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A
uguste ging beschwingten Schrittes durch den Park zur Tuchvilla hinüber. Zwar lagen in ihrem Korb gerade mal ein Bündelchen Zwiebeln, ein vertrockneter Sellerie und zwei kleine Weißkohlköpfe, aber ihrer guten Laune tat das keinen Abbruch. Die würden vielleicht staunen, die Leute in der Küche! Sie hatte es ja gleich gewusst.
Der Park lag im Winterschlaf, düstere Koniferen und kahles Gebüsch ragten aus den schneebedeckten Wiesen. Auf den Wegen hatte der tauende Schnee große Pfützen hinterlassen. Wenn es heute Abend fror, musste man Obacht geben, um nicht hinzufallen. Das hätte ihr noch gefehlt zu all den Sorgen, die sie ohnehin plagten. Es lag ihr einfach nicht, das Geld auf die Bank zu tragen oder in den Sparstrumpf zu stecken. Die Reichsmark in ihrem Portemonnaie war reiselustig, sie lief davon und wurde nicht mehr gesehen. Im Sommer war das nicht so schlimm, weil die Gärtnerei dann etwas abwarf, im Winter hingegen sah es trüb aus. An Weihnachten hatte sie ein paar Gestecke verkauft, jetzt im Februar war Saure-Gurken-Zeit.
Wenn der Maxl nicht ein wenig Geld heimbringen würde, hätten sie nicht einmal eine warme Mahlzeit am Abend. Er schuftete für den Rechtsanwalt Grünling, der mehrere Häuser gekauft hatte und sie herrichten ließ, um sie einträglich zu vermieten. Für einen Hungerlohn verputzte ihr armer Bub dort Wände mit Kalk oder beseitigte
Löcher in den Dielenböden. Rechtsanwalt Grünling war ein Halsabschneider, einer der wenigen Menschen, die in dieser Zeit, wo alle unter der Wirtschaftskrise litten, reich und immer reicher wurden.
Auf dem Hof der Tuchvilla wäre sie fast trotz aller Vorsicht auf einer glatten Stelle gestürzt, fing sich gerade noch und stieß vor Schreck einen lauten Schrei aus. Ihr Gemüsekorb flog im hohen Bogen in die mit Tannenreisern bedeckte Rabatte.
»Jessus, Auguste!«, schrie Hanna, die die Außentreppe kehrte. »Hast dir wehgetan? Wart, ich helf dir.«
Auguste richtete das wollene Umhängetuch. »Ist nix passiert, bloß das Körberl …«
Hanna, eine ganz liebe Person, kniete schon auf den Randsteinen der Rabatte und angelte Körbchen und Inhalt aus dem Tannengrün.
»Dank dir schön. Kommst gleich in die Küche, einen Milchkaffee trinken?«
»Wenn ich fertig bin«, sagte Hanna und griff nach ihrem Besen, den sie gegen die Mauer gelehnt hatte.
In der Küche der Tuchvilla wurde Auguste ohne große Begeisterung aufgenommen. Else saß am Tisch, den Kopf auf den aufgestützten Armen, und ruhte wie gewöhnlich von der Arbeit aus. Dörthe hockte neben dem Ofen, weil sie an einer Erkältung litt. Christian stand am Fenster und starrte hinaus. Fanny Brunnenmayer hatte ein gekochtes Huhn vor sich, das sie für die Suppe zerlegte.
»Bist schon wieder da?«, sagte sie mürrisch, als ihre Gemüselieferantin eintrat. »Die Zwiebeln kannst gleich eingepackt lassen, da haben wir noch genug. Und der Weißkohl, ich weiß net. Gestern war er schimmelig, hab fast alles wegwerfen müssen.«
Auguste hängte ihr Tuch an den Flurhaken und meinte
seelenruhig, dass die Köchin heute eben einen Weißkohl umsonst bekomme.
»Dann setz dich halt nieder. Den Milchkaffee gibt’s allerdings erst, wenn die Hanna und der Humbert mit der Arbeit fertig sind.«
»Ist recht!«
Der Milchkaffee in der Tuchvilla war sowieso kaum noch zu trinken, weil es der zweite oder dritte Aufguss war und weil mit dem Zucker auch gespart wurde. Um sich wichtigzumachen, legte Auguste gleich ihren Trumpf auf den Tisch. »Die Liesl hat geschrieben!«
Christian fuhr herum, als hätte ihn eine Biene gestochen, die Köchin warf das Hühnerbein, von dem sie gerade das Fleisch abschabte, zurück in die Schüssel.
