31
P aul stand hastig von seinem Schreibtisch auf, um das Fenster aufzureißen. Wie stickig es in seinem kleinen Büro war! So eng und mit Akten vollgestopft, dass man kaum Luft bekam. Er stützte die Hände aufs Fensterbrett und atmete tief durch, schaute hinaus in den sonnenbeschienenen Park, wo die ersten weißen und lilafarbenen Krokusse aus den Wiesen hervorkamen. Es war Mitte März, der Frühling war nicht mehr weit, und an Tagen wie diesem konnte man schon die erwachende Erde riechen. Dies war sein Park, den er geerbt hatte. Sein Haus. Seine Fabrik. Der Vater hatte ihm viel Vertrauen geschenkt. Gebe Gott, dass er sich dessen würdig erweisen würde.
Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich, ein Gespräch mit seinem toten Vater führen zu können. Um seinen Rat zu erbitten. Er war ein starker Mann gewesen. Was immer er unternommen hatte, er war felsenfest davon überzeugt gewesen, das Richtige zu tun. Paul hatte jahrelang geglaubt, diese Selbstsicherheit sei vom Vater auf ihn übergegangen, doch in der jetzigen schlimmen Lage wusste er nicht mehr, ob sein Handeln richtig oder falsch gewesen war. Die Verantwortung lastete wie ein Mühlstein auf seinen Schultern. Ringsum mussten Firmen und Fabriken schließen, einst wohlhabende Augsburger Familien hatten alles verloren und waren in Not geraten – die Sorge, ihnen könnte dieses Schicksal ebenfalls bevorstehen, geisterte wie ein Gespenst durch seine Nächte .
Es war Marie, seine Liebste und einzige Vertraute, die ihm schließlich einen entscheidenden Rat gegeben hatte. Lange hatte er sich dagegen gewehrt. Es war nicht angenehm, sich ganz und gar offenbaren zu müssen, der Vater hätte so etwas niemals getan. Aber seine Liebste hatte gesagt, die Zeiten der Patriarchen, die alle Verantwortung für sich allein beanspruchten, seien vorüber.
»Es geht um die Familie, Paul. Um uns alle. Ich bin sicher, es wird für dich leichter sein, wenn sämtliche Betroffenen über unsere Lage Bescheid wissen. Und wer weiß? Vielleicht finden wir ja gemeinsam eine Lösung.«
Obgleich er nicht daran glaubte, hatte er schließlich nachgegeben und für diesen Nachmittag einen Familienrat anberaumt. In einem Punkt hatte Marie gewiss recht: Falls es das Schicksal wollte und es zur Katastrophe kam, sollte die Familie nicht davon überrascht werden. Alle sollten vorbereitet sein.
Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass es Zeit war, hinüber ins Speisezimmer zu gehen, wo das Treffen stattfinden würde. Sorgfältig schloss er das Fenster, bei dem das Holz der Rahmen aufgequollen war und der weiße Anstrich abblätterte. Renovierungen, die längst fällig waren, die er jedoch nicht in Auftrag geben konnte, weil das Geld fehlte.
Ein letztes Mal überflog er das Konzept, das er für dieses Treffen ausgearbeitet hatte, und verließ das Büro. Jetzt kam es darauf an, die rechten Worte zu finden, wobei er auf Maries Unterstützung hoffte.
Im Speisezimmer war der Kaffeetisch gedeckt, eine Platte mit frischem Kirschkuchen stand bereit, dazu Schlagrahm in einer Schale aus Bleikristall. Ein Sonnenstrahl drang durch das Fenster und brach sich vielfarbig an dem geschliffenen Glas. Paul empfand das gleißende Funkeln wie einen Schmerz und musste für einen Moment die Augen schließen.
»Wünschen die Herrschaften zusätzlich Tee?«, erkundigte sich Humbert.
»Nein. Du kannst dich zurückziehen, wir benötigen keine Bedienung«, gab Paul zurück.
»Sehr wohl, gnädiger Herr.«
Täuschte er sich, oder war Humbert in letzter Zeit ungewöhnlich blass? Und warum waren seine sonst so sicheren, eleganten Bewegungen heute eckig?
