33
D as Warten im Krankenhausflur in der Nacht war das Schlimmste für Marie gewesen. Sie hatten Paul in eines der Behandlungszimmer getragen, Tilly war mit hineingegangen, sie hingegen musste im Gang sitzen bleiben und konnte nichts weiter tun als warten und hoffen. Und beten. Angst legte sich wie ein schweres Tuch auf sie, und die Stille in dem langen, dämmrigen Flur wollte sie erdrücken. Nichts tun zu können, während der liebste Mensch, den sie auf Erden hatte, mit dem Tode rang. Was für eine Qual!
Bis zu diesem Moment hatte sie Angst und Panik von sich ferngehalten, hatte einfach funktioniert, den Kopf oben behalten und sich bemüht, die richtigen Entscheidungen zu fällen. Als der Pförtner der Fabrik anrief und ihr stotternd vor Aufregung mitteilte, der Herr Direktor liege bewusstlos am Tor, war ihr zwar der Schreck in alle Glieder gefahren, aber sie hatte dennoch rasch und umsichtig gehandelt. Hatte als Erstes Humbert aus dem Bett geklingelt, dann bei Kitty angerufen und gebeten, Tilly möge sofort in die Tuchvilla kommen, und schließlich noch Lisa geweckt. Als sie mit Humbert bei der Fabrik ankam, hatte Josef Mittermaier den Bewusstlosen gemeinsam mit Gruber schon ins Pförtnerhaus getragen. Der Anblick war schrecklich gewesen, Pauls Gesicht war verzerrt, die Haut fast grau, er stöhnte leise, war aber nicht ansprechbar .
Wenig später saß sie im Krankenwagen vorn neben dem Fahrer und starrte in den Rückspiegel, wo man den Kopf des jungen Arztes und eines Sanitäters sehen konnte. Was dort gesprochen wurde, war nicht zu verstehen, der Motor des Wagens war zu laut. Als man vor der Klinik anhielt, stieg sie eilig aus und lief neben der Trage her, den Blick angstvoll auf ihren Mann gerichtet. Paul hatte inzwischen die Augen geöffnet und schaute verwirrt und hilflos zu ihr auf.
»Marie …, Marie …, was ist denn? Wo bin ich?«
»Sei ganz ruhig, Liebster … Alles wird gut, ich bin bei dir.«
Sie durfte nicht bei ihm bleiben. Man trug ihn in einen Behandlungsraum, was sie dort mit ihm anstellten, wusste sie nicht. In der Zwischenzeit musste sie ein Formular ausfüllen: Name, Beruf, Alter, Vorerkrankungen, Telefonnummer …
»Er hat ein Schmerzmittel bekommen«, erklärte Tilly, die für einen Moment zu ihr in den Flur herauskam. »Jetzt werden sie ihn stabilisieren. Es ist zum Glück kein Infarkt. Der Herzmuskel ist entzündet, und es besteht die Gefahr, dass die Entzündung auf den Herzbeutel übergreift.«
Kein Infarkt. Marie atmete auf, das war eine gute Nachricht, oder nicht? Doch eine Entzündung am Herzen war sicher eine gefährliche Sache.
Tilly verschwand wieder im Behandlungszimmer, und Marie blieb allein zurück. Hin und wieder eilte eine Krankenschwester durch den Flur, dann wurde ein weiterer Patient auf einer Trage gebracht – ein Verkehrsunfall. Der arme Mensch war blutverschmiert, sein Kopf lag auf der Seite, der Körper war mit einem weißen Tuch abgedeckt. Kurz darauf tauchten Kitty und Robert an der Treppe auf. Ihre Schwägerin hatte es in der Frauentorstraße nicht ausgehalten und dreimal in der Klinik angerufen, ohne eine Auskunft zu erhalten, da hatte sie sich in ihren Wagen gesetzt.
»Um Himmels willen!«, rief sie aufgeregt und warf sich in Maries Arme. »Was ist mit unserem Paulemann? Sag bitte nicht, dass er tot ist. Er ist nicht tot, oder? Nur eine kleine Ohnmacht, weil er zu viel arbeitet. Stell dir vor, Robert wollte mich nicht allein zur Klinik fahren lassen, er hatte Angst, ich könnte einen Unfall bauen.«
Marie war froh, nicht mehr einsam und allein warten zu müssen, auch wenn Kittys Redeschwall ihre Aufregung nicht gerade milderte.
