27
Januar 1931
Kitty liebte ihren Robert über alles, obwohl er manchmal ein fürchterlicher Sturkopf sein konnte.
»Was ist denn um Himmels willen dabei, wenn ich nach München zu meinem Schwager fahre?«
»Gar nichts, Liebling. Ich möchte einfach nicht, dass du allein dorthin fährst.«
Kitty wollte sich totlachen. Ihr Robert war eifersüchtig. Wie wundervoll und zugleich lästig.
»Du meine Güte, Robert. Ernst ist ja nicht gerade der verführerischste Mann, der mir je über den Weg gelaufen ist. Und außerdem ist er, du weißt ja …«
Es gehe ihm lediglich darum, dass sie nicht allein mit dem Wagen fahre, verteidigte er sich. Sie könnte ja eine Panne haben, und dann wäre es auf jeden Fall besser, wenn er dabei sei.
»Wenn ich eine Panne habe, kommen immer jede Menge Leute, um mir zu helfen.«
Das war die reine Wahrheit, nur verschwieg sie, dass diese Helfer ausnahmslos junge Männer waren, von denen sich die meisten weniger um ihr Auto als um die Fahrerin bemühten.
»Na gut, lassen wir das, ich habe die Tage ohnehin viel zu tun«, gab er nach. »Warum nimmst du nicht Marie mit? «
»Marie? Auf keinen Fall. Sie hat mir erst gestern am Telefon erzählt, dass es Paul nicht gut geht und dass sie ihn nicht allein lassen mag. Was hältst du davon, wenn ich unsere Mizzi mitnehme?«
Auch das gefiel dem besorgten Ehemann nicht, weil das Hausmädchen Mizzi bekanntermaßen nicht die Flotteste war. Er runzelte die Stirn und schlug vor, Gerti zu fragen.
»Gerti?«, meinte Kitty schulterzuckend. »Meinetwegen. Ein wenig Münchner Luft wird ihr guttun. Sie schaut etwas käsig aus in letzter Zeit. Ich werde Lisa gleich anrufen.«
Ihre Schwester war wenig erbaut, dass sie ihre Kammerzofe einen ganzen Tag lang entbehren sollte, doch weil sie friedfertig gestimmt war, gab sie schließlich nach. Allerdings bloß, weil ihr die arme Tilly leidtat, die mit ihrer Scheidung zwischen Tür und Angel hing und keinen Arbeitsvertrag unterschreiben durfte.
Als Kitty am folgenden Morgen vor dem Eingang der Tuchvilla vorfuhr, stand Gerti mit Hut und Handtasche bereit. Richtig hübsch hatte sie sich für die Fahrt nach München gemacht, das kurz geschnittene Haar mit der Brennschere gelockt, Hut und Mantel sauber ausgebürstet, die Wimpern getuscht und die Lippen kirschrot geschminkt.
»Na, Gerti? Wen willst du in München verführen? Sei ja vorsichtig, falls wir eine Panne haben, da werden wir nämlich von jungen Herren umringt sein. Was hast du eigentlich in der großen Handtasche? Deine Aussteuer?«
Gerti wurde rot. »Ich dachte, in München sind die Frauen gewiss weltläufiger angezogen als hier in Augsburg. Finden Sie den Lippenstift zu grell, gnädige Frau?«
»Etwas knallig. Passt aber gut zu deinem blonden Haar. Stell die Tasche auf den Rücksitz, vorn ist zu wenig Platz. Und lass den Mantel besser an, es zieht im Auto, weil das Dach zwei undichte Stellen hat. Und wenn wir dort sind und ich unterhalte mich mit meinem Schwager, dann ziehst du dich zurück, verstehst du? Es wäre ihm ganz sicher unangenehm, wenn jemand unserem Gespräch zuhört.«
»Selbstverständlich, gnädige Frau. Ich wollte sowieso …, also ich habe einen Bekannten in München, und wenn Sie mich ein Stündchen entbehren könnten, würde ich ihn gern treffen.«
Da schau mal einer an, dache Kitty amüsiert. Das Mädel war nicht dumm, sie nutzte die Gelegenheit, um ihren eigenen Interessen nachzugehen. Von wegen Bekannter. Schließlich wussten alle, dass sie eine Stelle als Sekretärin suchte, und sie würde sich irgendwo vorstellen wollen. Wenn es klappte und sie die Stelle bekam, würde Lisa sie vermutlich steinigen, weil sie ihre Kammerzofe mitgenommen hatte. Sollte sie ruhig, das Mädel war zu schade für Lisa. Gerti hatte etwas Besseres verdient, als sich mit den Gören abzuplagen und ihrer Schwester alle fünf Minuten Tee mit Gebäck zu servieren.