»Humbert?« Der Hausdiener kehrte um und sah Paul erwartungsvoll an. »Du bist doch nicht etwa krank?«
»Nein, gnädiger Herr, nein. Ich schlafe derzeit schlecht in der Nacht, das liegt gewiss am Vollmond.«
»Ach so.« Paul lächelte erleichtert. »Mag durchaus sein, mir geht es genauso.«
Als Humbert weg war, erschien Marie. Sie legte die Arme um ihren Mann und küsste ihn. »Nur Mut«, flüsterte sie. »Wir stehen das durch, Liebster.«
Ihre Anwesenheit tat ihm wohl. Dass sie seit der Schließung ihres Ateliers mehr Zeit für ihn hatte und ihm zur Seite stand, war eine große Hilfe.
»Hast du den Kuchen und Schlagrahm bestellt?«, wollte er wissen.
»Bestimmt nicht«, lächelte sie. »Das muss Lisa gewesen sein.«
In diesem Augenblick kam Sebastian herein und setzte sich auf seinen Platz.
»Lisa kommt sofort, sie will Hanno rasch noch frische Strümpfe anziehen. Auf dem Spielplatz sind leider viele Pfützen.«
Paul räusperte sich und nahm am Kopfende des Tisches Platz, wo für gewöhnlich seine Mutter saß. Das Gedeck schob er beiseite, dieses Familientreffen würde kein Kaffeekränzchen werden, wie Lisa es sich offenbar vorgestellt hatte.
»Kitty wird natürlich wieder zu spät kommen«, seufzte er kopfschüttelnd. »Meine kleine Schwester hat es noch nie geschafft, pünktlich zu erscheinen.«
Stattdessen tauchte Lisa schnaufend vor Ärger auf. »Stellt euch vor: Gerti hat sich einfach für einen ganzen Nachmittag frei genommen! Was sind das für Verhältnisse? Früher haben die Angestellten höflich angefragt, ob sie Ausgang bekommen – heute bleiben sie einfach weg.«
Marie meinte sanft, dass zum Glück ja Hanna und Rosa zur Verfügung stünden, was Lisa keineswegs gelten ließ. Abgesehen von den Freiheiten, die sie sich herausnehme, sei Gerti unverschämt, gebe Widerworte und zeige Launen.
»Gestern sagte sie tatsächlich zu mir, dass sie Charlotte nicht wickeln wolle, sie sei als Kammerzofe und nicht als Kindermädchen angestellt. Was sagt ihr dazu?«
»Da hat sie vollkommen recht«, meinte Paul kurz angebunden, denn Lisas Geschwätz ging ihm auf die Nerven.
Zu seiner Erleichterung drang jetzt Kittys helle, fröhliche Stimme aus der Halle herauf, man würde endlich vollzählig sein und die Angelegenheit hinter sich bringen.
»Wo ist Mama?«, erkundigte sich Marie leise bei Lisa.
Noch immer beleidigt, zuckte sie die Schultern. »Sie war mit Rosa und den Kindern im Park und hat sich ein wenig hingelegt. Was ist eigentlich los?«
Kittys lautes Eintreten verhinderte die Antwort. Wie üblich war sie mitten im Satz, unterbrach sich aber, um Paul, Marie und Lisa zu umarmen, erzählte aufgeregt, dass die arme Tilly leider nicht habe mitkommen können, weil sie heute ganz und gar als Ärztin in Anspruch genommen sei.
»Sie arbeitet rastlos vom Morgen bis zum Abend, ich habe sie mehrfach gewarnt, dass sie am Ende selber krank wird. Ich kann mir den Mund fusselig reden, sie hört einfach nicht auf mich … Ist der Kirschkuchen mit Hefeteig? Den bekommt allein unsere Brunni so locker und flockig hin, bei Gertrude wird er immer so pappig.«
Kitty hatte Robert mitgebracht, was Paul eigentlich nicht recht war, andererseits war er derjenige, der die Lage am schnellsten erfassen würde und möglicherweise einen Rat geben konnte.