»Braucht sie Geld für die Heimreise?«, fragte sie. »Dann
schreib ihr, dass sie es von mir bekommt.«
Auguste musste über dieses Angebot hell auflachen. Was die Fanny Brunnenmayer so alles zu tun bereit war, um eine Köchin aus der Liesl zu machen. Nein, daraus würde nichts werden.
»Ich les es euch am besten vor«, sagte sie, zog den Brief aus der Bluse und glättete das Papier sorgfältig mit der Hand.
Liebe Mutter,
du wirst dir sicher Sorgen gemacht haben, weil ich so lange nicht geschrieben habe. Es lag daran, weil ich kein Geld für das Briefporto hatte. Zum Glück hat sich nun alles zum Guten gewendet. Ich wohne jetzt bei der Gutsbesitzerin Elvira von Maydorn, schlafe auf einem Daunenkissen unter einer weichen Wolldecke und habe nichts weiter zu tun, als mich um zwei alte Frauen zu kümmern. Die Frau von Maydorn und die Frau von
Hagemann, meine Großmutter. Leider ist sie sehr krank und bringt alles durcheinander. Frau von Maydorn ist sehr freundlich zu mir, sie hat mir Kleider und sogar Schuhe geschenkt, und ich muss ihr täglich aus der Zeitung vorlesen.
Zu essen gibt es reichlich, ich kann gar nicht alles aufessen, was ich vorgesetzt bekomme. Am Abend spielen Frau von Maydorn und ich Mühle und Dame miteinander.
Bitte grüß die Brüder ganz lieb von mir. Außerdem Fanny Brunnenmayer und alle anderen Angestellten, besonders den Christian. Ich hoffe, ihr seid gesund und lebt miteinander in der Tuchvilla, wie es immer gewesen ist.
Jetzt muss ich den Brief beenden, weil das Blatt vollgeschrieben ist.
Deine Tochter Liesl
Auguste stieß einen zufriedenen Seufzer aus, als sie geendet hatte, und wartete gespannt, was sie zu hören bekam. Zunächst herrschte Schweigen. Else war eingenickt, die Köchin kratzte an den Hühnerknochen herum, Christian starrte zum Fenster hinaus. Dörthe zog das Taschentuch hervor und schnaubte hinein.
»Die Frau von Maydorn hat ihren eigenen Kopf«, sagte sie. Auguste nickte. »Nun ja, sie hat erkannt, dass die Liesl zu etwas Besserem als zu einem Küchenmädel geboren wurde.«
»Hat jemand gesagt, dass sie ein Leben lang Küchenmädel bleiben muss«, brummte die Köchin.
»Nein«, gab Auguste zurück und faltete den Brief wieder zusammen. »Meine Tochter ist jetzt Gesellschafterin der Baronin von Maydorn, trägt schöne Kleider und liest
ihr aus der Zeitung vor. Ihr dürft nicht vergessen, dass Liesls Vater von Adel ist.«
»Von ihrem Vater schreibt sie kein einziges Wort«, bemerkte die Köchin und warf die abgeschabten Hühnerknochen in einen Eimer. »Und wenn ich recht gehört hab, trägt sie abgelegte Kleider und Schuhe.«
Auguste lächelte abschätzig. Natürlich war Fanny Brunnenmayer ärgerlich, weil ihre Pläne nicht aufgingen, und suchte deshalb ein Haar in der Suppe.
»Na und? Sie wird eine Schneiderin beauftragt haben, die Sachen zu ändern. Schließlich leben sie auf dem Land, da kommt man nicht so leicht an gute Stoffe wie hier in Augsburg. Ich denke, dass Liesl diese Kleider hervorragend stehen, weil sie eine hübsche Figur hat. Vermutlich werden sie Gäste empfangen oder Einladungen annehmen, vielleicht wird sogar ein Ball veranstaltet, wer weiß? Und in einem Ballkleid wird meine Tochter gewiss so manchen jungen Herrn verzaubern.«
»Du willst ja hoch hinaus mit der Liesl«, spottete die Köchin. »Pass nur auf, dass du nicht enttäuscht wirst.«
Die Unterstellung beleidigte Auguste. Neidisch waren sie, wollten ihr nicht gönnen, dass die Liesl in die höhere Gesellschaft aufstieg.
