ton mit ihnen und war fest davon überzeugt, dass die Tiere sie erkannten. Sie waren Leidensgenossen, mussten wie sie dulden und gehorchen, bekamen selten ein gutes Wort zu hören, und ihre Kälber wurden ihnen gleich nach der Geburt fortgenommen.
Liesl fühlte sich unendlich einsam und fragte sich, warum sie unbedingt diese Reise hatte antreten wollen und wohin dies alles führen würde. Nicht selten kam ihr das Versprechen der Köchin in den Sinn, sie werde ihr das Geld für die Rückreise geben, nur zögerte sie, ihr einen Brief zu schreiben. Schon deshalb, weil sie kein Geld für das Porto besaß, und zudem, weil sie zu stolz war, um zuzugeben, dass Fanny Brunnenmayer mit ihrer düsteren Prophezeiung recht behalten hatte
.
Ihr Vater war kein guter Mensch. Er kümmerte sich nicht um sie, ging gleichgültig an ihr vorbei und schikanierte Knechte und Mägde, schlug sie ohne Zögern mit der Peitsche, wenn etwas nicht nach seinem Willen geriet. Wenn er hingegen mit seiner Frau auftrat, war er ein ganz anderer. Kleinmütig war er dann, ertrug wortlos ihr Geschrei, ließ sich vor dem Gesinde herunterputzen und war ängstlich bedacht, all ihre Wünsche zu erfüllen. Sie hatten drei Kinder, zwei Knaben und ein dreijähriges Mädchen, die manchmal mit einer Kinderfrau im Hof herumliefen, dann mussten die Mägde vor ihnen einen Knicks und die Knechte eine Verbeugung machen. Das hatte die Hausherrin so befohlen, und wer sich nicht daran hielt, bekam die Peitsche zu spüren. Die drei Kinder trugen Jacken und Hosen aus gutem Wollstoff und pelzgefütterte Stiefel. Genauso wenig sparte die Mutter mit kostspieliger Kleidung, sie besaß mehrere Pelzmäntel und Lederstiefel in allen Farben. Was sie darunter trug, bekam Liesl nicht zu sehen, da sie nach wie vor keinen Zugang zum Gutshaus hatte. Gewiss hatte sie sich viele schöne Kleider nähen lassen, und ihre Schatulle war voller kostbarer Schmuckstücke.
Wenn Liesl ein Viertelstündchen Pause blieb, ging sie oft hinüber zum Pferdestall, um die schönen Tiere anzuschauen, die dort in hölzernen Boxen standen und mit gutem Heu, Möhren und ein wenig Hafer gefüttert wurden. Dabei musste sie sich vor Leschik, dem Mann im Zottelpelz, hüten, da der Pferdeknecht niemanden im Stall litt, der dort nichts zu suchen hatte. Aber weil er humpelte, konnte man hören, wenn er kam und rechtzeitig entwischen.
Es kostete sie zu Anfang große Überwindung, näher an diese großen, nervös wirkenden Wesen heranzugehen. Das war etwas anderes als die ruhigen Kühe; diese Tiere bewegten sich rasch, ihre Augen glänzten unruhig, sie
verfolgten die Besucherin mit ihren Blicken und schnaubten. Nicht alle ließen sich anfassen, besonders der dunkle Hengst, der manchmal zornig gegen die Boxenwände schlug und seltsame, wilde Töne ausstieß, war unzugänglich und biss sogar nach der Hand des Pferdeknechts. Wenn Liesl hingegen leise zu ihm sprach, schien er zuzuhören, wurde ruhiger, drehte den Kopf seitlich, und seine Ohren, die meist angelegt waren, stellten sich auf.
Kurz vor Weihnachten kam eine Gruppe junger Leute aus den umliegenden Dörfern durch den Schnee nach Maydorn gewandert, sie stellten sich vor dem Gutshaus auf und trugen Weihnachtslieder vor. Es klang schön in Liesls Ohren, weil sie mehrstimmig sangen und die Melodien klar und einfach waren. Die Gutsherrin jedoch ließ sie vom Hof jagen und warf ihnen vor, dass sie nur betteln wollten, und so bekamen sie weder Geschenke noch Geld für ihren Gesang.
Liesl hatte den Liedern voller Freude zugehört und nicht bemerkt, wie kalt es draußen war. In ihrem dünnen Kleid, das nicht für den pommerschen Winter taugte, war sie vollkommen durchgefroren, und am Abend spürte sie, dass sie fieberte. In der Nacht wurde es schlimmer, Kälteschauer wechselten mit glühend heißen Fieberanfällen, ihr Hals schwoll zu, der Kopf schmerzte grauenhaft, manchmal sah sie fantastische Bilder in der Finsternis, bunte Reiter flogen vorüber, seidene Tücher flatterten im Wind. Dann wieder erschien ihr das Gesicht ihres Vaters, und sie erschrak vor den Narben und den bläulichen, schmalen Lippen. Am Morgen ging es ein wenig besser, sie raffte sich auf und stieg die Leiter hinunter. In der Gesindestube trank sie einen Schluck warme Milch, mehr brachte sie nicht herunter
.