»Setzt euch, bitte«, forderte Paul alle auf. »Ich habe euch zusammengerufen, um mit euch über unsere momentane schwierige Lage zu sprechen … Lisa, ich wäre dir dankbar, wenn wir das Kaffeetrinken auf später verschieben könnten.«
Seine Schwester hatte schon die Kaffeekanne in der Hand und sah empört in die Runde.
»Unsere schwierige Lage … Na schön, Paul. Dabei kann man durchaus Kaffee trinken und Kuchen essen, oder nicht?«
Paul bekam Schützenhilfe von seinem Schwager Sebastian, der seiner Frau sanft die Hand auf den Arm legte. »Sei so lieb, mein Schatz, und tu, was dein Bruder sagt.«
Mit einem tiefen, ärgerlichen Seufzer stellte Lisa die Kanne zurück auf das Stövchen.
»Also gut, dann reden wir eben über unsere Lage. Aber bitte nicht so ausufernd!«
Paul verspürte wie neuerdings häufig ein unangenehmes Ziehen in der Brust und setzte sich im Stuhl ganz gerade hin, weil sich der Schmerz meist einstellte, wenn er den Rücken anlehnte. Dann räusperte er sich und begann zu sprechen.
»Um es kurz und verständlich zu machen: Ich stehe vor der Frage, ob wir uns weiterhin dieses Gebäude leisten können oder ob es besser wäre, die Tuchvilla zu verkaufen …«
Schweigen in der Runde. Lisa starrte ihn mit großen, ungläubigen Augen an, Kitty schüttelte entsetzt den Kopf. Sebastian und Robert blickten verständnisvoll zu Paul hinüber – er begriff, dass beide weit mehr über seine finanziellen Probleme wussten, als er geahnt hatte.
Langsam und um Verständlichkeit bemüht, erklärte er, wie es so weit hatte kommen können. Da waren die Kredite, die in ihrer Gesamtheit plus Zinsen zurückzuzahlen waren, die schlechte Auftragslage in der Fabrik, die hohen Kosten nicht zuletzt für die Haushaltsführung und das Personal der Tuchvilla. Durch den Verkauf der Häuser hatte er zwar den Kredit, der auf der Fabrik lastete, zurückzahlen können, doch der Rest, den er zurückbehalten hatte, schwand rasch dahin.
»In der Fabrik arbeitet inzwischen lediglich die Weberei noch, und auch dort produzieren wir auf Halde. Trotz Entlassungen und Kurzarbeit schreiben wir rote Zahlen, die Unterhaltskosten und die Löhne gehen von den Rücklagen ab, die fast verbraucht sind. Wie es momentan aussieht, werde ich den Lohn für den laufenden Monat zur Not zahlen können, dann wird es eng, falls sich keine entscheidende Besserung einstellt.«
»Wir sparen ja bereits, wo wir können«, ließ sich Lisa beklommen vernehmen.
Paul hatte nicht die Kraft, ihr zu antworten, dafür sprang überraschend Kitty ein. »Das reicht nicht, Schätzchen. Hast du es nicht gehört: Auf der Tuchvilla liegt ein fetter Kredit, der an die Bank auf einen Schlag zurückbezahlt werden muss, und Paul verdient momentan mit der Fabrik keine müde Reichsmark. Auf die Dauer kann das nicht gut gehen, nicht wahr, Robert? «
Ihr Mann nickte mit ernster Miene. »Ich würde dir gern helfen, Paul. Nur schaut es im Moment finanziell bei mir ebenfalls nicht gut aus. Meine amerikanischen Aktien sind im Keller, ich halte sie, ohne dass sie etwas abwerfen. Mit anderen Investitionen schaut es ähnlich düster aus.«
»Ach du lieber Gott«, warf Kitty ein. »Das hast du mir noch gar nicht erzählt. Wie gut, dass ich das auch einmal erfahre.«
»Es scheint die Stunde der Wahrheit zu sein«, sagte Robert mit grimmigem Lächeln und legte den Arm um seine Frau.