»Vergiss nicht, dass sie die Tochter eines Barons ist«, sagte sie hochmütig und steckte den Brief wieder ein. »Das unterscheidet sie von allen, die in der Tuchvilla arbeiten.«
»Wennst meinst«, sagte Fanny Brunnenmayer und lachte leise. »Was nix daran ändert, dass ihre Mutter ein Stubenmädel war, als das Kind geboren wurde. Wofür die Liesl freilich nix kann.«
Auguste platzte fast vor Zorn, beinahe wäre sie aufgesprungen und davonstolziert, aber in diesem Moment wachte Else aus ihrem Schlummer auf und gab ebenfalls
eine Meinung ab. »Die Liesl ist ein feines Mädel und wird es einmal weit bringen.«
»Das mein ich auch«, rief Auguste. »Ihr werdet euch alle noch wundern!«
Die Köchin kippte das Hühnerfleisch in die Suppe und schien zu diesem Thema nichts mehr zu sagen zu haben.
Christian dagegen hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und den Kopf in die Hände gestützt. »Nun weiß ich es also genau«, sagte er dumpf. »Sie wird eine junge Herrin werden, und mich hat sie vergessen.«
»Das ist noch lang net gesagt«, widersprach Fanny Brunnenmayer.
»Doch, das ist gesagt und besiegelt. Drei oder vier Briefe hab ich ihr geschrieben, seitdem meine Händ geheilt sind – kein einziges Mal hat sie geantwortet. Es ist aus und zu Ende, ich seh die Liesl niemals wieder.«
Sein Kummer ging selbst Auguste ein bisschen zu Herzen. Der arme Bursche hatte sich in das Mädchen verliebt, bitter für ihn. Sie hatte diese unglückliche Geschichte verhindern wollen, aber leider hatten die beiden nicht auf sie gehört.
»So geht’s halt im Leben, Christian«, sagte sie resolut. »Man kriegt nicht immer das, was man gern hätte. Hauptsache, du bist noch jung und ein fescher Bursche. Andere Mütter haben auch schöne Töchter.«
Die gut gemeinten Worte taten keine Wirkung, Christian vergrub das Gesicht in den Händen und antwortete nicht.
»Andere Töchter haben klügere Mütter«, sagte Fanny Brunnenmayer zornig und rührte die Suppe auf dem Herd kräftig durch. »Und du, Christian, solltest nicht herumhocken wie ein Trauerkloß, sondern dich nach Maydorn aufmachen und dein Mädel heimführen.
«
Auguste fing an zu lachen, weil dieser Vorschlag so ganz und gar unsinnig war. Christian schien ähnlich zu denken, denn er schaute die Köchin mit verzweifelter Miene an. »Wenn sie mich gar net will …«
»Einen Duckmäuser und Leisetreter wird sie freilich nicht wollen«, versetzte Fanny Brunnenmayer zornig und knallte den Deckel auf den Suppentopf. »Wer nicht kämpft, der hat von vornherein verloren.«
Auguste öffnete gerade den Mund, um der Köchin in eigenem Interesse zu sagen, sie solle dem armen Burschen ja keine Flöhe ins Ohr setzen, als jemand die Gesindetreppe herunterkam. Auguste, die diesen Schritt kannte, stand rasch auf.
»Was willst
du
hier?«, fragte Humbert, als er sie erblickte. »Dein schrumpeliges Gemüse brauchen wir nicht.«
Auguste hatte bereits das Tuch umgelegt, einem Streit mit Humbert ging sie lieber aus dem Weg.
»Bin gleich weg«, erklärte sie und griff nach dem Korb. »Da, das schenk ich euch. Hab es nicht nötig, mich beschimpfen zu lassen.«
Sie legte Weißkohl, Zwiebeln und Sellerie auf den Tisch und wollte hinausgehen, doch Humbert verstellte ihr den Weg.
»Kommt er immer noch zu dir?«
»Lass mich«, zeterte sie und versuchte vergeblich, ihn beiseitezuschieben. Humbert stand fest wie aus Erz gegossen vor der Tür.
»Erst die Antwort!«
»Ich weiß net, wovon du redest!«
»Das weißt du ganz genau!«
Natürlich wusste sie, dass es um Grigorij ging. Seit einiger Zeit kam er regelmäßig für eine oder zwei Stunden in die Gärtnerei, räumte die Remise auf, sägte Bretter zu
Brennholz, brachte die Gerätschaften in Ordnung. Alles Arbeiten, die der Maxl momentan nicht schaffte, weil er am Abend zu müde dazu war.
Ein netter Mensch war der Grigorij. Wollte kein Geld von ihr, arbeitete nur fürs Essen und brachte sogar Würstl oder ein Stückerl Kochfleisch mit. Warum sollte sie den wegschicken?