»Kannst du die Straßenkarte lesen?«, fragte sie Gerti. »Sie ist im Handschuhfach. Leider etwas zerknittert und mit ein paar Kaffeeflecken verziert, du musst sie glatt streichen, das wird reichen. Wir fahren erst mal hinüber nach Lechhausen und dann immer weiter nach rechts …«
»Nach Osten, meinen Sie sicher, gnädige Frau …«
»Nach München eben.«
»Verstehe, gnädige Frau.«
»Und sag nicht immer gnädige Frau, das macht mich nervös. Sag einfach Frau Scherer, ja? Wir sind ja schließlich unter uns.«
»Gern, gnä…, gern, Frau Scherer. «
Mit der Zeit taute Gerti auf und schwatzte unbefangen. Dass sie eine Schwester in Augsburg habe, die mit einem Beamten vom Schulamt verheiratet sei, einem schrecklichen Menschen, trocken wie Löschpapier. Ihre Schwester sei recht unglücklich, deshalb habe sie selbst sich vorgenommen, niemals zu heiraten, sondern lieber eine berufstätige Frau zu werden. Aus diesem Grund habe sie den Sekretärinnenkurs belegt und ihn mit Auszeichnung bestanden. Siebzehnmal habe sie sich inzwischen beworben, doch wenn die überhaupt jemanden einstellten, dann ging das über Beziehungen, da wusch eine Hand die andere, oder man musste mit dem Kerl ins Bett gehen …
»Großer Gott!«, rief Kitty entsetzt. »Mit so einem alten Klappergestell? Widerlich!«
»Sind auch Jüngere dabei, aber das mache ich sowieso nicht. Weil man sich da was holen kann. Eine Freundin von mir, die hat sich da nämlich …«
»Schau mal auf die Karte, Gerti. Muss ich da vorn links oder rechts abbiegen?«
»Geradeaus!«
Mit der Zeit wurde Kitty das Geschwätz lästig. Was interessierten sie Gertis Männergeschichten oder der Kummer ihrer Schwester, die seit zehn Jahren kinderlos war? Auch die Tatsache, dass sie seinerzeit als Beste in Stenografie abgeschnitten hatte, ließ Kitty völlig kalt.
»Sei endlich still, ich muss mich auf das Fahren konzentrieren.«
»Verzeihung, Frau Scherer. Ich wollte Sie nicht langweilen«, erwiderte Gerti pikiert.
Na großartig, sie war beleidigt! Und ausgerechnet jetzt fing es an zu regnen, und die Straße wurde immer holpriger.
»Das ist ja unfassbar, dass niemand etwas gegen diese Schlaglöcher unternimmt«, schimpfte Kitty. »Das reißt mir gleich das Steuerrad aus den Händen.«
»Da sind keine Schlaglöcher, gnädige Frau.«
»Du sollst Frau Scherer zu mir sagen.«
Ein lauter Knall durchschnitt die ruhige Landschaft, das Auto machte einen Schlenker nach links und blieb dicht neben einem Baum stehen.
»Was war das?«, stammelte Gerti.
»Ein Reifen ist geplatzt. Vorn rechts«, erklärte Kitty aus dem reichen Schatz ihrer Pannenerfahrungen. »Nur ruhig Blut, wir haben ein Reserverad.«
Der Regen trommelte auf das Autodach, lief an den Scheiben herunter, tropfte durch eine undichte Stelle auf Gertis rechte Schulter. Kitty suchte seelenruhig in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch, tat etwas Parfum darauf und betupfte sich Stirn und Schläfen.
»Und was nun?«, fragte ihre Begleiterin ratlos.
»Wir warten ab, bis die jungen Männer kommen, um den Reifen zu wechseln.«
Gerti spähte durch die verregneten Scheiben nach draußen. Graue Äcker, blassgrüne Wiesen, hier und da eine braune Kuh, ganz weit in der Ferne der Zwiebelturm einer Dorfkirche.
»Aber es kommt niemand, Frau Scherer.«
Kitty hatte ihren Taschenspiegel herausgesucht und malte sich die Lippen nach. »Es kommt immer jemand, Gerti. Wir müssen vielleicht ein wenig warten.«
Drei Autos fuhren an ihnen vorbei, ohne anzuhalten. Ein Milchwagen kam ihnen entgegen, fuhr einen Schlenker und spritzte ihnen Dreckwasser über den Kühler.