»Ein Glück, dass sich meine Bilder verkaufen«, seufzte Kitty. »Mach dir keine Sorgen, Liebling. Wir werden bestimmt nicht verhungern.«
Lisa entschloss sich, trotz des Verbots ihres Bruders zur Kaffeekanne zu greifen, weil sie auf diesen Schrecken etwas Belebendes zu sich nehmen musste. »Wenn ich das geahnt hätte, Paul«, jammerte sie, »dann hätte ich Tante Elvira noch einmal geschrieben wegen des Geldes. Ich setze mich gleich an den Schreibtisch …«
»Es hat wenig Zweck, Lisa.« Paul schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, auch sie hat keine flüssigen Mittel zur Verfügung. Trotzdem danke ich dir für deine Bereitschaft.«
Sebastian, der bisher geschwiegen hatte, ergriff nun das Wort und erklärte, dass er Pauls Entscheidung, das Geld für den Verkauf der Häuser in die Fabrik zu investieren, für völlig richtig halte. Die Fabrik sei nun mal die Lebensgrundlage nicht allein für die Familie, sondern auch für viele der Arbeiter.
»Aber die Tuchvilla kannst du nicht verkaufen, Paul«, mischte sich Kitty aufgeregt ein. »Wo wollt ihr dann wohnen? Und außerdem hat Mama lebenslanges Wohnrecht. Willst du sie etwa mit dem Haus verkaufen? «
Marie warf ein, dass man in diesem Fall mit ihr in aller Ruhe sprechen müsse. »So weit sind wir zum Glück bislang nicht, meine Lieben. Noch glauben wir fest daran, dass wir die Tuchvilla halten können. Sofern wir uns etwas einfallen lassen.«
Sebastian schlug vor, einen Teil des Parks zu verkaufen, worüber Paul selbst nachgedacht hatte, leider war kein vernünftiges Angebot gekommen.
»Herr Grünling wollte mir für den gesamten Besitz zweitausend Reichsmark geben.«
»Dieser Aasgeier!«, platzte Kitty heraus und wandte sich an Lisa. »Neulich sah ich deine liebe Freundin Serafina in einem nagelneuen Mercedes-Benz mit Chauffeur. Sie trug einen komplett unmöglichen Hut.«
»Sie ist nicht mehr meine Freundin«, regte sich Lisa auf.
»Ach? Seit wann? Hast du nicht immer mit ihr Tee getrunken?«
»Bitte nicht streiten«, bat Marie und fasste Kitty an der Hand. »Lasst uns lieber gemeinsam überlegen, was wir tun können.«
»Erst mal brauche ich ein Stück Kuchen«, entschied Lisa. »Wenn er trocken wird, ist niemandem damit geholfen. Ach Gott, Sebastian, Liebster. Wo sollen wir hin mit unseren drei süßen Schätzchen? Es ist alles meine Schuld, Paul. Dieser dumme Anbau hat uns ruiniert.«
Marie beeilte sich, ihr zu versichern, dass das nicht wahr sei. Was den Tatsachen entsprach. Als man den Kredit aufnahm, hatte es noch keine Wirtschaftskrise gegeben, die Fabrik arbeitete auf Hochtouren, und man hätte die monatlichen Belastungen leicht ertragen können. Lisa gab sich, halb beruhigt, dem Kuchen hin, Kitty machte den Vorschlag, einige Möbel aus der Tuchvilla zu verkaufen und das Personal auf das Notwendigste zu reduzieren .
»Richtig«, sagte Lisa. »Zuerst werde ich Gerti entlassen.«
Im Gegensatz zu ihr weigerten sich Paul und Marie energisch, weitere Entlassungen vorzunehmen. Stattdessen schlug Marie vor, das Haus, in dem sich ihr Atelier befunden hatte, jetzt ebenfalls zu verkaufen.
»Die Preise sind gesunken, Marie«, erklärte Paul. »Wir kriegen kaum was dafür und würden das Haus sinnlos verschleudern.«
Was er nicht hinzufügte, war der Gedanke, dass dieses Haus ihnen als Wohnung dienen konnte, falls es zum Verkauf der Tuchvilla kam. Wenn sie sich sehr einschränkten, würden sie sogar Lisa und ihre Familie unterbringen können, denn die alten Leute, die dort zur Miete gewohnt hatten, waren vor einiger Zeit verstorben.