»Unsere Hanna ist dir offenbar gleichgültig, wie?«, grollte Humbert. »Es kümmert dich wenig, dass das arme Mädel unglücklich wird, wenn du nur billige Arbeitskraft hast.«
»Was willst eigentlich? Denk dran, er kommt zu mir und net zu Hanna!«
Humbert fuhr wütend mit den Händen durch die Luft. »Er geht jedes Mal über den Hof der Tuchvilla zur Gärtnerei. Erzähl mir nicht, dass du das nicht weißt. Scharwenzelt hier herum, schaut in die Fenster hinein, pfeift laut ein Liedchen. Warum wohl?«
Auguste zuckte die Schultern. Es war nicht ihre Schuld. Der Hansl hatte dem Russen verraten, dass die Hanna nach wie vor in der Tuchvilla arbeitete. Hinter den Buben hatte er sich gestellt, der schlaue Grigorij. Er mochte den Hansl gern, hatte neulich zu ihr gesagt,
der
maltschik
sei klug, er müsse auf eine gute Schule gehen und lernen.
»Dann sag ihm halt, dass er hier nicht vorbeigehen darf, weil es Privateigentum ist«, schlug sie vor.
»Das hab ich getan, aber er hält sich nicht daran.«
Auguste war inzwischen bereit, Zugeständnisse zu machen, schließlich wollte sie weiterhin ihr Gemüse und die Blumen in der Tuchvilla verkaufen.
»Ist ja gut, Humbert. Ich sag’s ihm, wenn er nachher kommt.«
Die Wirkung ihrer Worte war anders, als sie es gedacht
hatte. Humbert riss entsetzt die Augen auf. »Er kommt heute zu dir? Wann?«
»Mittags«, meinte Auguste verlegen. »Könnt bald da sein.«
»Wo ist Hanna?«
»Sie kehrt die Treppe«, ließ sich Dörthe vernehmen. »Ist eigentlich meine Arbeit – sie macht es heut, weil ich Fieber hab.«
Humbert griff sich mit beiden Händen an den Kopf und wollte zur Tür laufen, die in die Halle führte.
»Reg dich net auf«, rief Auguste ihm nach. »Die Hanna müsst längst fertig mit Kehren sein.«
»Ist sie nicht, sonst wäre sie doch hier!«, stöhnte Humbert und hatte die Klinke schon in der Hand.
»Zu spät«, sagte Christian, der aus dem Fenster schaute. »Da stehen sie beieinander.«
Alle liefen zu den Küchenfenstern, um das Zusammentreffen mit anzusehen, das Humbert so lange verhindert hatte. Tatsächlich, da war dieser Russe und redete auf die arme Hanna ein. Ihr Gesicht konnten sie nicht sehen, weil sie mit dem Rücken zur Hauswand stand. Grigorijs zärtliches Lächeln und seine Gesten allerdings ließen kaum Zweifel an dem, was er seiner
Channa
soeben erzählte.
»Ich bring ihn um!«, stöhnte Humbert in heller Verzweiflung. »Der macht meine Hanna kein zweites Mal unglücklich.«
»Hier bleibst du!«, befahl Fanny Brunnenmayer. »Christian, halt ihn fest!«
Tumult brach in der sonst so friedlichen Küche aus. Christian schaffte es nicht, Humbert an der Jacke zu packen, um ihn aufzuhalten. Bevor er nach draußen verschwand, war zum Glück Fanny Brunnenmayer zur Stelle, riss ihn von der Tür fort und stellte sich davor
.
»Bist narrisch geworden, Humbert?«, keuchte sie schwer atmend. »Was glaubst wohl, wie glücklich die Hanna sein wird, wenn du im Zuchthaus sitzt und der Grigorij auf dem Friedhof liegt?«
»Lasst mich! Ich halt das nicht aus!«, schrie Humbert verzweifelt und stürzte zum Gesindegang, um von dort aus durch die Halle nach draußen zu laufen. Auguste, die Angst um den Russen hatte, erwischte Humbert gerade noch am Ärmel, Dörthe und Else kamen ihr zu Hilfe. Humbert wehrte sich mit Händen und Füßen, aber gegen Dörthes harten Griff war er machtlos. Den Rücken gegen die Küchenwand gelehnt, stand er still, atmete schwer und schaute mit irrem Blick in die Runde.
»Allweil das Theater«, schimpfte Fanny Brunnenmayer. »Glaubst wirklich, du könntest die Hanna auf Dauer vor dem Grigorij verstecken? Komm endlich zur Besinnung. Sie ist eine erwachsene Frau und kein Kind und muss selber wissen, was sie tut.«
»Das sehe ich genauso«, ließ sich Christian zur Verwunderung aller mit einem Mal vernehmen. »Entschuldige, Humbert, das musste ich dir mal sagen.«
»Da hat die Fanny Brunnenmayer gewiss recht«, stimmte selbst die zurückhaltende Else zu. »Lass die beiden mal miteinander reden, was soll da Schlimmes passieren?«
Zum Schrecken der Umstehenden kam mit einem Mal wieder Leben in Humbert. Erst sah er wild um sich, als wäre er von Feinden umgeben, dann drehte er sich um und schlüpfte an Dörthe vorbei in den Gesindegang.
