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L
iesl hatte gezögert, der Aufforderung von Elvira von Maydorn Folge zu leisten und auszusteigen. Sie wollte nicht hierbleiben, wollte so schnell wie möglich nach Hause, fort von diesem schrecklichen Gutshof, von diesen feindseligen Menschen, von diesem Vater, der nichts von ihr wissen wollte. Aber Leschik hielt die Pferde ruhig, der Schlitten stand still, und drüben auf der Treppe des Gutshauses stampfte die alte Dame ungeduldig mit ihrem Stock auf.
»Geh endlich!«, fuhr Leschik sie zornig an. »Worauf wartest du?«
Liesl nahm ihre Reisetasche und kletterte aus dem Wagen. Scheu lief sie den kurzen Weg hinüber zum Gutshaus und spürte dabei die Blicke des Gesindes in ihrem Rücken, die fast alle herbeigelaufen waren, um den Streit zwischen der alten Gutsherrin und dem Verwalter mit anzusehen. Es war wie ein Spießrutenlaufen, denn auch auf der Treppe des Gutshauses hatten sich neugierige Zuschauer eingefunden: Das Hausmädchen stand mit offenem Mund neben der Eingangstür, zwei Küchenmägde lugten um die Ecke, das Kindermädchen zerrte einen vorwitzigen Buben zurück, der in den Hof zu laufen versuchte.
»Na endlich«, knurrte Elvira von Maydorn sie an. »Die Stiege hinauf, dann nach rechts.«
In dem Augenblick, als Liesl die Halle betrat, entstand
im Eingangsbereich Bewegung. Die Küchenmägde verschwanden eilig, das Hausmädchen drehte ihr den Rücken zu und machte einen tiefen Knicks, das Kindermädchen wich mit dem Buben an der Hand in eine Ecke zurück. Der Grund dafür war nicht etwa Liesl, die verschüchtert einige Schritte in Richtung Stiege wagte. Eine Frau war in die Mitte der Halle getreten.
»Was geht hier vor?«
Liesl erstarrte bei dem herrischen Ton, angstvoll blieb sie stehen und wusste nicht, was sie tun sollte. Vor ihr stand die Ehefrau ihres Vaters, die ganz offensichtlich hier im Haus eine Menge zu befehlen hatte. Zum ersten Mal sah sie sie ohne den Pelz und das wollene Tuch, mit dem sie draußen ihr Haar bedeckte. Die Frau war blond, hatte üppige Formen und trug ein dunkelgrünes Kleid aus glänzendem Stoff. In dem weiten Ausschnitt wölbten sich ihre Brüste, die jetzt, da sie wütend war, aussahen wie zwei Blasebälge.
»Das geht dich nichts an«, sagte hinter ihr eine nicht minder herrische Stimme, die der alten Gutsherrin Elvira von Maydorn gehörte. »Was stehst du herum, Liesl? Die Stiege hinauf!«
»Das wirst du bereuen!«, fauchte die junge Frau.
»Kümmere dich um deinen eigenen Kram«, keifte die alte Dame zurück.
Liesl spürte plötzlich die Spitze des Stocks in ihrem Rücken und bewegte sich hastig wie befohlen zur Treppe, stieg die Stufen hinauf und ging nach rechts, wo sie vor einer Tür stehen blieb. Hinter ihr humpelte die Gutsherrin nach oben, die einige Male anhalten und ihren Rücken strecken musste.
»Was steht ihr hier faul herum und glotzt?«, ereiferte sich unten in der Halle die junge Rivalin. »Geht an eure
Arbeit, sonst setzt es was! Greta, hol meinen Mann. Er soll sofort zu mir kommen. Sofort! Hast du verstanden?«
Oben im ersten Stock öffnete Elvira von Maydorn wortlos eine Tür und schob Liesl in das Zimmer. Da war es, als täte sich eine andere Welt vor ihr auf. Der Raum wurde von drei Fenstern erhellt und war voller schöner Möbel. Ein gekachelter Ofen war angeheizt, und auf den hölzernen Dielen lagen bunte Teppiche ausgebreitet. Liesl wurde schwindelig von all der Pracht, und die Wärme, die sie nach Wochen eisiger Kälte umfing, tat ein Übriges. Die Reisetasche fiel ihr aus der Hand, und sie musste sich auf den Boden setzen.