»Ich bin krank«, sagte sie zu der alten Magd.
»Geh an die Arbeit«, war die mürrische Antwort.
Sie biss die Zähne zusammen, griff den Schemel und einen Eimer und begann mit dem Melken. Zuerst ging es gut, zwei Eimer frisch gemolkene Milch goss sie in den Behälter, dann wurde ihr schwindelig, und sie musste sich an einen hölzernen Pfosten lehnen.
»Was stehst du da herum?«, ranzte die Magd sie an.
Liesl gab sich einen Ruck und ging mit Eimer und Schemel zur nächsten Kuh, setzte sich und klemmte den Eimer zwischen die Knie. Plötzlich kreiste der gefleckte Kuhleib vor ihren Augen, etwas zog sie unaufhaltsam in die Tiefe, und sie stürzte in endlose Dunkelheit. Hundert Jahre, tausend Jahre, eine Ewigkeit schwebte sie dort unten, aufgelöst in das Nichts, abgetaucht in das stille Meer des Unbewussten. Irgendwann vernahm sie Stimmen, zunächst undeutlich, dann immer klarer.
»Nimm deine Finger von ihr, oder du bekommst meine Peitsche zu spüren.«
»Ich habe sie unter der Kuh hervorgezogen, gnädiger Herr. Sonst nichts.«
»Was ist los mit ihr?«
»Sie ist fallsüchtig, Herr. Lag unter der Meta mit dem Gesicht im Stroh.«
»Weg von ihr! Ich trage sie hinauf. Grita, du wäschst ihr Gesicht und Hände mit warmem Wasser. Aus dem Weg!«
War das ihr Vater? Sie kannte seine herrische, dabei helle Stimme, hörte ihn keuchen, als er die Leiter hochstieg. Hing sie über seiner Schulter? Legte er sie jetzt auf ihr Lager?
»Wieso hat sie keine Decke, Grita? Hatte ich nicht befohlen, ihr eine warme Decke zu bringen? Verdammt noch
mal! Werden meine Befehle so befolgt? Spute dich, alte Hexe. Sonst wirst du es bereuen.«
Erneut versank Liesl in heißer, fiebriger Dämmerung, glühte am ganzen Körper, spürte kaum, dass jemand mit einem kratzigen Lappen über ihr Gesicht fuhr.
»Schluck das runter!«
Jemand steckte ihr eine Tablette in den Mund und gab ihr Wasser zu trinken. Es schmeckte bitter, sie musste husten und würgte. Die zweite Tablette ging mit noch mehr Mühe herunter, sie trank durstig den ganzen Becher aus und sank zurück auf das Lager.
In der Nacht wich das Fieber, Liesl schlief ein und träumte, dass sie mit Christian Hand in Hand durch den sommerlichen Park der Tuchvilla lief. Dann verlor sie ihn und suchte ihn überall, schaute hinter die Büsche, eilte bis zum Gärtnerhaus und klopfte an, ohne dass jemand ihr öffnete. Als sie erwachte, schien Licht durch die Ritzen der Bretterwände. Es musste Mittag sein. Neben ihrem Lager stand eine Schale mit Milch, daneben ein Teller mit Brot, Schinkenspeck und ein Töpfchen mit süßem Honig. Zwei der bitteren Tabletten lagen auf einem Stück Papier neben dem Teller.
Eine am Morgen, die andere am Abend
, stand mit Bleistift auf dem Zettel geschrieben. Liesl hatte keine Lust darauf, trank lieber die Milch und tunkte das Brot hinein, aß ein wenig Schinken und leckte den Honigtopf aus, bis nichts mehr drin war. Dann rollte sie sich auf ihrem Pelz zusammen und zog die Decke über sich. Eine weiche, wollene Decke, die sie nie vorher gesehen hatte und die wunderbar wärmte. Sie schlief tief und fest wie ein Stein, und als sie am Abend erwachte, fand sie eine Schüssel mit Eintopf und einen Krug Apfelmost neben ihrem Lager. Hungrig aß sie alles auf, nahm brav die beiden Tabletten
und lauschte eine Weile auf die Geräusche der Kühe unter ihrer Kammer, die ihr inzwischen vertraut waren. Das Fieber kehrte nicht zurück – zwar fühlte sie sich noch schwach, doch sie war wieder gesund.