»Er hat eine Herzmuskelentzündung«, erklärte sie, »zum Glück ist er wieder bei Bewusstsein. Tilly ist bei ihm drin und hält mich auf dem Laufenden.«
»Gott sei Dank«, seufzte Kitty. »Unfassbar! Diese Nonne unten an der Pforte wollte uns nicht hereinlassen! Es sei keine Besuchszeit, hat sie gesagt, die schwarze Krähe. Na, der habe ich vielleicht was erzählt!«
Jetzt endlich öffnete sich die Tür des Behandlungszimmers, ein Krankenbett wurde in den Flur geschoben, darauf lag ihr Paul, und seine Augen waren geschlossen.
»Keine Sorge«, beruhigte sie Tilly. »Er schläft. Wir können uns morgen früh bei dem zuständigen Arzt erkundigen, jetzt sollten wir besser nach Hause fahren.«
Marie ging eine Weile neben dem Bett her und betrachtete den Schlafenden, als sie aber seine Hand berühren wollte, wies man sie an, das zu unterlassen.
»Und wenn es ihm heute Nacht schlechter geht?«
»Dann erhalten wir eine telefonische Nachricht. Vorsichtshalber bleibe ich bei dir und übernachte in der Tuchvilla. «
Marie war dankbar dafür, Tillys ruhige, sachliche Art war sehr viel angenehmer für sie als Kittys chaotisches Geschwätz. Auf dem Rückweg saß sie neben ihr im Wagen und ließ sich die medizinischen Details erklären. Sie verstand zwar nicht alles, doch es war beruhigend, dass die Ärzte wussten, woran Paul erkrankt war und wie er behandelt werden musste.
»Eine medikamentöse Therapie ist nur bedingt möglich. Er braucht viel Ruhe, soll körperliche Anstrengungen und Aufregungen möglichst vermeiden. Dann heilt es mit der Zeit von selbst aus, natürlich nicht von heute auf morgen …«
In der Tuchvilla waren die Außenlampen noch eingeschaltet, Sebastian wartete in der Bibliothek, um zu erfahren, wie es um Paul stand. Das Gespräch war kurz, Tilly erklärte, dass Marie und sie unbedingt etwas Schlaf brauchten, und Sebastian eilte hinüber in den Anbau, um Lisa die beruhigende Kunde zu überbringen, dass es Paul den Umständen entsprechend zufriedenstellend ging.
Tilly wurde in Kurtis Zimmer einquartiert, dann legte sich Marie erschöpft zur Ruhe. Der Schlaf wollte sich nicht einstellen, immer wieder sah sie Pauls graues schmerzverzerrtes Gesicht vor sich, hörte seine Frage: »Was ist, wo bin ich?«, und machte sich Vorwürfe, ihn nicht entschiedener von seinen nächtlichen Büroarbeiten abgehalten zu haben. Es war kein Wunder, dass es so gekommen war. Tagsüber war er zu den Banken gelaufen, hatte sich um die Hausverkäufe gekümmert, war in der Fabrik gewesen, und die Nächte hatte er sich noch mit allerlei Akten und Berechnungen um die Ohren geschlagen. Warum hatte sie das so lange mit angesehen, ohne einzuschreiten? Warum war man erst hinterher immer klüger?
Die Nacht war kurz. Gegen sechs Uhr erwachte sie, weil Tilly aufgestanden war, um leise die Treppe hinunter ins Büro zum Telefon zu gehen. Marie warf den Morgenmantel über und folgte ihr.
»Er hatte eine ruhige Nacht«, berichtete Tilly erleichtert. »Besuchszeit ist eigentlich erst am Nachmittag, aber ich habe gestern mit dem Oberarzt Dr. Peuser gesprochen. Du darfst ausnahmsweise gegen zehn Uhr kurz zu ihm. Er liegt im zweiten Stock. Zimmer zweihundertsieben.«
»Um zehn? Erst so spät?«, seufzte Marie.