»Bist ja ganz schwach, Mädel. Haben dir wohl nichts zu essen gegeben, wie? Zieh den Pelz aus, und setz dich an den Tisch. Musst bei mir nicht am Boden hocken.«
Gehorsam schälte sich Liesl aus dem Mantel und wollte gerade Platz nehmen, als ein scharfer Ruf sie daran hinderte.
»Halt! Nicht niedersetzen. Machst mir ja meine Polster dreckig. Hast du nichts anderes anzuziehen als diesen schmutzigen Lumpen?«
»Ich hab nur dieses Kleid«, stammelte sie. »Es war sauber gewaschen, als ich kam.«
»Arg lange her.« Die alte Gutsherrin unterbrach sie mit einem zornigen Brummen und ging zu einem hohen, geschnitzten Schrank. Als sie ihn öffnete, breitete sich ein intensiver Geruch nach Bergamotte im Zimmer aus, und Liesl sah, dass der Schrank mit Kleidern und Wäsche vollgestopft war. Frau von Maydorn hatte ihren Stock beiseitegestellt, ein Weilchen suchte sie in den Fächern herum, bevor sie mehrere Wäschestücke und einen Arm voller Kleider herauszog.
»Hier, nimm. Das hab ich getragen, als ich noch jung
und schlank war. Wird dir passen. Drüben ist ein Waschtisch, da kannst du dich erst einmal gründlich abseifen. Die Haare auch. Wenn’s nach Pferd riecht, würde es mich nicht stören. Aber Kuhstallgestank mag ich nicht.«
Drüben, das war ein kleiner Nebenraum, in dem ein Bett mit Nachttisch, ein Stuhl und ein altmodischer Waschtisch mit einer Marmorplatte und einem Spiegel standen. Das Waschwasser musste aus dem Eimer in eine Porzellanschüssel gegossen werden, die Seife lag in einer kleinen, geblümten Schale, die wie eine Muschel geformt war. Liesl zog sich das Kleid aus und hoffte, dass sie allein gelassen würde. Vergeblich. Ihre Wohltäterin blieb in der offenen Tür stehen.
»Waschlappen und Handtuch sind in der Schublade. Was stehst du herum? Schämst du dich? Eine alte Frau schaut dir nichts ab. Pass auf, dass du den Spiegel nicht vollspritzt!«
Obwohl es Liesl nicht leichtfiel, sich vor der Fremden auszuziehen, gab sie sich einen Ruck, schließlich blieb ihr nichts anderes übrig.
»Ein hübsches Mädel bist du«, bemerkte die Gutsherrin. »Dann ist deine Mutter wohl nicht hässlich gewesen, wie? Zieh das Hemd aus, ich wasche dir jetzt die Haare.«
Das war Liesl schon lange nicht mehr widerfahren. Früher, als sie noch klein war, hatte die Mutter ihr das Haar gewaschen, doch das war nicht angenehm gewesen, weil die Mutter ungeduldig war und es ziepte. Die Hände der alten Frau hingegen waren sanft, und der Schaum roch wunderbar nach Rosen und nach Honig, sodass Liesl fast traurig war, als die Prozedur mit einem kräftigen Guss warmen Wassers beendet wurde.
Mit einem Handtuch um den Kopf und mit einem altmodischen schwarzen Wollkleid angetan, fand sich Liesl
am Tisch sitzend wieder, vor sich die Reste des üppigen Frühstücks, das man der Bewohnerin serviert hatte.
»Iss dich richtig satt. Wenn es nicht reicht, müssen sie noch auftischen«, sagte ihre Gönnerin, die ihr lächelnd bei der Mahlzeit zuschaute. »Hab früher genauso viel essen können und war dünn wie ein Fädchen. Jetzt ess ich wie ein Spatz und geh trotzdem auseinander.«
Liesl ließ sich weißes Brot mit süßem Mus, saftigen Schinken, Rührei und Milchkaffee schmecken. Es war wie im Himmel, nie hätte sie geglaubt, dass ihr an diesem Tag so viel Gutes widerfahren würde. Sie nahm es, wie es kam, genoss die Wärme, die schöne Umgebung, die angenehm weiche Kleidung, und es war furchtbar schade, dass ihr Magen nicht mehr von diesen leckeren Speisen aufnehmen konnte.