»Dann ist die Sache ja ganz einfach, Paul«, scherzte Kitty in ihrer manchmal taktlosen Art. »Du verkaufst den Park und das Atelier, dazu das gesamte Mobiliar der Tuchvilla und was sonst noch von Wert ist. Zudem entlässt du alle Angestellten und vermietest den Anbau. So kannst du wenigstens die Tuchvilla retten.«
»Danke für diesen großartigen, ziemlich unsozialen Vorschlag, der hoffentlich nicht dein Ernst ist.«
Paul sah Marie resigniert an. Genauso hatte er sich diese Zusammenkunft vorgestellt. Man hatte die Pferde scheu gemacht, Panik verbreitet und nach Schuldzuweisungen gesucht. Er hätte diesen Nachmittag besser in der Fabrik verbracht.
»Ich weiß leider genauso wenig eine Lösung, Paul«, sagte Robert. »Es sei denn, ich kann bei deiner Bank eine Stundung für die Rückzahlung des Kredits erreichen.«
Das war der erste und einzige hilfreiche Vorschlag, für den Paul dankbar war. Er schüttelte seinem Schwager die Hand, nickte den anderen zu und erklärte, dass man jetzt in Ruhe Kaffee trinken und Kuchen essen dürfe, er selbst habe drüben in der Fabrik zu tun.
Marie begleitete ihn in die Halle und umarmte ihn zärtlich, als er in Mantel und Hut an der Tür stand.
»Das war immerhin ein kleiner Erfolg, findest du nicht? Wenn es in der Fabrik wieder besser laufen würde … Sagtest du nicht, es sei ein Auftrag hereingekommen?«
»Gestern rief jemand an, sicher ist die Sache allerdings nicht, solange nicht feststeht, ob sie wirklich zahlen können.«
»Irgendwann muss sich das Blatt wenden, Paul. Soll ich später mit Mama sprechen?«
»Nein, das werde ich selbst tun, Marie. Es führt kein Weg daran vorbei, auch sie muss der Realität ins Auge sehen.«
»Bis später, Liebster.«
Heute fiel es ihm besonders schwer, Marie in der Tuchvilla zurückzulassen und hinüber in die Fabrik zu gehen. Er empfand es als Schwäche und schämte sich dafür. Mit schnellen Schritten eilte er die Allee entlang zum Tor, zog den Hut tiefer in die Stirn und stemmte sich gegen den kalten Wind, der ihm auf der Haagstraße entgegenwehte. Der alte Gruber, der nach wie vor seinen Dienst an der Pforte versah, während der jüngere Kollege kurz vor Weihnachten entlassen worden war, hatte eine Neuigkeit für ihn.
»Grüß Gott, Herr Direktor. Haben Sie schon gehört? MAN hat wieder zweihundert Leute entlassen. Alles Arbeiter, die über fünfundzwanzig Jahre im Betrieb beschäftigt waren.«
Paul nickte, er hatte es bereits in der Zeitung gelesen. Überall das Gleiche: Entlassungen, Kurzarbeit, Firmenpleiten. Meist traf es zuerst die jungen Leute und die Frauen, nun waren es bei MAN die altgedienten Mitarbeiter. Ein böses Zeichen.
»Die Hauptsache ist, dass Sie am Tor weiter Ihren Dienst tun, Herr Gruber.«
»Ich mach hier meine Arbeit, bis ich tot umfalle, Herr Direktor. Und danach sitz ich oben auf der Wolke und pass auf, dass mein Nachfolger keinen Mist baut.«
Paul nickte ihm schmunzelnd zu und ging über den Hof zum Verwaltungsbau. Es war beängstigend ruhig, lediglich in der Weberei wurde gearbeitet, gerade mal noch drei Tage in der Woche. Alles andere lag still. Dabei hatte er kurz vor der Krise mehrere neue Webstühle für teures Geld angeschafft, eine komplette Fehlinvestition. Inzwischen hatten sich in Augsburg wie anderswo kleine Betriebe etabliert, die als Hausgewerbe Stoffe webten und sich weder an Lohntarife noch an feste Arbeitszeiten halten mussten. Sie waren billiger als die großen Fabriken und damit eine ernst zu nehmende Konkurrenz. Etliche seiner ehemaligen Arbeiter hatten dort eine Beschäftigung gefunden, lebten jedoch weiterhin in den fabrikeigenen Wohnhäusern. Auf seine Kosten, denn sie zahlten eine geringe oder gar keine Miete.
