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L
eo hatte der Versuchung widerstanden, an der neuen Komposition weiterzuarbeiten. Stattdessen hatte er die griechischen Vokabeln wiederholt und seine Schulsachen für den nächsten Tag gepackt. Nun lag er im Bett und las einige Seiten in dem Buch, das er zu Weihnachten bekommen hatte. Es fiel ihm schwer, er musste manche Absätze zweimal lesen, um den Sinn zu begreifen, weil die unnützen Klänge in seinem Kopf ihn störten.
Als er sich endlich entschloss, das Buch wegzulegen und die Nachttischlampe auszuschalten, vernahm er plötzlich leise, aufgeregte Stimmen. Er setzte sich im Bett auf und lauschte: Es kam aus der Halle. Das war Mama, dann wieder Humbert, Tante Lisa, Gerti und Tante Tilly. Was machte die um diese Zeit in der Tuchvilla?
Irgendetwas musste passiert sein. Er stieg aus dem Bett und zog den Morgenmantel über, ging hinaus auf den Flur und traf Dodo, die ebenfalls verschlafen aus ihrem Zimmer kam.
»Was ist denn unten los?«, flüsterte er.
»Keine Ahnung.«
Er folgte ihr die Treppe hinunter. Der Flur im ersten Stock war beleuchtet, die Tür zur Bibliothek stand offen, doch der Raum war leer.
»Die sind unten.«
»Warte.«
Eine unbestimmte Angst erfasste ihn, er hielt seine
Schwester, die im Nachthemd hinunterlaufen wollte, am Arm fest. Von hier aus verstand man die Gespräche in der Halle gut genug.
»Ihr hättet sofort einen Krankenwagen rufen müssen, Marie«, hörten sie Tante Tilly sagen.
»Wir konnten ihn nicht dort liegen lassen … Es war viel zu kalt. Deshalb haben wir ihn nach Hause gebracht.«
»Das verstehe ich ja, Marie. Aber jetzt muss rasch gehandelt werden.«
»Sie sind da«, rief Humbert. »Gleich vor der Eingangstür.«
»Gott sei Dank!«
Etwas Schreckliches war geschehen. Leo zitterte am ganzen Körper und setzte sich auf den Fußboden, Dodo kauerte sich neben ihn.
»Ich glaube, es ist etwas mit Papa«, murmelte sie. »Zum Glück ist Tante Tilly da.«
Plötzlich sprang sie auf und lief in die Bibliothek, gleich darauf hörte er, wie sie die Schiebetüren zum Balkon öffnete. Hastig raffte auch er sich auf und eilte ihr nach. Ein eisiger Wind empfing sie auf dem offenen Balkon über dem Säulenvorbau des Eingangs. Lichter waren im Hof zu sehen, sie traten dicht an die Balustrade heran, der Wind riss an ihren Nachtgewändern.
»Es geht wirklich um Papa«, sagte Dodo heiser. »Sanitäter bringen ihn gerade fort. Oh Gott, er muss sehr krank sein, wenn er in die Klinik gebracht wird.«
Leo brachte kein einziges Wort heraus, Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu. Unten im Hof stand ein beleuchtetes Fahrzeug, man sah zwei Männer, die eine in Decken gehüllte Person auf einer Trage in den rückwärtigen Teil des Fahrzeugs schoben. Die Türen wurden zugeklappt
.
»Du kannst mit mir fahren, Marie, mit meinem Auto«, rief Tante Tilly.
»Nein«, lehnte Mama ab. »Ich lass ihn nicht allein. Keine Sekunde!«
Sie stieg vorn in den Rettungswagen ein, der Motor des großen Fahrzeugs sprang an, und es bewegte sich langsam um die Rotunde herum zur Allee. Man konnte die roten Rücklichter sehen, die immer kleiner wurden und hinter dem Tor verschwanden.
»Was treibt ihr beiden auf dem Balkon?«, fragte hinter ihnen Onkel Sebastian. »Ihr wollt euch wohl erkälten?«
Er hielt Kurti an der Hand, der durch den Lärm wach geworden war und jetzt heulend zu Dodo lief und jammerte, dass sein Papa von fremden Männern in ein großes Auto gelegt und mit seiner Mama weggebracht worden sei.