»Muss mich ja schämen vor meiner Schwägerin Alicia, dass sie dich im Stall haben arbeiten lassen«, schimpfte die Baronin. »Dein Vater ist halt ein ausgemachter Feigling. Hat seiner Frau nicht sagen wollen, wer da auf den Hof gekommen ist. Es hat einen ordentlichen Aufstand gegeben, als ich es ihr gestern Abend gesteckt hab.«
Endlich begriff Liesl, weshalb der Vater sie am Morgen mit Reisegeld versehen und fortgeschickt hatte. Die ganze Nacht, berichtete Elvira von Maydorn voll hämischer Freude, habe die Bäuerin herumgezetert, hysterisch sei sie gewesen, habe geheult und gekeift und sich im Schlafraum eingeschlossen. Sie nannte Klaus von Hagemanns Frau ausschließlich »die Bäuerin«.
»Am Morgen hatte sie geglaubt, ihn weichgekocht zu haben, doch sie hat ihren Kopf nicht durchsetzen können, weil ich es vereitelt habe. Kann dich gut gebrauchen, Liesl. Ist ein Rattennest geworden, mein Maydorn, seitdem dieses Pack hier eingezogen ist. Gott sei’s geklagt. Aber ich
halte dagegen, auch wenn mein Rücken mich teuflisch plagt. Ich bin keine, die sich unterkriegen lässt.«
Nach dem üppigen Frühstück verspürte Liesl eine große Müdigkeit. Während sie träge der alten Gutsherrin zuhörte, die sich über die dreiste Bäuerin ereiferte und von den guten, alten Zeiten schwärmte, als ihr Ehemann Rudolf noch am Leben war, fielen Liesl immer wieder die Augen zu.
Schließlich bemerkte Frau von Maydorn, dass ihre Zuhörerin kurz davor war, am Tisch einzuschlafen, und sie erhob sich ächzend.
»Gib mal meinen Stock, Mädel! Und dann mach die Truhe auf. Langsam, die ist bald hundert Jahre alt, stammt noch von meiner Mutter. Ihre Aussteuer hat darin gelegen und meine ebenfalls. Die braune Decke nimm heraus und das Federkissen. Beides musst du am Fenster kräftig ausschütteln.«
Das Kissen war mit Daunen gefüllt und bauschte sich zur doppelten Stärke auf, als sie es schüttelte, die Decke war aus flauschiger Schafswolle gestrickt und mit einem Samtband eingefasst.
»Bist ein geschicktes Ding, Liesl«, lobte ihre Gönnerin sie. »Auf dem Sofa mach dir dein Bett, hast gewiss viel Schlaf nachzuholen.«
Liesl konnte kaum fassen, dass diese Wunderdinge für sie bestimmt waren. Ein solch weiches Daunenkissen gab es in der Tuchvilla nur für die Herrschaften, die Angestellten mussten sich mit einfacherem Bettzeug zufriedengeben. »Und pass auf, dass du nicht vom Sofa fällst«, warnte die alte Frau, während sich Liesl in ihr weiches, warmes Lager kuschelte und die Decke über sich zog.
»Vielen Dank, gnädige Frau. Ich bin Ihnen so dankbar.
«
»Schon gut, Mädel!«
Bevor sie einschlief, kam Liesl plötzlich der Gedanke, alles könnte bloß ein Traum sein, und sie würde sich beim Aufwachen in ihrer Kammer über dem Kuhstall wiederfinden, aber die Müdigkeit legte sich mit Macht über sie und löschte alle Sorgen aus.
Sie erwachte von einem metallischen Schaben und Klappern, das entstand, wenn ein Ofen gereinigt wurde, und richtete sich erschrocken auf. Wo war sie? Das Zimmer lag im Halbdunkel, im schwachen Schein einer Laterne sah sie eine alte Frau auf einem Lehnstuhl sitzen, die eine Zeitung auf dem Schoß hielt. Vor dem Ofen kniete eine Magd, hielt noch die Schaufel in der Hand und blies vorsichtig in die Glut. Als eine Flamme emporzüngelte, schloss sie die Ofentür und erhob sich.
»Und sag in der Küche, dass sie für zwei Leute Abendbrot heraufbringen sollen«, befahl die Frau im Lehnstuhl. »Vier Scheiben Pastete, nicht zu dünn geschnitten. Das Huhn heute Mittag war zäh, konnte es kaum essen. Und jetzt geh.«
»Ja, gnädige Frau. Die Köchin hat übrigens gesagt, die Pastete ist alle.«
»Vier dicke Scheiben bringst du her. Oder ich komm selber hinunter und schau nach, ob die Pastete wirklich alle ist.«
»Jawohl, Frau von Maydorn.«
Die Magd machte einen Knicks, nahm Eimer und Schaufel und ging hinaus. Liesl wickelte sich aus der warmen Decke und fuhr sich durch das verwuschelte Haar. Es war also kein Traum gewesen, sie befand sich tatsächlich im Gutshaus, trug Kleider der Gutsbesitzerin und hatte auf weichen Daunen geschlafen.