Tags drauf lagen seltsame Dinge neben ihrem Lager: ein Rock aus dickem Wollstoff, eine Bluse aus kratziger, handgesponnener Wolle gestrickt, lange, wollene Strümpfe, ein buntes Tuch und ein Paar Fellstiefel, die ihr zwei Nummern zu groß waren. Wer hatte ihr wohl diese Gaben gebracht? Es kostete sie Überwindung, das unbequeme Zeug anzuziehen, sie tat es, weil sie bei der Kälte besser wärmten als das dünne, abgetragene Kleid, in dem sie gekommen war. Neu eingekleidet, stieg sie die Leiter hinunter und kam gerade rechtzeitig zum Frühstück ins Gesindezimmer. Unfreundliche Blicke und Geflüster hinter vorgehaltener Hand empfingen sie, einige Knechte musterten sie spöttisch, standen auf und gingen an ihre Arbeit.
Als sie sich Milch in ihre Schale füllte und ein Stück Brot aus dem Korb nahm, räumte die alte Magd alles andere, was auf dem Tisch gestanden hatte, beiseite und sah sie giftig an. »Bist gesund? Dann kannst gleich mit ausmisten!«
Draußen hatte es wieder geschneit, zwei Knechte schaufelten den Weg zum Gutshaus frei, auf dem Hof waren die Spuren des Schlittens zu sehen – wie es schien, war die Frau ihres Vaters erneut zum Einkaufen nach Kolberg gefahren. Liesl verrichtete ihre Arbeit, so gut sie konnte, ging anschließend hinüber in den Pferdestall, um zu schauen, ob ihre Lieblinge sie noch in Erinnerung hatten. Und wirklich wurde sie mit freudigem Schnauben begrüßt, sie streichelte die weichen Nüstern und glatten Pferdehälse, stahl ein paar Möhren aus einem Eimer und verfütterte sie. Wie seltsam, dass sie auf diesem Gut von diesen unschuldigen Wesen Freundschaft und Zuneigung
erfuhr, während die Menschen ihr mit Feindseligkeit begegneten.
Sie hatte immer aufgepasst, dass keiner der Pferdeknechte im Stall war, wenn sie sich hier aufhielt, weil man sie sonst hinausjagen würde. Deshalb erschrak sie, als sie hinter sich Schritte vernahm.
»Geh von dem Hengst fort, sonst beißt er dich!«, befahl eine herrische weibliche Stimme.
An der Stalltür stand eine ältere Frau im grünen Lodenmantel, ein Pelz war um ihre Schulter geschlungen, auf dem Kopf hatte sie einen grünen Filzhut, wie ihn die Männer in Augsburg an Festtagen trugen. Sie kam langsam auf Liesl zu und stützte sich dabei auf einen Stock.
»Der beißt mich nicht«, verteidigte sie sich schüchtern. »Der lässt sich von mir streicheln. Schauen Sie.«
Der Hengst scheute zunächst, dann nahm er das Stück Möhre aus ihrer Hand, und sie strich ihm sanft über den Hals, während er kaute.
»Da schau einer an.« Die Frau in Loden humpelte näher heran. »Wer bist du überhaupt? Hab dich noch nie hier gesehen.«
Liesl überlegte, was sie sagen sollte. Diese alte Frau konnte niemand anderes als Elvira von Maydorn sein, die Schwägerin von Alicia Melzer. Sollte sie sich ihr vorstellen?
»Ich bin die Liesl Bliefert aus Augsburg«, sagte sie vorsichtig. »Ich komme von der Tuchvilla und soll Sie von der Frau Alicia Melzer schön grüßen.«
Verblüfft sah die alte Frau sie an, betrachtete die wollene Kleidung, die ganz sicher nicht in Augsburg gefertigt worden war.
»Aus Augsburg kommst du? Von der Tuchvilla sogar? Und was willst du dann hier auf Maydorn?«
Die Gutsherrin sprach in einem barschen Ton. Nicht
hochmütig wie die junge, aber abweisend. Liesl musste allen Mut zusammennehmen, um ihr eine Antwort zu geben.
»Ich bin hier, weil ich meinen Vater kennenlernen wollte.«
»Deinen Vater?«
»Den Baron von Hagemann, den Gutsherrn. Er ist mein Vater.«
Die alte Frau zog ärgerlich das Gesicht in Falten. »Der ist kein Baron«, erwiderte Elvira von Maydorn verdrossen. »Selbst wenn er sich gern so anreden lässt. Und Gutsherr ist er ebenfalls nicht. Ein großes Maul hat er.« Mit diesen Worten wandte sie sich um und humpelte zurück zur Stalltür. »Gib den Pferden ja keine Möhren mehr«, rief sie Liesl drohend zu. »Davon bekommen sie Koliken.«
»Das wusste ich nicht«, stammelte das Mädchen, ging eilig hinaus auf den Hof und verdrückte sich in den Kuhstall, denn sie wollte Leschik auf keinen Fall begegnen. Die Gutsherrin hatte bereits die Stalltür hinter sich zugeschlagen, und sie hörte sie draußen nach dem Stallknecht rufen.