»So eine Frechheit! Den zeig ich an, diesen Kuhheini!«
»Sagten Sie nicht, dass wir ein Reserverad haben, Frau Scherer? «
»Natürlich haben wir das. Hinten irgendwo im Kofferraum.«
Gerti betätigte den Türgriff, Regen spritzte ins Innere des Wagens.
»Was hast du vor? Wir werden ja nass«, regte sich Kitty auf.
»Ich wechsele den Reifen, sonst sitzen wir morgen früh noch hier. Wollen Sie mir helfen, Frau Scherer?«
»Ich? Bin ich verrückt?«
Kitty konnte es nicht fassen. Stieg dieses Mädel tatsächlich aus und öffnete den Kofferraum. Wühlte herum, stellte allerlei Zeug, das sich dort angesammelt hatte, in den Regen und kam zur Fahrerseite.
»Es ist zu schwer für mich, Sie müssen mit anfassen.«
Hilfesuchend blickte Kitty nach rechts und links, ohne irgendwelche männlichen Helfer zu entdecken. Was für ein Ärger! Hätte sie doch Humbert mitgenommen. Wütend stieg sie aus, trat dabei in ein Schlammloch und fluchte wie ein Bierkutscher.
»Hier anfassen, Frau Scherer. Ich habe den Gurt bereits gelöst. So ist es gut. Wunderbar! Das wäre geschafft. Wir brauchen noch einen Vierkantschlüssel und den Wagenheber.«
Kitty wischte die schwarz beschmierten Finger mit ihrem parfümierten Taschentuch sauber. »Einen Wagenheber? Ich sehe niemanden.«
»Keinen Mann. Das Gerät da.«
Wirklich brauchbar, diese Gerti! Sie hatte Ähnlichkeit mit Tilly, die in solchen Situationen ebenfalls rasch und besonnen handelte.
»Stellen Sie sich da drauf, Frau Scherer! Nicht dort. Hier. Sehr gut. Noch mal. Und nun runter mit dem Rad. Vorsicht, Ihr heller Mantel! Das Reserverad hier anfassen. Richtig zupacken! Noch etwas höher. Nach links. Links ist die andere Seite …«
Sie schafften es tatsächlich, das Rad zu wechseln. Gerti drehte keuchend die Schrauben fest, dann mussten Wagenheber, Kreuzschlüssel und der kaputte Reifen wieder im Kofferraum verstaut werden. Klatschnass und erschöpft, mit schlammverschmierten Schuhen und regentriefenden Hüten wollten sie gerade wieder einsteigen, da hielt ein Wagen neben ihnen an.
»Kann ich den Damen behilflich sein?«, fragte der gut aussehende Chauffeur durch das aufgeklappte Seitenfenster.
»Danke«, sagte Kitty mit Würde und wrang einen Mantelzipfel aus. »Die moderne Frau hilft sich selbst.«
»Dann nichts für ungut«, sagte er und gab Gas.
Sie hätte Gerti erwürgen können. Ein halbes Stündchen Geduld, und sie säßen jetzt trocken und sauber in ihrem Auto, während sich der nette Chauffeur beim Reifenwechsel Finger und Anzug verdreckte.
Bis München sprach sie kein Wort mit Gerti, erst als sie in das Straßengewirr der großen Stadt eingetaucht war und Kitty sich restlos verfahren hatte, brach sie ihr Schweigen.
»Schau bitte mal auf die Karte, Gerti, ich glaube, wir sind falsch … Wir müssen nach Pasing.«
Gerti lächelte, sie hatte geduldig auf diese Aufforderung gewartet. »Gern, Frau Scherer.«
Kaum eine Viertelstunde später hielt Kitty den Wagen vor der Villa Klippstein an, und da in diesem Moment die Sonne zwischen den Wolken hindurchschaute, hob sich ihre Stimmung.
»Gut gemacht, Gerti«, lobte sie. »Dann mal hinein in die Höhle des Löwen! «
Ein etwas verschlafen aussehender Julius öffnete die Tür und riss überrascht die Augen auf, als er Kitty Scherer mit einer Angestellten erblickte. Aus taktischen Gründen hatte sie ihr Kommen nicht angekündigt.
»Mein lieber Julius«, sagte Kitty und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Melden Sie Herrn von Klippstein unsere Ankunft, und führen Sie uns ins Badezimmer – wir müssen uns ein wenig restaurieren.«
Julius verbeugte sich dienstbeflissen, doch man sah ihm an, dass er nicht recht wusste, was zu tun war.