»Du Dummkopf.« Dodo umschlang den kleinen Bruder. »Papa musste mal kurz ins Krankenhaus, und Mama ist mitgefahren.«
»Kriegt er keine Luft mehr wie ich damals?«
»So was Ähnliches«, meinte Dodo unsicher. »Keine Sorge, die Ärzte machen ihn wieder gesund.«
Onkel Sebastian schloss die Schiebetüren und gab für Leo und Dodo einige vorsichtige Erklärungen. »Eurem Vater ist in der Fabrik schwindelig geworden, da hat Tante Tilly gemeint, er solle sich besser in der Klinik untersuchen lassen. Es besteht kein Anlass zu verzweifeln. Wir werden deshalb alle wieder zu Bett gehen, morgen wissen wir mehr.«
Seine Worte beruhigten weder Leo noch Dodo, beide wussten, dass Onkel Sebastian nicht mit der Wahrheit herausrückte. Die Wahrheit konnte nur sein, dass Papa vielleicht sterben würde, sonst hätte Mama nicht gesagt, dass sie ihn keine Sekunde allein lassen werde
.
»Komm, Kurti«, sagte Dodo und nahm den kleinen Bruder bei der Hand. »Du darfst heute Nacht bei mir schlafen. Willst du?«
»Leo soll auch bei uns schlafen«, bettelte der Kleine.
Der Bruder war wenig begeistert, aber da war wohl nichts zu machen. Hanna kam aufgeregt angelaufen und flüsterte Onkel Sebastian ins Ohr, dass Alicia Melzer, die man nicht geweckt hatte, aufgewacht war und Auskunft verlangte.
»Einen Augenblick. Ich schicke meine Frau zu ihr.«
Dodo warf ihrem Bruder einen ermunternden Blick zu, dann ging sie mit Kurti in ihr Zimmer, und Leo blieb tatenlos im Flur stehen. »Hol dein Bettzeug, und komm zu uns«, rief sie ihm nach. »Wir bauen uns ein Nest. Wollen wir das machen, Kurti?«
»Lieber eine Höhle.«
Leo gab sich einen Ruck und schleppte Bettdecke und Kopfkissen ins Nebenzimmer und sah zu, wie Dodo ihr Bett mit Decken und Kissen in eine Art Iglu verwandelte.
Inzwischen waren auch Tante Lisas schwere Schritte zu vernehmen, sie schnaufte wie immer, wenn sie sich schnell bewegen musste. Sie ging zu ihrer Mutter, die inzwischen ebenfalls im Flur erschienen war.
»Mamachen, es besteht kein Anlass zur Sorge. Paul fühlt sich etwas schwach, was sicher an seiner verschleppten Erkältung liegt. Und da hat Tilly gemeint …«
»Mitten in der Nacht? Und mit einem Krankenwagen? Ich bin zu Tode erschrocken, als ich hinunter in den Hof geschaut habe.«
»Du kennst doch unsere Tilly, Mama. Sie ist nun mal eine gewissenhafte Ärztin und übertreibt es gern.«
»Ich werde kein Auge zutun bis morgen früh, Lisa. Hast du noch etwas von diesen Baldriantropfen?
«
»Natürlich, Gerti wird sie dir bringen. Und nun leg dich wieder hin. Du brauchst dich wirklich nicht zu beunruhigen.«
Warum lügt sie uns an, dachte Leo empört. Das machte alles bloß schlimmer. Er wünschte sich inbrünstig, einfach in ein Auto steigen und zu seinem Vater in die Klinik fahren zu können. Aber das war nicht möglich, denn niemand würde das erlauben. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als zu seinen Geschwistern in die Kissenhöhle zu kriechen. Es war eng und unbequem, Kurti hampelte herum und machte Faxen, es dauerte eine Weile, bis der Kleine sich endlich beruhigte und einschlief.
»Glaubst du, beten hilft?«, fragte Dodo leise über den schlafenden Kurti hinweg.
»Schaden kann es jedenfalls nicht«, meinte Leo zögernd.