»Genau. Und nicht, bevor du anständig gefrühstückt hast, Marie. Du schaust aus, als hättest du die Nacht mit einem Gespenst verbracht.«
Die Angestellten waren schon auf den Füßen, Humbert deckte den Frühstückstisch und erkundigte sich besorgt, wie es dem gnädigen Herrn gehe.
»Es geht zufriedenstellend, Humbert. Wir hoffen, dass er bald wieder gesund wird.«
»Das freut mich sehr, gnädige Frau. Gestern bin ich heftig erschrocken, als ich ihn ohnmächtig auf Grubers Sofa liegen sah. Ich werde es gleich unten in der Küche verkünden, dort sind alle in größter Aufregung.«
Sie aßen zu zweit, und Tilly sorgte energisch dafür, dass Marie ein ordentliches Frühstück einnahm, bevor sie selbst zu ihrer Arbeit und zu ihren Patienten fuhr.
»Wenn ihr mich braucht, ruft bei Kitty an.«
»Ich danke dir für alles, Tilly. Ich weiß gar nicht, was wir ohne dich tun würden …«
Marie wunderte sich, dass sie nicht in der Praxis von Dr. Kortner, wo Tilly schneller erreichbar war, anrufen sollte. Sie dachte allerdings nicht weiter darüber nach, es gab Wichtigeres zu tun. Zum Beispiel musste sie Pauls Sekretariat Bescheid geben.
Fräulein Lüders, eine der Sekretärinnen, war mit den Nerven völlig am Ende. Sie wusste bereits vom Pförtner, dass der Herr Direktor einen Zusammenbruch erlitten hatte.
»Ich habe es bisher noch nicht weitergegeben, Frau Melzer, weil ich unter den Arbeitern keine Panik auslösen wollte. Auch Herrn Gruber habe ich angewiesen, sich mit Informationen zurückzuhalten.«
»Das war sehr klug von Ihnen, Fräulein Lüders. Meinem Mann geht es den Umständen entsprechend gut, ich lasse Sie heute Mittag wissen, wie wir weiterhin verfahren werden.«
Die Lüders bedankte sich und schien sehr erleichtert zu sein, weil sie ja nicht gewusst hatte, was mit dem Herrn Direktor passiert sei. Herr Melzer sei solch ein angenehmer, fröhlicher Mensch, sie sei sehr betroffen. »Meine allerherzlichsten Genesungswünsche für Ihren Herrn Gemahl, Frau Melzer!«
Marie legte auf und ging in den Anbau, um mit Lisa das weitere Vorgehen zu besprechen. Sie fand ihre Schwägerin weinend im Morgenmantel im Salon sitzen, ein Taschentuch vor dem Gesicht, Sebastian saß neben ihr und versuchte vergeblich, sie zu trösten.
»Oh mein Gott!«, schluchzte sie. »Es ist alles meine Schuld, Marie. Dieser Anbau, der uns ruiniert hat, wurde meinetwegen gebaut. Paul ist vor lauter Geldsorgen krank geworden …«
»Niemand trägt irgendeine Schuld, Lisa«, erklärte Marie mit Entschiedenheit. »Es ist diese Krise, in die wir alle hineingezogen wurden. Umso mehr wollen wir jetzt zusammenstehen, damit Paul in Ruhe gesund werden kann. Jeder von uns kann etwas dazu beitragen.«
Lisa war sofort dazu bereit. Sie würde am Nachmittag mit den Zwillingen in die Klinik fahren, um Paul zu besuchen, und falls sie mit ihm sprechen durfte, würde sie keinesfalls weinen oder jammern, sondern ruhige Zuversicht auszustrahlen versuchen.
»Ich hoffe, dass es mir gelingt, Marie«, seufzte sie und suchte in der Tasche des Morgenmantels nach einem trockenen Taschentuch.
Sebastian strich ihr zärtlich über Haar und Nacken und meinte, er sei sehr stolz auf sie, weil sie in Zeiten der Not Mut und Stärke bewies. Worauf Lisa erneut schluchzen musste.