»Christian!«, rief Fanny Brunnenmayer entsetzt. »Lauf in die Halle, und schneid ihm den Weg ab!«
Doch die Sorge der Köchin war grundlos. Humbert tauchte nicht mehr auf, er war hinauf in seine Kammer gelaufen, um sich dort einzuriegeln
.
»So ein verrückter Kerl!« Die Köchin wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von Stirn und Wangen. »Jessus, meine Hühnersuppe ist bestimmt derweilen verkocht.«
Hastig zog sie den Topf von der Mitte des Herdes an den Rand und rührte die Suppe vorsichtig durch. Auguste hätte eigentlich heimgehen können, da sich niemand mehr um sie kümmerte, aber sie blieb beim Fenster stehen und schaute neugierig in den Hof. Leider war dort nichts Aufregendes mehr zu sehen. Grigorij war verschwunden, und Hanna hatte ihren Besen wieder aufgenommen, um die letzten Stufen zu kehren. Sie machte es sehr langsam und gründlich, kratzte an jedem Flecken herum und beförderte den Schmutz mit Kehrblech und Handfeger in einen Eimer, den sie in der Abfalltonne ausleerte.
Als sie in die Küche kam, herrschte gespannte Stille. Fanny Brunnenmayer schnitt Brot, das zur Hühnersuppe heute Mittag gereicht wurde, Dörthe hatte ihren Platz neben dem Herd wieder eingenommen, Else wurde zu ihrem Ärger von der gnädigen Frau Alicia nach oben gerufen und stieg die Gesindetreppe hinauf.
»Wisst ihr, wer gerade eben im Hof gewesen ist?«, fragte Hanna mit harmlosem Lächeln, während sie die Schürze abband.
»Blind sind wir nicht«, antwortete Fanny Brunnenmayer.
»Ach, ihr habt ihn auch gesehen? Ja, Grigorij war hier. Er arbeitet in der Nähe, deshalb kam er vorbei, um nach mir zu fragen.«
»Tatsächlich?«, sagte die Köchin. »Und was hat er erzählt?«
»Vieles. Von Russland und dass er in der Fabrik vom gnädigen Herrn gearbeitet hat. Und dass er fleißig sein will, damit er es zu etwas bringt.
«
»Und sonst hat er nichts gesagt?«, erkundigte sich Auguste, die vor Neugier verging.
Hanna stand am Waschbecken und seifte sich die Hände ein, ließ Wasser darüberlaufen und schaute verträumt auf die blau-weißen Wandkacheln.
»Er hat gesagt, dass er mich immer noch liebt«, berichtete sie schließlich mit Rührung in der Stimme. »Stellt euch das vor. Nach so vielen Jahren …«
Auguste schwieg eifersüchtig. Dörthe schnaubte in ihr Taschentuch, Christian schaute mit traurigen Augen aus dem Fenster.
»Geh, zieh dich um, Hanna«, sagte Fanny Brunnenmayer in strengem Ton. »Du wirst nämlich das Mittagsmahl servieren müssen. Humbert ist unpässlich.«
»Ach Gott«, rief Hanna erschrocken. »Was ist denn mit ihm? Vor Kurzem war er ja noch ganz gesund?«
Nein, diese Hanna! Sie war ein liebes Mädel, im Kopf bloß nicht besonders schnell.
Auguste konnte ihren Mund nicht halten. »Glaubst vielleicht, der Humbert freut sich, wenn du draußen stehst und mit dem Russen herumpoussierst?«
Hanna starrte sie mit großen Augen an und ließ das Handtuch fallen. »Ach, der dumme, dumme Kerl!«, rief sie bestürzt und lief in den Gesindegang. Die Rufe der Köchin, sie solle gefälligst dableiben, hörte sie vor Aufregung nicht mehr.
»Bravo, Auguste!«, schimpfte Fanny Brunnenmayer. »Jetzt sind sie alle beide davon. Und oben wartet die Herrschaft aufs Mittagessen!«
»Mich geht’s nichts mehr an«, gab Auguste hämisch zurück. »Vielleicht will Dörthe ja servieren?« Damit griff sie ihren Umhang und machte sich davon.