Sie ist alt und verschroben, dachte Liesl verzagt, ganz sicher wird sie mir nicht helfen. Das war ihre letzte Hoffnung gewesen, und nun war sie dahin. Es half nichts, sie musste der Fanny Brunnenmayer einen Bettelbrief schreiben, damit sie wieder nach Hause konnte. Wahrscheinlich hatten sie längst ein anderes Küchenmädel eingestellt, und sie fand keine Arbeit mehr. Und die Mutter würde schelten, weil es ganz anders gekommen war, als sie es sich erhofft hatte. Aber alles war besser, als noch länger hierzubleiben, wo sie eine Fremde war und alle sie hassten.
Am Nachmittag musste der Kuhstall aufgeräumt und
gesäubert werden, damit es weihnachtlich aussah. Büschel mit Tannenreisern wurden an die hölzernen Pfosten gebunden, weil am Heiligen Abend der Verwalter, der sich bereits als Gutsherr fühlte, mit seiner Familie durch die Ställe ging, um die Tiere mit Möhren und Heubündeln zu beschenken. Danach, das erlauschte sie aus den Gesprächen der Mägde, wurden Geschenke an das Gesinde verteilt und wie jedes Jahr ein Fässchen Schnaps gespendet.
Oh weh, dachte Liesl. Dann werden sie in der Nacht wieder schrecklich betrunken sein, und ich muss den Riegel an der Kammertür zuschieben, weil die Männer dann nicht mehr wissen, was sie tun.
Doch dieser Schrecken blieb ihr erspart. Am frühen Nachmittag, als es zu dämmern begann und im Stall wieder gemolken werden musste, fuhr Leschik mit dem Schlittengespann auf den Hof.
»Liesl«, rief eine helle, schneidende Stimme in den Kuhstall herein.
Sie stellte den Eimer mit der Milch auf den Boden und lief mit wild klopfendem Herzen auf den Hof hinaus. Da stand ihr Vater und wartete auf sie.
»Pack zusammen«, sagte er kurz angebunden. »Hier ist Reisegeld. Leschik bringt dich nach Kolberg, dort kaufst du dir ein Zugbillet. Nun mach schon. Steh nicht herum. Hol deine Sachen, es wird bald dunkel!«
Sie war wie vom Donner gerührt. Gewiss, sie hatte vorgehabt, den Gutshof so schnell wie möglich zu verlassen. Aber dass sie auf solche Weise fortgeschickt wurde, war dennoch bitter.
»Ich geh schon«, stammelte sie und stieg hastig die Leiter hinauf in den dunklen, kalten Verschlag, der für wenige Wochen ihre Unterkunft gewesen war. Sie legte die wollenen Kleider ab und zog ihr eigenes Kleid wieder an, hüllte
sich in den Pelz und stopfte ihr bisschen Habe in die Reisetasche. Unten scharrten die Pferde unruhig mit den Hufen, ihr Vater stand neben dem Schlitten und redete mit dem Kutscher.
»Steig auf«, sagte er, als sie mit ihrer Reisetasche ankam. »Sag deiner Mutter, dass sie dich kein zweites Mal herschicken soll. Dies ist kein Ort für dich. Und nun leb wohl.«
Sie gab ihm keine Antwort, weil ihr heiße Tränen in die Augen stiegen. Das war nun der Abschied von dem Mann, der niemals ein Vater für sie sein würde. Ihr Vater war Gustav Bliefert gewesen, doch der lag in seinem Grab, und sie konnte ihm nicht mehr für all die Liebe danken, die er ihr gegeben hatte.
Als sie schon im Schlitten saß und die Felldecke über die Beine legte, vernahm sie plötzlich einen lauten Ruf, der über den ganzen Hof schallte.
»Halt an, Leschik! Sie steigt aus!«
Verblüfft schaute sie zum Gutshaus hinüber. Dort stand eine Gestalt auf der Treppe, in einen langen Mantel gehüllt, gestützt auf einen Stock.
»Fahr zu, Leschik!«, kommandierte ihr Vater wütend und knallte mit der Peitsche, dass die Pferde erschraken und heftig anzogen.
»Noch bin ich Herrin auf Maydorn, und meine Befehle gelten«, rief die alte Gutsherrin von der Treppe herüber. »Hierher zu mir, Leschik!«
Der Kutscher zögerte keinen Augenblick. Er parierte die Pferde, fuhr unter den Augen des neugierig herbeigelaufenen Gesindes eine Runde auf dem Hof und hielt vor dem Gutshaus an.
»Steig aus!«, befahl Elvira von Maydorn und winkte Liesl mit dem Stock. »Du kommst jetzt mit mir. Das bin ich meiner Schwägerin Alicia schuldig.«