»Bist endlich wach? Ich hab langsam geglaubt, du
wolltest einen Winterschlaf halten, wie es die Bären in den Wäldern tun.«
»Ich war auf einmal furchtbar müde … Jetzt bin ich wach, und es geht mir gut.«
»Freut mich.«
Das Abendbrot wurde ganz nach den Wünschen der alten Gutsherrin aufgetischt, und Liesl durfte mit ihr am Tisch sitzen und so viel essen, wie sie wollte. Für sie völlig ungewohnt, denn noch nie in ihrem Leben hatte sie bei den Herrschaften am Tisch gesessen, das durfte niemand außer Rosa, die auf die Kinder aufpasste. Frau von Maydorn schienen solche Regeln nicht zu kümmern, sie aß ganz unbefangen mit der Tochter eines Stubenmädchens zu Abend und sorgte dafür, dass deren Teller nicht leer wurde. Dabei war sie eine gestrenge Lehrerin, der nicht entging, dass ihr neuer Schützling keine Ahnung hatte, wie man in Gesellschaft speiste.
»Stütz den Arm nicht auf! Und sitz gerade! Wie fasst du eigentlich die Gabel an? Ist das eine Heugabel? Andersherum! Schau, wie ich es mache. Und den Mund mit der Serviette leicht betupfen, nicht wild herumwischen, als müsstest du den Scheunendreck abreiben.«
Liesl bemühte sich verzweifelt, alles richtig zu machen, aber wenn sie die Gabel andersherum hielt, fiel das Stück Pastete zurück auf den Teller, und die feine Stoffserviette glitt von ihrem Schoß auf den Teppich.
»Stell dich nicht so dumm an!«
Zum Glück ging die Baronin bald zu ihrem Lieblingsthema über, ihren Trakehnern. Seit fünfzig Jahren züchtete sie diese schönen Pferde, einige der besten Rennpferde des Landes stammten aus Maydorn. Bis vor einem halben Jahr hatte sie noch täglich mehrere Stunden im Sattel gesessen, junge Pferde zugeritten und ein hartes Tagesprogramm
absolviert. Der Hengst Dschingis Khan war ein Neuzugang, um ihre Zucht aufzufrischen, doch der Bursche hatte sich als harte Aufgabe erwiesen und die Reiterin höchst widerwillig akzeptiert.
»Da ist es passiert«, erzählte sie und deutete auf ihren Stock. »Ausgebrochen ist er, unter einem niedrigen Ast hindurch, und ich hatte noch Glück, dass ich mir nicht den Schädel eingerannt hab, schlimm genug. Die besten Reiter fallen stets am schwersten …«
Ein Rückenwirbel war beschädigt, sie hatte tagelang bewegungslos im Bett gelegen, und als sie vorsichtig wieder aufstand, waren die Schmerzen geblieben. »Geht mir so wie der Riccarda, die drüben in ihrer Kammer liegt, weil bei ihr die Hüfte nicht mehr will.«
Riccarda von Hagemann, erfuhr Liesl, war niemand anders als ihre leibliche Großmutter. Die Eltern ihres Vaters, Riccarda und Christian von Hagemann, waren seinerzeit gemeinsam mit ihm auf den Hof gekommen und hatten hier gelebt. Dann war ihr Großvater vor zwei Jahren gestorben, und die Großmutter bekam ein schlimmes Hüftleiden, das sie zwang, das Bett zu hüten.
»Eigentlich hab ich mich gut mit ihr verstanden, solange meine Nichte Lisa bei uns war. Erst als der Klaus von Hagemann die Bäuerin ins Haus holte, da hat sich alles zum Schlechten gewendet. Ich hab nichts als Ärger und Verdruss, seitdem diese Person hier regiert.«
Liesls Großmutter Riccarda hatte sich schließlich gegen Elvira von Maydorn gestellt und ihrem Sohn zuliebe zu dem wenig standesgemäßen Neuzugang gehalten.