»Sehr gern, gnädige Frau. Bitte hier entlang. Allerdings muss ich Sie darauf hinweisen, dass Herr von Klippstein unpässlich ist und niemanden empfängt.«
»Das sehen wir dann.«
Im Badezimmer stellte sich leider heraus, dass die Spuren, die der Reifenwechsel hinterlassen hatte, nicht völlig zu beseitigen waren. Es war mühsam genug, die Hände einigermaßen sauber zu bekommen. Gerti reinigte ihre Schuhe und versuchte, den nassen Hut wieder in Form zu bringen, was gründlich misslang.
»Ach herrje«, seufzte Kitty. »So kannst du dich nicht bei deinem Bekannten vorstellen. Nimm einfach meinen Hut, der hat weniger im Regen gelitten und passt gut zu deinem Mantel.«
»Ist das Ihr Ernst, gnädige Frau? Mein Gott, so ein teurer Hut!«
Das Mädel war ganz aus dem Häuschen vor Begeisterung, sie nahm das modische Hütchen in die Hände und ließ sich von Kitty beraten, wie man es am besten aufsetzte.
»Bleib nicht so lange fort!«, warnte Kitty.
»Ich bin bald wieder da, gnädige Frau … Frau Scherer, wollte ich sagen. «
Kitty warf einen letzten Blick in den Spiegel, zupfte das feuchte Haar zurecht und verließ das Badezimmer.
Weder Julius noch Bruni waren in der Halle zu sehen, nicht einmal zu hören war etwas. Dieses Haus war überhaupt fürchterlich still. Geradezu nervenzerreißend ruhig. Kein Wunder, dass sich die arme Tilly hier einsam und verlassen gefühlt hatte. Wo mochte der Hausherr wohl stecken? Er sei unpässlich, hatte es geheißen. Das konnte vieles bedeuten. Er würde entweder in seinem Büro oder in der Bibliothek zu finden sein. Eigentlich war dieser Mensch für sie ja erledigt, sie hatte sich vorgenommen, kein einziges Wort mehr mit ihm zu sprechen. Aber nun ja, es ging immerhin um ihre liebe Tilly, und dann war da zudem diese dumme Geschichte, die natürlich keineswegs ihre Schuld gewesen war, alle wussten doch, dass sie ihr Herz auf der Zunge trug.
Sie klopfte kurz an der Tür zur Bibliothek und ging ohne Umschweife hinein. Na also, da saß er ja! Hockte auf dem Lehnstuhl, ein Kissen im Rücken, die Wolldecke über den Beinen und sah ihr mit grämlicher Miene entgegen.
»Es wäre besser gewesen, du hättest vor deinem Besuch angerufen, Kitty«, sagte er heiser und hustete. »Ich bin schwer erkältet und habe hohes Fieber.«
»Das tut mir leid für dich«, erwiderte sie und ließ sich unaufgefordert auf einem Sessel nieder. »Ich wäre trotzdem gekommen, weil ich etwas mit dir zu bereden habe.«
Er beugte sich mühsam nach vorn, fasste den Becher, der neben ihm auf einem kleinen Tisch stand, und trank einen Schluck. Über den Rand des Bechers hinweg sah er Kitty vorwurfsvoll an.
»In Anbetracht meines Zustands wäre ich dir dankbar, wenn du gewisse Themen vermeiden könntest«, sagte er, stellte den Becher zurück und schnaubte in sein Taschentuch. Du liebe Güte, es hatte ihn wirklich böse erwischt. Kitty verspürte dennoch kein Mitleid, sondern steuerte geradewegs auf ihr Ziel zu. Und das tat sie auf ihre eigene Weise.
»Mein lieber Ernst«, sagte sie mit Emphase. »Ich kenne dich als einen klugen und realistisch denkenden Mann. Deshalb habe ich stets Achtung für dich empfunden. Was ich jetzt zu meinem größten Entsetzen vor mir sehe, ist ein trauriges Häuflein Elend. Wie konnte es so weit mit dir kommen?«
Er sah sie mit starrem Blick an und schien das, was sie ihm da entgegenschleuderte, erst einmal verarbeiten zu müssen. Dann kehrte der vergrämte Zug in sein Gesicht zurück, und wie es schien, badete er ausgiebig in Selbstmitleid.