Daraufhin flüsterte seine Schwester das
Ave-Maria
vor sich hin, während er selbst sich an kein einziges Gebet erinnern konnte, in seinem Kopf dröhnten Dissonanzen und absteigende Tonleitern wie ein furchtbares Inferno. Erst Kurtis regelmäßige Atemzüge und die Wärme des schlafenden Kinderkörpers gaben ihm schließlich Ruhe, die Klänge wurden leiser, der Gedankenfluss versiegte, und der Schlaf senkte sich mit schweren Flügeln über die drei Geschwister.
Am Morgen weckte sie ihre Mama und schaltete das Licht an. Sie hatte die Tür von Dodos Zimmer ganz leise geöffnet und schaute herein. »Was für ein hübsches Vogelnest meine Küchlein gebaut haben! Komm zu mir, Kurti, mein Schatz. Johann und Hanno haben Sehnsucht nach dir.«
Leo blinzelte ins Licht der Deckenlampe. Er war sehr froh, seine Mutter zu sehen und ihre Stimme zu hören.
Allerdings sah sie sehr blass aus, ihr Gesicht schien schmaler geworden, die Augen größer und dunkler. Dodo saß aufrecht im Bett und zupfte Kurti am Schlafanzug.
»Lass ihn, Dodo. Er ist noch nicht richtig wach. Humbert trägt ihn hinüber.«
Sie nahm den verschlafenen Jungen auf den Arm und übergab ihn dem Hausdiener, der rücksichtsvollerweise im Flur wartete.
»Hört zu, meine beiden Großen«, sagte ihre Mutter, als Humbert mit Kurti davongegangen war. Sie setzte sich auf den Bettrand und war auf einmal sehr ernst.
»Euer Vater liegt im Hauptkrankenhaus mit einer Herzmuskelentzündung. Das ist eine sehr gefährliche Krankheit, die man sich durch eine nicht richtig auskurierte Erkältung zuziehen kann. Gestern Abend stand es nicht gut um ihn, inzwischen hat sich sein Zustand gebessert, was leider nicht heißt, dass die Gefahr vorüber ist. Er braucht viel Ruhe, darf sich nicht aufregen und muss noch eine Weile in der Klinik bleiben.«
Sie machte eine Pause und lächelte ein wenig, in ihren Augen lagen jetzt Zärtlichkeit und Zuversicht. »Ich möchte, dass ihr beiden heute zur Schule geht. Am Nachmittag werdet ihr – wenn die Ärzte es erlauben – eurem Vater einen kurzen Besuch machen dürfen. Ich selbst fahre mit Tante Tilly gleich wieder in die Klinik, inzwischen vertraue ich darauf, dass meine beiden großen Kinder sehr vernünftig sein werden …«
Es galt, Tante Lisa und Onkel Sebastians Anweisungen zu befolgen, sich um die Kleinen zu kümmern und vor allem die Großmama nicht aufzuregen.
»Und was ist mit der Fabrik, Mama?«, fragte Dodo. »Wer hält da die Stellung, solange Papa krank ist?«
»Vorläufig geht dort alles seinen normalen Gang«,
beruhigte sie ihre Mutter. »Das Wichtigste ist jetzt, dass Papa wieder gesund wird, nicht wahr?«
»Natürlich, Mama!«
Das ehrliche Gespräch beruhigte Leo. Es stand nicht gut, doch alle hielten zusammen, jeder hatte seine Aufgabe. Er ging hinüber in sein Zimmer und machte sich für die Schule fertig, nahm die Schultasche unter den Arm und eilte damit hinunter in das Speisezimmer, wo das Frühstück serviert wurde. Dodo war wieder einmal schneller gewesen, sie saß bereits auf ihrem Platz und trank Milchkaffee, essen mochte sie nichts, außerdem hatte sie vergessen, ihre Haare zu kämmen.
»Du schaust aus wie ein Mopp, Schwesterlein«, meinte er mit schiefem Grinsen.