In der Buchhaltung war ein einziger Angestellter übrig geblieben, der fast sechzigjährige Karl Stollhammer, der in diesem Jahr sein vierzigstes Dienstjubiläum feiern konnte. Er saß im Mantel da, weil nicht mehr geheizt wurde. Paul trat kurz ein, um ein paar belanglose Worte mit ihm zu wechseln.
»Wird Frühling, Herr Direktor«, sagte er. »Ich spür’s in allen Knochen.«
»Sie haben recht«, meinte Paul. »Mir geht’s genauso.«
Was nicht stimmte. Bei ihm waren es eher das Ziehen in der Brust und eine unangenehme Kurzatmigkeit, die ihm zu schaffen machten. Während er die letzte Treppe zu den Büroräumen hinaufstieg, musste er zweimal stehen bleiben, weil sein Herz seltsame Sprünge machte. Zu wenig Bewegung, dachte er. Immerhin saß er tagein, tagaus im Büro herum, Marie hatte recht, sie sollten sich eine Auszeit gönnen. Später, wenn es wieder bergauf ging …
Im Büro empfing ihn Henriette Hoffmann mit ungewohnt heiterer Miene, nahm ihm rasch Mantel und Hut ab und erklärte, er müsse sofort Keller & Weingart anrufen, es handele sich um einen größeren Auftrag.
»Na wunderbar«, meinte er mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Haben Sie die Mahnungen rausgeschickt?«
»Das hat Frau Lüders gestern erledigt, Herr Direktor.«
Die beiden Sekretärinnen teilten sich inzwischen eine Stelle, man hatte sich darauf geeinigt, damit er keine seiner langjährigen Mitarbeiterinnen entlassen musste.
Auf seinem Schreibtisch lag die geöffnete Morgenpost, mehrere Absagen auf seine Angebote, unzählige Bewerbungen, die er gar nicht erst angeschaut hatte, und verschiedene Rechnungen für kleine Reparaturen. Direktor Mühlstein von Keller & Weingart hatte ihn gestern bereits angerufen, angeblich waren sie an einer größeren Menge von Baumwollgarn interessiert, für das sie Abnehmer in Österreich hatten. Paul hatte einen sehr günstigen Preis genannt, fürchtete aber, dass die Konkurrenz ihn längst unterboten hatte. Vermutlich wollte Mühlstein mit ihm über eine Preissenkung verhandeln, die nicht mal die Herstellungskosten decken würde, doch da er noch jede Menge Garne auf Lager hatte, war es besser, billig zu verkaufen, als gar keine Einnahmen zu haben.
»Herr Direktor Melzer aus Augsburg?«, sagte die Sekretärin von Keller & Weingart am anderen Ende der Leitung. »Einen Moment bitte. Ich verbinde. «
»Mein lieber Melzer«, grüßte ihn Mühlstein in gewohnt jovialer Weise. »Gut, dass Sie sich melden, ich hätte sonst noch einmal angerufen. Wie geht’s in Augsburg? Trübe Zeiten, wie? Was macht die Familie? Ihre liebe Frau Gemahlin? Ist Ihre Frau Mutter gesund? Das freut mich, meine Verehrung für sie und meine herzlichsten Grüße.«
Paul kannte Mühlstein von früher, als er mit seinem Vater Geschäfte gemacht hatte. Man musste auf der Hut sein. Er war kein übler Kerl, gleichzeitig indes ein ausgekochter Geschäftsmann.
»Alles bestens, lieber Mühlstein. Bis auf die wirtschaftliche Lage, die sich hoffentlich bald bessern wird. Irgendwann muss es ja wieder bergauf gehen.«
Er schwatzte allerlei Unsinn daher, um seinen Gesprächspartner bei Laune zu halten.
»Ich habe da eine etwas kniffelige Sache für Sie, lieber Melzer. Feines Nähgarn, beste Qualität. Kriegt man nicht überall … Jedenfalls wäre ich bei Ihnen an der richtigen Adresse. Die Baumwolle kann ich auch liefern, mache Ihnen einen guten Preis.«
Feines Nähgarn. Das hatten sie früher hergestellt, nicht in größeren Mengen, sondern als Dienstleistung für gute Kunden, die das Garn passend zum Stoff haben wollten.