»Sie hat es ihr schlecht gelohnt, die Bäuerin. Nun muss die Riccarda dort oben ganz allein liegen, und wenn ihr Sohn nicht manchmal nach ihr schaut, kann sie verkümmern. Unten in der Wohnstube will seine Frau die kranke
Schwiegermutter nicht haben. So eine ist das. Will nicht einmal von den eigenen Eltern etwas wissen, weil sie glaubt, etwas Besseres zu sein. Gutsherrin lässt sie sich rufen. Dabei ist sie gerade mal die Frau eines Inspektors, weiter nichts.« Elvira von Maydorn schnaubte verächtlich. »Nach wie vor gehört das Gut nämlich mir. Erst nach meinem Tod fällt es an Klaus von Hagemann, und darum warten alle darauf, dass ich den Löffel abgebe, aber den Gefallen tu ich ihnen nicht. Lieber werde ich hundert Jahre alt, damit sie das Gut nicht bekommen!«
Wie schrecklich, dachte Liesl. Wie konnte sie hier leben, wenn alle auf ihren Tod warteten?
»Erzähl mir von Augsburg, Liesl«, forderte Elvira von Maydorn sie auf. »Von meiner Schwägerin Alicia vor allem. Stimmt es, dass sie eine schwache Gesundheit hat?«
Freimütig erzählte Liesl alles, was sie wusste, freute sich, dass sie die verbitterte Frau aufheitern konnte, und gab sich große Mühe, die Bewohner der Tuchvilla in einem rosigen Licht zu schildern.
»Migräne hat sie«, meinte ihre Zuhörerin kopfschüttelnd. »Das wird sie nicht umbringen, darunter litt sie früher schon. Erzähl mir von den Kindern. Spielt der Leo immer noch so schön Klavier? Und was ist mit der Dodo?«
Es wurde ein langer Abend. Die alte Dame schien große Freude an Liesls Gesellschaft zu finden. Das Mädchen musste eine flache Schachtel aus der Kommode nehmen, und sie spielten Mühle. Frau von Maydorn gewann zu Anfang fast immer, weil Liesl das Spiel nicht kannte, da sie jedoch rasch begriff, worauf es ankam, war es mit der Siegesserie der Gutsherrin bald vorbei.
»Macht nichts«, rief sie. »Pack jetzt ein. Kannst mir den Rücken einreiben, bevor ich ins Bett gehe.«
»Das tu ich gern, Frau von Maydorn.
«
Während der folgenden Tage war Liesl vor allem damit beschäftigt, ihrer Gönnerin das Leben zu erleichtern und sie aufzuheitern. Sie begleitete sie hinüber in den Pferdestall, damit sie ihre Lieblinge begrüßen und ihnen Leckerbissen bringen konnte, sie las ihr aus der Zeitung vor, sie stopfte Socken und änderte Kleider, sie brachte ihr allerlei Dinge aus den unteren Räumen, die sie benötigte, und schließlich fragte sie, ob sie nicht einmal ihre Großmutter sehen dürfe.
»Wenn du unbedingt willst, erschrick bloß nicht, sie ist ziemlich verwirrt geworden.«
Liesl musste vorsichtig sein, wenn sie die Zimmer verließ, weil außerhalb dieser Räume der Machtbereich der Frau ihres Vaters lag. Wenn Liesl ihre schrille Stimme vernahm, verkroch sie sich eilig wieder in dem Wohnzimmer der Baronin, der eigentlichen Herrin von Gut Maydorn.
Die Kammer ihrer leiblichen Großmutter Riccarda von Hagemann lag dort, wo die Melzer-Tochter Elisabeth gewohnt hatte, als sie noch mit Klaus von Hagemann verheiratet gewesen war. Liesl klopfte leise an die Tür, und da sie keine Antwort erhielt, drückte sie vorsichtig die Klinke herunter. Sie erschrak über den Anblick, der sich ihr bot. Riccarda von Hagemann lag angekleidet auf dem Bett, das graue Haar hing in Strähnen über das magere Gesicht, die Augen irrten im Raum umher und blieben an der jungen Frau hängen, die an der Tür stand.
»Endlich!«, rief sie und winkte mit beiden Armen. »Bring mir zu trinken, Greta. Ich bin fast verdurstet. Rasch, beeil dich!«
»Sofort, Frau von Hagemann.«
Liesl begriff, dass sie für eine andere gehalten wurde, und überlegte, ob sie erklären sollte, wer sie in Wirklichkeit war. Nein, das würde die Kranke nicht begreifen.