»Und bei dir stehen zwei Hemdknöpfe offen«, entgegnete sie und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
Humbert servierte das Frühstück mit tiefernster Miene, aber das war nichts Neues, er lief schon seit Tagen mit diesem Gesicht herum. Unten in der Halle wartete wie immer Hanna mit dem Schulfrühstück, sie schaute sehr bekümmert drein und meinte: »Euer Vater wird ganz sicher wieder gesund. Macht euch keine Sorgen, ihr beiden. Nimm noch den Apfel mit, Dodo. Leo, du solltest die Mütze aufsetzen, der Wind ist kalt.«
In der Küche schluchzte jemand, das war Else. »Er kommt nicht wieder«, heulte sie. »Unser guter Herr kommt nicht wieder.«
»Halt die Goschn«, schimpfte Fanny Brunnenmayer. »Malst ja den Teufel an die Wand mit deinem Gejammer.«
Leo war froh, als er draußen war und neben Dodo die Allee zum Tor entlangging, um mit der Straßenbahn zum Gymnasium zu fahren. Er wünschte, es wäre inzwischen Nachmittag und er könnte seinen Papa im Krankenhaus
besuchen. Die Tuchvilla war schrecklich leer ohne den Vater, ganz fremd kam ihm das Haus vor – es war, als hätte es seine Seele verloren. Auf einmal begriff er, wie glücklich er all die Jahre gewesen war, wie sicher und geborgen er sich hatte fühlen dürfen und wie klein seine Sorgen gewesen waren, verglichen mit der Angst, die ihn nun ganz und gar erfüllte. Was, wenn Papa nicht wieder gesund wurde, wenn er seinen Vater verlor – wie würde er das ertragen?
Im Unterricht saß er teilnahmslos auf seinem Platz, gab unsinnige oder gar keine Antworten und erntete Kopfschütteln bei seinen Lehrern.
»Was ist mit dir los, Melzer? Bist du krank?«
»Nein, nein, nur Kopfschmerzen.«
Mühsam quälte er sich durch den Vormittag, stand in der Pause allein in einer Ecke und starrte hinüber zu dem dunklen, massigen Backsteingebäude des Krankenhauses, das von der Schule aus zu sehen war. Dort lag sein Vater und kämpfte um sein Leben. Warum konnte er ihm nicht helfen?
Nach der letzten Unterrichtsstunde stürzte er wie ein Besessener zur Straßenbahnhaltestelle, erwischte die Tram gerade noch mit einem waghalsigen Sprung auf die hintere Plattform und handelte sich eine zornige Verwarnung ein. Es war ihm gleich. Im Dauerlauf rannte er von der Haltestelle durch die Allee zur Tuchvilla, sprang die Stufen hinauf, und da ihm niemand öffnete, hämmerte er ungeduldig gegen die Eingangstür.
Endlich erschien Else mit verheultem Gesicht und traurigem Bernhardinerblick. »Ja, der Leo«, sagte sie. »Hat Gerti dir nicht aufgemacht?«
»Nein. Ist meine Mutter da?«
»Ich glaub, sie ist in der Klinik bei deinem armen Vater.
«
Er warf die Schultasche von sich, riss Jacke und Mütze herunter und eilte die Treppe hinauf, um Tante Lisa nach den neuesten Nachrichten zu fragen. Oben im Flur traf er auf seine Schwester, die früher aus der Schule gekommen war als er – weil die Mädchen ja nicht so viel zu lernen brauchten.
»Es geht ihm besser«, sagte sie. »Tante Lisa hat in der Klinik angerufen und es erfahren. Sie fährt nachher mit uns hinüber.«
»Gott sei Dank«, flüsterte Leo erleichtert. »Er wird wieder gesund, wie?«
»Ganz bestimmt«, versicherte Dodo aus fester Überzeugung.
Er war so glücklich, dass er seine Schwester in die Arme nahm, was seit Jahren nicht mehr geschehen war. Es war wie früher, als sie beide unzertrennlich gewesen waren, die Zwillinge Dodo und Leo, eine verschworene Gemeinschaft gegen den Rest der Welt.
Eine unbekannte Stimme, die aus der Bibliothek kam, riss sie in die Wirklichkeit zurück. Wie konnte das sein? War das nicht Onkel Ernst aus München?