»Und ich werde hinüber in die Fabrik gehen, wenn es dir recht ist«, erklärte Sebastian. »Vielleicht kann ich dort etwas Sinnvolles tun.«
»Auf jeden Fall könntest du der Sekretärin helfen, die Post durchzusehen und Telefonate anzunehmen.«
»Daran habe ich selbst gedacht, Marie!«
Bevor sie mit der Straßenbahn zur Klinik fuhr, kleidete sie sich um und musterte sich kritisch im Spiegel. Tilly hatte recht gehabt, sie sah schrecklich blass und verhärmt aus, so wollte sie Paul auf keinen Fall unter die Augen treten. Sie benutzte die Puderdose und kämmte das Haar, steckte es schön auf und versuchte ein Lächeln. Es gelang nur halbwegs – glückliche Zuversicht sah anders aus.
»Wir haben jetzt keine Besuchszeit«, bekam sie an der Pforte der Klinik zu hören. Die Klosterfrau trug eine Nickelbrille mit dicken Gläsern, ihr Mund war schmal zusammengezogen. Sie sah Marie einen ganz kurzen Moment an und wandte sich wieder ihrer schwarz eingebundenen Lektüre zu.
»Bitte erkundigen Sie sich bei Dr. Peuser, ich habe eine Sondergenehmigung. Es geht um meinen Ehemann, den Patienten Paul Melzer. «
»Hier werden keine Extrawürste gebraten, Frau Melzer«, erwiderte die Pförtnerin, ohne zu ihr aufzusehen.
Marie stand unschlüssig vor dem Glasfenster der Pforte, die eifrige Nonne hatte sich wieder in ihr Brevier vertieft. Sie schien sehr kurzsichtig zu sein, denn trotz der dicken Brillengläser musste sie das Buch dicht vor die Augen halten. Marie entschied sich, mit leisen Schritten unbemerkt an ihr vorbeizugehen.
Sie nahm den Aufzug, um keinen weiteren Schwestern und Ärzten zu begegnen, fuhr in den zweiten Stock und ging den Flur hinunter an drei munter schwatzenden jungen Krankenschwestern vorbei. Zimmer zweihundertvier … Zweihundertdrei …, falsche Richtung. Zweihundertfünf …, eine Tür, auf der Kein Zutritt geschrieben stand, dann endlich zweihundertsieben.
Sie klopfte leise an. Als sich nichts tat, drückte sie die Klinke herunter und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Ein kleiner, weiß gestrichener Raum, ein Fenster, ein Stuhl, ein einzelnes Bett mit Nachttisch, von allen Seiten gut erreichbar. Paul lag auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gedreht, die Augen geschlossen. Sie schlüpfte ins Zimmer, zog die Tür so geräuschlos wie möglich hinter sich zu, näherte sich leise dem Bett. Sie wollte ihn auf keinen Fall wecken, ihn nur anschauen, hören, wie er atmete, wissen, dass sein Herz schlug.
»Marie?«, murmelte er und wandte den Kopf, ohne die Augen zu öffnen. »Bist du endlich da?«
»Ja, Liebster, woher weißt du, dass ich es bin?«
Er öffnete die Augen und lächelte sie an. Liebevoll und schelmisch, wie er allein es konnte, wie er sie schon damals angelächelt hatte, als sie noch Küchenmädel in der Tuchvilla gewesen war. »Ich kenne deine Schritte, Marie. Komm, setz dich zu mir. «
Er deutete auf den Bettrand und schob die Decke ein wenig zur Seite.
»Ich weiß nicht, ob ich das darf, Paul«, wandte sie ein. »Gestern durfte ich dich nicht einmal berühren.«
»Setz dich, Marie«, beharrte er. »Bitte!«
Sie tat, was er wünschte, er zog sie zu sich herunter, umschlang und küsste sie.
»Von nun an passe ich auf dich auf, Liebster«, flüsterte sie ihm zu.
»Das tust du doch immer, mein Schatz!«
»Ich war nachlässig, Paul. Oh Gott, ich hatte solche Angst um dich!«
Er streichelte ihren Rücken und hielt sie fest in den Armen. »Die ganze Zeit hab ich nachgedacht, dass ich dich nicht verlassen will, Marie. Dass es etwas gibt, das mich an diese Erde bindet: dich und unsere Kinder. Vor allem du, meine Marie. Du hältst mich hier unten mit den starken Fesseln der Liebe.«
Er schwieg, und sie war zu keiner Antwort fähig, weil sie gegen die Tränen ankämpfte. Nein, sie wollte nicht weinen. Und doch wurde dieser dumme weiße Kittel, den sie ihm angezogen hatten, ganz nass.