»Frag deine Schwägerin«, knurrte er und wischte sich den Fieberschweiß von der Stirn. »Ist es ein Wunder, dass ich leide? Sie hat mich böswillig verlassen, der Lächerlichkeit preisgegeben, mein Renommee untergraben, meine innersten Gefühle verletzt …«
Kitty kam die Galle hoch. Sie musste daran denken, was er über Marie gesagt hatte, über ihre jüdische Abstammung, an seinen Telefonterror und an die Briefe seines Anwalts. Oh nein, sie würde ihm all das nicht sofort entgegenhalten, selbst wenn sie vor Zorn fast platzte. Gewiss, sie trug ihr Herz auf der Zunge. Allerdings nicht immer.
»Ich verstehe dich nicht, Ernst«, fuhr sie fort. »Wo ist deine Selbstachtung? Warum klammerst du dich mit solcher Verzweiflung an eine Sache, die dir selbst größten Schaden zufügt? Die Ehe mit Tilly war von Anfang an ein Fehler, weil ihr beide nicht zusammenpasst. Was könnte befreiender sein, als diesem unglückseligen Zustand ein Ende zu machen? «
Bevor er antwortete, wühlte er in seiner Hausjacke nach seinem Taschentuch. »Wenn du gekommen bist, um mich zu einer Scheidung zu überreden, Kitty, dann hast du den Weg umsonst gemacht … Julius, verdammt, wo steckst du?«
Der Hausdiener musste an der Tür gelauscht haben, denn er trat sofort ein.
»Taschentücher und einen Kaffee für Frau Scherer. Oder möchtest du lieber einen Tee, Kitty?«
»Danke, nichts.«
»Wie du willst. Dann frische Taschentücher und einen heißen Tee für mich.«
»Sehr wohl, Herr von Klippstein.« Julius warf Kitty einen unfreundlichen Blick zu, nahm den leeren Becher an sich und verließ die Bibliothek.
Aha, als guter Hausdiener stand er auf der Seite seines Arbeitgebers. Kitty war noch lange nicht entmutigt, sie startete den nächsten Versuch. »Ich verstehe ja, dass man die Dinge anders sieht, wenn man in eine Sache verstrickt ist, ich hingegen verfolge die Angelegenheit als unbeteiligte Außenstehende, und es tut mir weh, mit anzusehen, wie du dich immer mehr zu einem traurigen Griesgram entwickelst. Hast du das nötig? Heißt es nicht in der Bibel: Ärgert dich ein Finger deiner Hand, dann reiße ihn heraus. Es ist besser, den Finger zu verlieren, als dass dein ganzer Körper verderbe … «
Das Bibelzitat stimmte zumindest sinngemäß. Das Zucken um seinen Mund verriet ihr, dass er vermutlich wusste, wie es richtig lautete.
»Du hast die wundervolle Eigenschaft, alles nach deinen Wünschen zu drehen, liebe Kitty«, meinte er ironisch.
»Ich denke dabei allein an dich«, stellte sie richtig, »und natürlich an Tilly. «
»Gewiss«, gab er gekränkt zurück und hob verbittert das Kinn. »Du willst mich zu einer Scheidung überreden, damit sie sich mit ihrem neuen Verehrer zusammentun kann, nicht wahr?«
»Mit Dr. Kortner? Der ist ein verheirateter Mann, dessen Frau in der Praxis mitarbeitet.«
»Ach!«, entfuhr es Ernst von Klippstein. »Das hattest du mir am Telefon nicht erzählt. Ist das wirklich so?«
»Natürlich! Glaubst du im Ernst, Tilly ist eine Frau, die sich dem Nächstbesten in die Arme wirft?«
Er hustete ausgiebig, griff eines der frisch gebügelten Tücher, die Julius hereingebracht hatte, und wischte sich über das verschwitzte Gesicht.
»Also gut«, sagte er und musste sich räuspern, weil ihm die Stimme versagte. »Meinetwegen soll sie dort arbeiten, das spart immerhin Kosten.« Er musste Kitty den Triumpf angesehen haben, denn er schaute sie verbiestert an und fügte einschränkend hinzu: »Das heißt noch lange nicht, dass ich einer Scheidung zustimme. Ich werde darüber nachdenken. In einem muss ich dir recht geben: Meine Frau hat mir genug angetan, es wird Zeit, dass ich zu mir selbst zurückfinde.«
Kitty war sich sicher, so etwas nie gesagt zu haben. Wie auch immer, sie hatte einen Teilsieg errungen, und den galt es jetzt festzuhalten.