»Der hat uns noch gefehlt«, flüsterte Dodo. »Er ist sauer, weil er Tante Tilly nicht angetroffen hat. Vorhin ist er gekommen, hat die arme Gerti fürchterlich angebrüllt und wollte zu Tante Tilly.«
Leo musste einen Moment nachdenken, dann fiel ihm ein, dass Tante Tilly sich ja von ihrem Mann getrennt hatte. Sie wollte sich scheiden lassen, aber das klappte irgendwie nicht. Weil Onkel Ernst sie nicht hergeben wollte oder so.
»Wieso ist er überhaupt zu uns gekommen?«, wunderte Leo sich.
»Weil Tante Tilly heute Nacht hier geschlafen hat, als
sie mit Mama aus der Klinik gekommen ist. Er ist so wütend, weil sie heute Vormittag irgendeinen Termin hatten. Am Gericht, glaube ich.«
Herrje! Das hatte Tante Tilly vor Schreck scheinbar ganz vergessen. Kein Wunder, dass ihr Mann ärgerlich war. Auf der anderen Seite war es nicht nett, das an der Gerti auszulassen und sie anzubrüllen. Die konnte ja nichts dafür.
»Stenografieren können Sie?«, hörte man die Stimme des Onkels aus der Bibliothek. »Wenn das so wenig klappt wie mit dem Maschineschreiben, dann verzichte ich!«
»Nein, nein. Bitte schön, ich schreibe hundertachtzig Silben in der Minute …«
»Die hinterher keiner entziffern kann, wie?«
»Ich habe immer alle Briefe fehlerlos in die Schreibmaschine getippt und war die Beste in unserem Kurs …«
»Das soll ich Ihnen glauben?«
»Bitte, ich kann es Ihnen beweisen.«
»Ich bin nicht interessiert.«
»Das ist sehr schade, darf ich Ihnen noch einen Kaffee bringen, Herr von Klippstein?«
Der Onkel aus München seufzte. »Setzen Sie sich in Gottes Namen hin, und schreiben Sie!«
»Sehr gern, Herr von Klippstein. Ich hole schnell Block und Bleistift.«
Die Geschwister wichen wie ertappte Sünder zur Seite, als Gerti mit fliegendem Rock und heißen Wangen aus der Bibliothek gelaufen kam. Zum Glück bemerkte sie die beiden Lauscher nicht, eilte an ihnen vorüber und verschwand hinter der Tür zum Gesindegang.
»Großartig«, meinte Dodo anerkennend. »Die Gerti schafft es vielleicht noch.«
»Was schafft sie?«
»Du lebst wirklich im Wolkenkuckucksheim, Bruderherz«,
meinte sie und grinste ihn an. »Gerti wollte Sekretärin bei Onkel Ernst werden. Tante Kitty hat’s mir erzählt.«
Er zuckte mit den Schultern, weil es ihn wenig interessierte. Er mochte Gerti nicht besonders, Hanna war ihm viel lieber. Außerdem gab es gleich Mittagessen, und anschließend würde Tante Lisa mit ihnen zu Papa ins Krankenhaus fahren.
Das Mittagessen war die reine Folter. Kurti und Johann hampelten auf ihren Stühlen herum, Hanno heulte in einer Tour, und Charlotte warf ihren Breiteller auf den Boden, als Rosa einen Moment lang nicht aufgepasst hatte. Ernst von Klippstein, der mit am Tisch saß, starrte düster vor sich hin und fragte Sebastian, wieso seine Kinder so unerzogen seien. Darüber war wieder Tante Lisa erbost und erklärte, dass Leute, die selbst keine Kinder hätten, sich kein Urteil erlauben dürften.
Daraufhin sagte Onkel Ernst gar nichts mehr, er stand noch vor dem Nachtisch auf und verabschiedete sich. »Meine Geschäfte in München erfordern meine Anwesenheit. Ich wünsche gute Genesung für Paul und dem Rest der Familie weiterhin alles Gute!«
»Er war schon immer ein unangenehmer Mensch«, äußerte Großmama, als Humbert die Tür hinter Onkel Ernst geschlossen hatte. »Gut, dass er niemals Kinder haben wird.«
»Das ist sehr hart geurteilt, liebe Mama«, sagte Onkel Sebastian mit leichtem Vorwurf.