»Das lässt sich machen«, meinte er vorsichtig. »Es kommt auf die Menge und den Preis an …«
»Ist, wie gesagt, ein größerer Auftrag. Insgesamt eine Tonne feines Nähgarn, moosgrün. Weitere Aufträge können folgen. Hat es Ihnen die Sprache verschlagen, mein Bester?«
Tatsächlich fehlten Paul die Worte. In seinem Kopf bewegten sich Zahlen wie in einer Rechenmaschine. Wenn der Preis einigermaßen annehmbar war, könnte dieser Auftrag die Fabrik für die kommenden Monate am Leben halten .
»Drei pro Rolle? Zu wenig. Fünf. Dreieinhalb? Ich muss noch heizen, das schlägt auf die Kosten. Vier muss ich haben. Die Baumwolle brauche ich nicht, hab selber noch welche auf Lager …«
Mühlstein blieb hart wegen der Baumwolle, pochte auf die gute Qualität – Paul musste in den sauren Apfel beißen und das Zeug von ihm kaufen. Vermutlich hätte er die Baumwolle anderswo günstiger bekommen, größere Vorräte hatte er nicht mehr. Das zu behaupten, war eine Geschäftstaktik gewesen.
»In Ordnung. Vier. Und Sie schicken mir die Baumwolle. Frachtkosten übernimmt Keller & Weingart.«
Nach einigem Jammern willigte Mühlstein ein, und die beiden einigten sich auf den Liefertermin. In drei Monaten, das war zu schaffen.
»Ich schicke morgen den Vertrag, lieber Melzer. Sie können die Produktion schon mal anlaufen lassen. Wie gesagt. Moosgrün. Die Muster, die mir vorliegen, gelten noch, oder?«
»Natürlich.«
»Dann meine herzlichsten Grüße an die Familie. Ihre charmante Ehefrau. Die Kinder. Und an meine liebe Alicia Melzer ganz besonders.«
Paul gab die Grüße zurück, legte auf und verharrte einen Moment lang reglos am Schreibtisch. Sein Herz machte gerade wieder einen merkwürdigen Sprung, wahrscheinlich bedingt durch die Aufregung. Feines Nähgarn! Dafür gab es zwei Ringspinner, die Jacob Burkard, Maries Vater, konzipiert hatte. Die verdammten Amis hatten sie nach Kriegsende gestohlen, deswegen hatte er sie nach den alten Plänen nachbauen lassen. Leider standen sie momentan still wie alle anderen Maschinen in der Spinnerei. Er musste umgehend dafür sorgen, dass sich das änderte. Sobald sein Herz wieder regelmäßig schlug, sprang er auf und rannte ins Vorzimmer.
»Verständigen Sie Josef Mittermaier, Fräulein Hoffmann. Er soll in die Fabrik kommen, wir müssen die Ringspinner in Betrieb setzen. Falls er kein Telefon hat, schicken Sie jemanden hin, um ihn zu holen.«
Henriette Hoffmann bekam hektische rote Flecken auf den blassen Wangen, sie wusste, was diese Anweisung bedeutete. »Ein Auftrag, Herr Direktor?«
»Es sieht ganz so aus, Fräulein Hoffmann.«
Paul nahm den Schlüssel zur Spinnerei vom Haken, warf den Mantel über und lief die Treppen hinunter. Marie hatte wieder einmal recht gehabt, das Blatt wendete sich. Wenn er anständiges Garn lieferte, woran er keinen Zweifel hatte, würden hoffentlich weitere Aufträge folgen. Ausgerechnet mit der Spinnerei kam er wieder ins Geschäft, die er längst abgeschrieben hatte.
In der Halle war es eiskalt, ein stickiger Geruch hing in dem Raum, nach abgestandenem Öl, Staub, moderndem Holz. Natürlich: Oben im Scheddach war eine Scheibe undicht, es war Schmelzwasser eingedrungen und auf den Fußboden getropft. Morgen würde er jemanden beauftragen, die Pfütze zu beseitigen und die Dachreparatur zu veranlassen.