»Du brauchst jetzt sehr viel Ruhe«, sagte sie schließlich und wischte sich so unauffällig wie möglich die Wangen. Natürlich hatte er es bemerkt und kam ihr mit dem Zipfel der Decke zu Hilfe.
»Leider«, meinte er. »Es kommt sehr unpassend, Marie. Du weißt es noch nicht. Wir haben den Auftrag von Keller & Weingart bekommen. Einen Großauftrag sogar.«
»Du sollst dir nicht schon wieder Gedanken um die Fabrik machen«, begehrte sie auf. »Ich werde mich darum kümmern, und Sebastian steht mir zur Seite. Du kannst also ganz beruhigt sein. «
Er schüttelte abwehrend den Kopf. »Feines Nähgarn wollen sie. In ziemlicher Menge …«
»Das ist ja wunderbar, Liebster … Dann werfen wir die Produktion an.«
»Das ist es ja, Marie«, sagte er. »Die verdammten Ringspinner sind gestern nicht angelaufen. Heute um zehn wollte Mittermaier es noch einmal versuchen. Du musst in der Fabrik anrufen und nachfragen, ob es endlich gelungen ist.«
Erschrocken setzte sie sich auf, denn sie hatte seinen unruhigen, stolpernden Herzschlag gespürt. War es das gewesen? Hatte er sich gestern wegen der dummen Ringspinner so aufgeregt, dass sein Herz aussetzte?
»Ich regele das, Paul«, sagte sie beschwichtigend. »Du sollst dich nicht mit diesen Dingen belasten, sondern gesund werden. Ich habe die Fabrik damals, als du im Krieg warst, geführt, ich werde es auch jetzt wieder schaffen.«
Er atmete heftig und wollte sich nicht beruhigen. Marie wurde angst und bange. Wenn er sich so aufregte, konnte sich sein Zustand wieder verschlimmern.
»Du musst mich auf dem Laufenden halten, Marie«, sagte er und hustete. »Wir haben die Maschinen damals nach den Plänen deines Vaters nachgebaut. Huntzinger hat das meiste gemacht, Mittermaier war ebenfalls dabei. Vielleicht brauchen sie die Pläne. Die liegen in meinem Büro oben auf dem Aktenregal.«
»Schluss jetzt!«, sagte sie energisch. »Die Fabrik ist ab sofort meine Aufgabe, Paul. Deine Aufgabe ist es, gesund zu werden. Weil wir dich brauchen, weil ich dich brauche, Liebster.«
Er wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick hörte man Stimmen im Flur, mehrere Personen näherten sich dem Krankenzimmer .
»Visite«, sagte eine Krankenschwester, während sie die Tür aufriss. Ungläubig starrte sie auf Marie. »Was haben Sie hier zu suchen?«
Bevor Marie antworten konnte, trat der Oberarzt mit seinem Gefolge ein und ging lächelnd auf sie zu. »Frau Melzer, seien Sie gegrüßt. Ich hoffe, Sie haben nicht allzu heftiges Herzklopfen bei Ihrem Mann verursacht. Wobei ich der Ansicht bin, dass ein angenehmes Herzklopfen dem Patienten nicht schaden wird.«
Zur allergrößten Verblüffung der gestrengen Schwester schüttelte er Marie die Hand, bevor er sich seinem Patienten zuwandte. »Sie können beruhigt sein, gnädige Frau«, meinte er über die Schulter hinweg. »Er ist bei uns gut aufgehoben. Beste Grüße übrigens an Ihre Schwägerin, Frau von Klippstein. Eine sehr beeindruckende Frau.«
»Herzlichen Dank, Herr Dr. Peuser«, sagte Marie erleichtert. »Die Grüße werde ich gern ausrichten. Und nun empfehle ich mich. Nochmals meinen allerherzlichsten Dank.«
Sie lächelte Paul zum Abschied liebevoll zu, was er leider höchstens halb wahrnahm, da seine Brust abgehört wurde. Dann ging sie an der Schwester vorbei aus dem Krankenzimmer, dessen Tür mit einem energischen Ruck hinter ihr geschlossen wurde.