»Mama hat ganz recht«, fand Tante Lisa. »Was für ein Glück für Tilly, dass sie ihn bald los ist! Er hat endlich in die Scheidung eingewilligt.«
Leo hatte kaum einen Bissen heruntergebracht, er war froh, als Humbert abräumte und zum Nachtisch Apfelkompott servierte
.
Über Papa wurde bei Tisch kaum gesprochen, weil niemand die Großmutter mit irgendwelchen Neuigkeiten über seine Erkrankung aufregen wollte. Nur ihr Schwiegersohn Sebastian erwähnte kurz, dass der liebe Paul noch einige Tage in der Klinik bleiben müsse.
»Eine verschleppte Erkältung, Mama. Sie muss richtig auskuriert werden, weißt du … Möchtest du Charlotte auf den Schoß nehmen? Sie streckt schon die Ärmchen nach dir aus.«
Arme Großmama! Niemand sagte ihr die Wahrheit, weil sie angeblich so schwache Nerven hatte. Vielleicht hatte sie ja schwache Nerven, weil ihr niemand die Wahrheit sagte. Auf jeden Fall wirkte sie im Augenblick ziemlich glücklich mit der pummeligen Charlotte auf ihrem Schoß. Wenn die Kleine mit ihrem Essen so weitermachte, würde sie eines Tages genauso dick werden wie ihre Mutter.
Nach dem Mittagessen saßen Leo und Dodo ungeduldig in der Halle, um auf Tante Lisa zu warten. Sie hatten bereits die Mäntel und Mützen angezogen, und weil es so still war, konnten sie hören, wie Humbert in der Küche mit Hanna schimpfte: »Warum musst du immer zu ihm hinauslaufen? Hat er nicht damals geschrieben, dass er nichts mehr von dir wissen will? Von wegen Liebe! Ein ganz windiger Bursche ist das!«
Leo hatte keine Ahnung, worüber sie stritten, es war ihm auch egal, er wünschte sehnsüchtig, dass Tante Lisa endlich kam. Aber die trödelte wieder herum, wahrscheinlich war irgendetwas mit Charlotte, oder Hanno hatte Bauchschmerzen.
»Warum kommt Mama nicht zurück?«, überlegte Dodo. »Sie kann doch unmöglich den ganzen Tag im Krankenhaus bei Papa sitzen.
«
»Und wenn es Papa vielleicht wieder schlechter geht?«, fragte Leo angstvoll.
»Hör auf!«, rief seine Schwester und stieß ihn in die Seite. »Papa geht es besser, hat Tante Lisa gesagt.«
Leo schwieg. Aber die Angst blieb. Ruhelos lief er in der Halle auf und ab, spähte durch die Glasscheiben auf die kahle Terrasse hinaus und tigerte im Eingangsbereich herum. An der Garderobe hingen Papas Mantel und zwei seiner Hüte sowie eine Jacke, die er im Haus trug. Es war zum Verrücktwerden. Seine Sachen waren hier, er selbst war in dieser elenden Klinik, und niemand wusste, ob er je wieder in die Tuchvilla zurückkehren würde.
»Habt ihr etwa gewartet?«, rief Tante Lisa von der Treppe herunter. »Humbert, hast du den Wagen vorgefahren? Stellt euch vor, was sich diese Gerti geleistet hat! Anstatt mir beim Umkleiden zu helfen, wofür sie ja bezahlt wird, läuft sie hinüber in die Fabrik, um dort etwas auf der Schreibmaschine zu tippen. Hat man da noch Worte?«
Dodo hätte eigentlich erklären können, dass Gerti etwas für Onkel Ernst schreiben musste und sich vermutlich nicht getraut hatte, Papas Schreibmaschine im Büro zu benutzen. Während der Autofahrt saß Leo hinten neben Tante Lisa, die ihren Pelzmantel trug und fast die ganze Rückbank einnahm, Dodo hatte sich gleich vorn neben Humbert platziert und erklärte ihm ständig, wann er in einen anderen Gang schalten musste und warum es für den Motor nicht gut sei, untertourig zu fahren.