Er ging hinüber zu den beiden Ringspinnern und zog die graue Stoffabdeckung herunter, die die Maschinen vor Staub und Feuchtigkeit schützte. Man würde sie zunächst ölen müssen und dann einen Probedurchlauf machen. Ein Rest Baumwolle war noch vorhanden, das reichte für einige hundert Garnrollen.
Mittermaier erschien früher als erwartet, er trug seinen alten Arbeitsanzug, den er mit nach Hause genommen hatte. »Wer hätte das gedacht, Herr Direktor?«, sagte er und schüttelte Paul die Hand. »Was für eine Freude, meine beiden alten Mädchen wieder laufen zu lassen. Na, dann wollen wir mal!«
Paul sah zu, wie er liebevoll mit einem weichen Tuch an der ersten Maschine herumwischte, die Ölkanne ansetzte, vorsichtig nachfüllte und schließlich zufrieden nickte.
»Strom ab!«
Paul bediente den Schalter – es tat sich nichts.
»Strom aus!«
Mittermaier murmelte unverständliche Worte vor sich hin, kratzte sich hinter dem Ohr und machte sich an die Überprüfung. Paul beteiligte sich daran, sie besprachen das Problem, probierten dieses und jenes, stellten mehrfach den Strom an und mussten ihn wieder ausschalten.
»Sie will nicht«, schimpfte Mittermaier. »Alte Mistkrücke! Versuchen wir es bei der anderen, die war sowieso immer die Flottere von beiden. Können Sie eine Lampe holen?«
Gemeinsam werkelten sie mehrere Stunden, ölten, wischten, schliffen, fluchten, diskutierten, stritten sogar am Ende. Keine der beiden Maschinen war bereit, die Arbeit wieder aufzunehmen.
»Sie sind beleidigt, die Weiber. Wir haben sie stillgelegt, das nehmen sie uns übel. Wie das so ist mit den Frauen: Erzählst du ihr nicht jeden Tag, wie wunderbar sie ist, dann muckt sie herum und kocht dir einen Schlangenfraß.«
Paul hörte kaum zu. Er fühlte sich unendlich müde und enttäuscht, zugleich erfüllte ihn eine große Unruhe. Was sollte er tun, wenn sie die Maschinen nicht mehr in Gang brachten? Eigentlich konnte das nicht sein, sie hatten einwandfrei gearbeitet, bevor man sie abgeschaltet hatte .
»Lassen Sie’s für heute gut sein, Mittermaier. Es ist mittlerweile nach neun. Wir machen morgen weiter.«
Josef Mittermaier nickte verdrossen. Es ging gegen seine Ehre als Spinnereimeister, dass ihm seine Mädchen nicht gehorchen wollten. Er stülpte die Mütze auf und wischte sich das Öl von den Händen.
»Morgen um zehn«, sagte er. »Das wär ja gelacht. Ist vermutlich eine Rolle am Streckwerk verrostet. Müssen wir ausbauen. Kleinigkeit.«
»Das denke ich auch. Danke für Ihren Einsatz, Mittermaier. Ich werde Sie natürlich dafür bezahlen.«
»Können wir brauchen, Herr Direktor.«
Pförtner Gruber war sogar um diese späte Stunde noch auf dem Posten. Er kam mit einer alten Petroleumlaterne gelaufen und öffnete ihnen das Fabriktor. Paul folgte der Bewegung des Lichts mit den Augen und hatte plötzlich das Gefühl zu schwanken, musste sich an dem schmiedeeisernen Torflügel festhalten.
»Lohnt nicht, die Hofbeleuchtung einzuschalten, Herr Direktor. Kostet unnötig Strom. Gute Nacht, die Herren. Bis morgen in alter Frische. Herr Direktor? Um Gottes willen!«
Der Schmerz überfiel Paul urplötzlich, krampfte ihm brutal die Brust zusammen, ließ sein Herz rasen, nahm ihm den Atem. Als er glaubte, diese unerträgliche Pein nicht länger ertragen zu können, erlöste ihn eine mildtätige Ohnmacht.