Ein Großauftrag, schoss es ihr durch den Kopf, während sie die Treppen hinunterlief. Die Maschinen mussten laufen, das war jetzt das Wichtigste. Paul durfte sich nicht weiter aufregen. Ach was, vielleicht hatte Mittermaier ja das Problem längst gelöst.
Sie fuhr mit der Straßenbahn bis zur Haltestelle Tuchfabrik und wurde von dem alten Pförtner Gruber mit einer tiefen Verbeugung empfangen .
»Frau Melzer, grüß Sie Gott«, rief er und schwenkte seine Mütze. »Wie gut, dass Sie da sind. Jetzt kommt alles wieder in Ordnung. Wie früher, als der alte Herr Melzer noch am Leben war.«
Marie musste über seine ehrliche Freude lächeln. Hoffentlich konnte sie sein Vertrauen einlösen. »Ist Herr Mittermaier gekommen?«
Gruber nickte und deutete mit dem Daumen hinüber zur Spinnerei. »Der ist seit halb zehn an der Arbeit. Flucht wie ein Bierkutscher, lässt aber nicht locker!«
Das hörte sich nicht gut an. Anscheinend hatte Mittermaier die Ringspinner nach wie vor nicht in Gang setzen können. Sie lief an einer Gruppe Arbeiterinnen aus der Weberei vorüber, die gerade Mittagspause hatten, und betrat die Halle, die früher vom Lärm der Selfaktoren und Ringspinner erfüllt gewesen war und in der jetzt Totenstille herrschte. Das Glasdach war lange nicht gereinigt worden, sodass die Märzsonne ein schwaches graues Licht in den großen Raum warf. Der Geruch von Untätigkeit und Stillstand lag in der Luft.
»Herr Mittermaier?«
Der alte Spinnmeister hockte neben den beiden Ringspinnern am Boden und schaute resigniert zu ihr auf. »Nichts«, sagte er dumpf und wischte sich mit ölverschmierter Hand übers Kinn. »Totaler Streik! Ich versteh das nicht …«
Er hatte mehrere Teile ausgebaut, untersucht, gereinigt und geölt und wieder eingebaut – die Maschinen weigerten sich dennoch, ihren Dienst zu tun.
»Beleidigt sind sie. Weil wir sie abgeschaltet haben. Vielleicht müssen wir ihnen einfach gut zureden, den Mädels«, meinte Mittermeier mit einer Mischung aus Galgenhumor und Zynismus. »Ein paar Komplimente machen. Von Schönwetter reden. Vielleicht einen Blumenstrauß und eine Tafel Schokolade hinlegen … Herrgott noch mal! Ich hab sie damals schließlich mit dem Huntzinger gemeinsam zusammengebaut.«
Marie ging um die beiden Maschinen herum und betrachtete sie. Es waren nicht diejenigen, die ihr Vater damals konstruiert hatte, sie waren nachgebaut. Nach seinen Plänen. Wo lag der Fehler? Seinerzeit wurden sie noch nicht elektrisch, sondern mit Dampfkraft betrieben. Allerdings waren sie jahrelang ohne Zwischenfälle und ohne größere Reparaturen gelaufen.
»Der alte Huntzinger selig, der wüsste Bescheid, der hätte den Fehler längst gefunden«, fuhr Mittermaier verzweifelt fort. »Als Ihr Herr Vater noch am Leben war, da hat Huntzinger viel mit ihm zusammengearbeitet, hat bei ihm gelernt und immer gesagt: Der Burkard, der ist ein genialer Kopf. Braucht zwar immer sein Quantum – genial ist er allemal. «
Marie schwieg dazu. Sie hatte ihren Vater nie kennengelernt, aber sie wusste, dass er an den Folgen seiner Alkoholsucht gestorben war.
»Sie ruhen sich jetzt aus, Herr Mittermaier«, meinte sie. »Mit Gewalt lässt sich da nichts erreichen. Gehen Sie hinauf ins Büro, Fräulein Lüders wird Ihnen einen Kaffee und etwas zu essen bringen. Ich besorge inzwischen die Pläne meines Vaters, und wir schauen sie uns in aller Ruhe an. Vielleicht kommen wir so dem Geheimnis auf die Spur.«