Humbert sagte lediglich ab und zu: »Gewiss, Fräulein Melzer. Sie haben ganz recht, Fräulein Melzer.«
Mitunter konnte seine Schwester eine schreckliche Besserwisserin sein. Vor allem, wenn es um Autos oder Flugzeuge ging. Er war froh, als sie ihr Ziel erreichten
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Das Krankenhaus war ihm nicht neu, zuletzt hatten sie Kurti hier besucht. Leo hasste den massiven Klinkerbau, der von außen schon bedrohlich wirkte. Innen musste man an einer Nonne vorbei, die an der Pforte saß und genau wissen wollte, wer man war und welchen Kranken man besuchte. Mit einem Aufzug ging es dann nach oben, weil Tante Lisa auf keinen Fall vier Treppen hochsteigen wollte. Leo hingegen wurde schwindelig in dem engen Kasten, sein Herz klopfte wie verrückt, und in seinen Ohren tobte ein Ozean aus Tönen und Klängen.
Auf dem Krankenhausflur stank es wie immer nach Desinfektionsmitteln und anderen ekligen Dingen, zum Glück kam ihnen Tante Kitty mit Henny entgegen.
»Es geht Gott sei Dank besser«, sagte sie und umarmte ihre Schwester. »Wenn ich daran denke, dass er gestern Abend einen Zusammenbruch hatte und fast tot war … Ach, Paulemann hat nie auf mich hören wollen. Ich habe ihm immer gesagt, dass er zu viel arbeitet.«
Papa ist fast tot gewesen, dachte Leo entsetzt.
»Guten Tag, Leo«, sagte Henny und fiel ihm um den Hals. »Tut mir furchtbar leid, dass Onkel Paul krank ist. Wenn du mal Zeit hast – ich habe eine ganz großartige Nachricht für dich.«
Henny war wirklich unmöglich. Er machte sich mit einer zornigen Bewegung von ihr frei und murmelte: »Lass mich bitte in Ruhe!«
Eine Krankenschwester mit Nonnenhaube führte sie zum Zimmer und legte den Zeigefinger über die Lippen. Das bedeutete, dass sie nicht laut reden durften.
»Nicht alle auf einmal und bloß ein paar Minuten«, mahnte sie.
Dodo und Leo durften als Erste hinein und traten befangen durch die Tür. Ihr Papa lag ganz allein in dem weiß
gestrichenen Krankenzimmer, sah seltsam aus in dem schmalen Bett. Seine Haut war grau, und statt eines Schlafanzugs trug er einen komischen weißen Kittel.
Er lächelte ein wenig, als sie Hand in Hand schüchtern zu seinem Bett kamen. Leo fiel erschrocken ein, dass sie ihm nicht einmal Blumen oder etwas anderes mitgebracht hatten, zum Glück stand auf seinem Nachttisch ein Strauß mit weißen Rosen, der wohl von Tante Kitty war.
»Na, ihr beiden?«, sagte Papa mit ungewöhnlich leiser Stimme. »Da habe ich euch wohl einen gehörigen Schrecken eingejagt, wie?«
Sie nickten beide gleichzeitig, Leo hatte es die Sprache verschlagen, und Dodo erkundigte sich zaghaft, wie es ihm gehe.
»Besser als gestern, aber noch nicht wirklich gut.«
Leo brachte kein einziges Wort heraus. Er war unfassbar froh, dass der Vater am Leben war und sogar mit ihnen redete. Zugleich war er tief erschrocken, weil er so leise sprach und so müde und krank aussah.
»Hört zu.« Papa sah sie nacheinander an. »Ich werde noch ein Weilchen hierbleiben müssen. Deshalb möchte ich, dass du, Dodo, deiner Mutter folgst und ihr zur Hand gehst und sie unterstützt. Willst du das tun?«
»Ja, Papa.«
»Du, Leo, bist vorübergehend der Mann im Haus und passt auf deine Mutter, Dodo und Kurti auf, bis ich wieder auf dem Damm bin. Wirst du das hinbekommen?«
»Ja, Papa.«
Damit waren sie entlassen. Leo war geschmeichelt und verwirrt zugleich von dem, was sein Vater zu ihm gesagt hatte. Er musste auf Mama und die Geschwister aufpassen? Wie sollte er das eigentlich anstellen?