»Es wäre für uns alle gut, wenn du mir diese Erlaubnis schriftlich geben könntest, um keinerlei Missverständnisse aufkommen zu lassen.«
Ernst von Klippstein sträubte sich eine Weile, behauptete sogar, zu krank zu sein, um hinüber in sein Büro zu gehen, doch Kitty ließ nicht locker.
»Ich hole einfach einen Bogen Schreibpapier aus deinem Büro, um einen Text aufzusetzen.«
»Nein, ich gehe selbst. Julius, meine Hausschuhe«, rief er.
Was für ein misstrauischer Mensch! Glaubte er etwa, sie würde in seinen Akten herumwühlen oder wichtige Dokumente verschwinden lassen?
»Gnädiger Herr, da ist eine Angestellte von Frau Scherer angekommen«, meldete der herbeigerufene Hausdiener.
»Gerti!«, rief Kitty erfreut. »Meine Angestellte hat eine Ausbildung zur Sekretärin absolviert, du kannst ihr gleich in die Schreibmaschine diktieren.«
Ernst von Klippstein warf resigniert die Wolldecke beiseite, ließ sich die Hausschuhe an die Füße stecken und erhob sich stöhnend. Julius hatte die überraschte Gerti inzwischen ins Büro geführt, und Kitty konnte durch den Türspalt sehen, dass sie bereits erwartungsvoll an der Schreibmaschine saß.
»Kennen wir uns nicht?«, hörte Kitty Klippstein mürrisch fragen.
»Das wäre durchaus möglich … Vielleicht haben Sie mich bei einem Besuch in Augsburg gesehen. Ich arbeite in der Tuchvilla. Aber ich habe einen Sekretärinnenkurs abgeschlossen und gedenke, mich zu verändern.«
Er ließ sich auf einem Stuhl nieder und schloss die Tür zur Bibliothek mit einem Fußtritt. Ziemlich unfreundlich, fand Kitty. Die Hauptsache aber war, dass er aufhörte, sich wie ein verstockter kleiner Junge zu benehmen.
Man vernahm Maschinengeklapper und Klippsteins heisere Stimme, dann wurde ein Blatt aus der Maschine herausgerissen und weitergeklappert.
»Schon wieder ein Fehler«, schimpfte von Klippstein. »Wo haben Sie das Maschineschreiben gelernt? In einem Häkelkränzchen? Noch einmal von vorn! «
Arme Gerti. Sie war so klug und geschickt, doch dieser Nörgelheini hatte es geschafft, sie vollkommen durcheinanderzubringen. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis Ernst von Klippstein mit Schreiben und Durchschlag zurück in die Bibliothek kam und sich erschöpft in den Lehnsessel fallen ließ.
»Hier«, sagte er und reichte Kitty das unterschriebene Blatt. »Ich hoffe, du bist zufrieden. Diese Person ist total unfähig. Hübsch und dumm, eine fatale Kombination!«
»Sie ist keinesfalls dumm«, widersprach Kitty ärgerlich. »Du hast sie eingeschüchtert, da hat sie die Nerven verloren.«
»Ich bin eben kein Typ für Frauen«, sagte er mit beißendem Spott und sah zu, wie sie das Schreiben mit kritischer Miene durchlas.
Kitty hatte keine Lust auf seine Launen und ironischen Anspielungen, sie faltete das Blatt zusammen und steckte es in ihre Handtasche.
»Ich hoffe sehr, dass sich in den kommenden Tagen eine annehmbare Lösung für Tilly und dich ergibt«, sagte sie und stand auf. »Es wäre höchste Zeit.«
»Kommt Zeit, kommt Rat«, gab er kurz angebunden zurück. »Gute Reise!«
»Gute Genesung!«
Als sie aus dem Haus trat, musste sie erst einmal tief Luft holen. Dieser Mensch war ein Psychopath, er gehörte in die Klapsmühle. Arme Tilly, hoffentlich wurde sie ihn bald los. Wenigstens war der Anfang gemacht, sie hatte das Schreiben in der Tasche. Tilly konnte ihren Vertrag unterschreiben und als Ärztin arbeiten.
Im Auto tauschte sie mit Gerti den Hut und fragte sie, wie es mit ihrem Bekannten gegangen sei.
»Er war nicht zu Hause«, gab Gerti deprimiert zurück. Mit anderen Worten: Die Stelle war inzwischen vergeben. »Ich hab nichts als Pech. Was ich anfasse, es geht daneben.«
Schon wieder jemand mit Selbstmitleid, Kittys Bedarf war für heute gedeckt.