Besser war es wohl, ihr einen Becher Tee oder eine Limonade aus der Küche zu holen.
Der Gang hinunter in die Küche war nicht ungefährlich, weil Liesl jederzeit damit rechnen musste, dass die Bäuerin aus einem der unteren Räume in den ersten Stock heraufkam. Vorsichtig beugte sie sich über das Treppengeländer und spähte nach unten, ob die Luft rein war. Nicht ganz. Als sie nämlich vor der letzten Treppe stand, öffnete sich unten die Eingangstür, und jemand trat mit raschen Schritten in die Halle. Es war ihr Vater. Liesl erstarrte und wartete mit klopfendem Herzen, dass er vielleicht eine andere Richtung einschlug, aber er ging geradewegs auf die Treppe zu. Drei, vier Stufen, und er stand vor ihr. Er trug keine Mütze, sodass sie sein schütteres Haar und die Narben auf seiner Stirn sehen konnte. Sein Gesicht war unschön, von Schnitten und Rissen durchzogen. Es musste schlimm sein, für den Rest seines Lebens so entstellt herumzulaufen.
»Liesl?«, fragte er verblüfft. »Wie siehst du denn aus? Was ist das für ein Kleid?«
Sie war zurückgewichen und hatte sich auf wüste Beschimpfungen eingestellt, doch seine Stimme klang eher überrascht, auch sprach er leiser als gewöhnlich.
»Das hat mir Frau von Maydorn gegeben.«
Er trat einen Schritt zurück, um sie prüfend anzuschauen. »Bist ja ein hübsches Mädel geworden«, bemerkte er. »Siehst deiner Mutter gar nicht ähnlich.« Es war das erste Mal, dass er etwas annähernd Freundliches zu ihr sagte. »Hast mir viel Ärger eingebracht«, fuhr er fort und schaute die Treppe hinauf, als hätte er Sorge, dort könnte jemand stehen.
»Das wollte ich nicht, es tut mir sehr leid.«
»Deine Schuld ist es nicht. Trotzdem wäre es besser, du
gingst wieder fort. Leider hat die Alte einen Narren an dir gefressen, wie?«
Sie kam nicht dazu, eine Antwort zu geben, denn oben öffnete sich eine Tür, und die befehlsgewohnte Stimme seiner Frau schallte durch das Haus. »Sagt Leschik, er soll anspannen. Ich muss nach Kolberg zur Schneiderin.«
Ihr Vater winkte ihr hinunterzugehen und eilte selbst schnell die Treppe hinauf.
»Warte, mein Herz«, hörte Liesl ihn rufen. »Ich brauche noch einige Dinge, die du mir mitbringen könntest.«
Redete er immer so unterwürfig? Sie wurde nicht schlau aus ihm und war dennoch von einem frohen Gefühl erfüllt. Immerhin war er freundlich zu ihr gewesen, hatte sogar zugegeben, dass dies alles nicht ihre Schuld sei. Er war wohl doch nicht der schlechte Mensch, für den sie ihn gehalten hatte.
In der Küche verging das schöne Gefühl rasch, dort wurde sie von den beiden Mägden und der Köchin feindselig empfangen.
»Einen Becher Tee für die alte Hagemann willst haben? Die bedienen wir selbst, da brauchst dich nicht einzumischen.«
»Sie ist aber gerade durstig.«
»Die will immer was anderes«, lachte eine der Mägde. »Da könnte man den ganzen Tag hinauf- und hinunterlaufen.«
»Bitte gebt mir einen Becher Tee. Oder Wasser«, beharrte Liesl.
Damit kam sie schlecht an. »Hochnäsige Kuh! Läufst in den Kleidern der Herrschaft herum und willst uns Befehle geben.«
»Nichts gibt’s! Eine saftige Maulschelle kannst von mir
kriegen«, rief die andere Magd und schwang drohend die flache Hand.
In diesem Moment drehte sich ein Mann um, der am Tisch gesessen und eine Suppe gegessen hatte. Es war Leschik, der Kutscher.
»Die Hand herunter«, befahl er der Magd. »Tu, was sie sagt, sonst bereust du es.«
Die Magd lachte albern, doch sie gehorchte und reichte Liesl einen Becher mit Tee, den sie die Treppe hinauftrug und aus dem sie ihrer fremden Großmutter zu trinken gab.
»Danke, Greta«, sagte die Kranke und streichelte Liesls Hand. »Bist ein gutes Mädchen.«