35
T illy war fassungslos. Sie war ja so entsetzlich dumm gewesen. Die beiden hatten ein übles Spiel mit ihr getrieben, leider war sie selbst daran schuld, dass es so lange gedauert hatte, bis ihr endlich die Augen aufgingen. Sie war eine gute Ärztin, die sich hingebungsvoll für ihre Patienten einsetzte und meist die richtigen Diagnosen stellte, aber im wirklichen Leben war sie ein einfältiges Schaf, ein naives Mädchen, das jeder an der Nase herumführen konnte.
Es war bei einer Untersuchung in der Praxis geschehen. Frau Meyerbrink, eine ältere Patientin aus der Georgenstraße, hatte sich beim Anfeuern des Ofens eine Verbrennung am Unterarm zugezogen, die behandelt werden musste. Tilly bestrich die Stelle mit Brandsalbe, legte Mull darauf und wollte Doris Kortner herbeirufen, weil der Verbandsstoff knapp war. Doch Doris assistierte Dr. Kortner gerade bei einer kleinen Operation: Ein Kaktusstachel, der eine Entzündung hervorgerufen hatte, musste entfernt werden.
»Nicht schlimm«, sagte Tilly zu ihrer Patientin. »Wir kommen auch so zurecht. Halten Sie den Arm bitte ganz still …«
»Ach ja«, seufzte die ältere Frau und streckte ihr den Arm entgegen. »Seine Schwester ist ihm wirklich eine große Hilfe.«
Tilly war dämlich genug, diesen Satz zunächst falsch zu deuten. »Sie meinen sicher seine Frau, nicht wahr? Ja, sie wäre eine ausgezeichnete Krankenschwester geworden, wenn sie diesen Weg eingeschlagen hätte.«
Nun war es an der Patientin, ein verständnisloses Gesicht zu machen. »Seine Frau? Nein, ich spreche von Frau Kortner, und die ist seine Schwester.«
Plötzlich hatte Tilly das Gefühl, der Fußboden würde sich unter ihr bewegen. Seine Schwester? Doris Kortner war nicht seine Ehefrau, sondern seine Schwester? Das musste ein Missverständnis sein.
»Haben Sie das etwa nicht gewusst, Frau Doktor?«
Tilly riss sich zusammen. Ob es nun stimmte oder nicht, sie musste irgendetwas sagen. Am besten so wenig wie möglich.
»Natürlich, Frau Meyerbrink. Halten Sie bitte hier fest … So ist es gut. Und den Arm bitte schonen, keine schweren Gewichte tragen und nicht auf dem Verband herumdrücken … Sie können jetzt den Ärmel wieder herunterkrempeln, übermorgen kommen Sie noch einmal vorbei, dann wechseln wir den Verband und schauen nach, ob alles in Ordnung ist.«
Ihr Redeschwall verhinderte, dass die Patientin weiter auf das Thema einging. Tilly wünschte ihr noch gute Besserung und öffnete ihr die Tür.
»Vielen Dank, Frau Doktor, auf Wiedersehen, Frau Doktor … Darf ich den Wasserkessel heben oder nicht?«
»Höchstens halb voll«, riet Tilly lächelnd und entließ sie. Anstatt den nächsten Patienten hereinzuholen, setzte sie sich auf die Patientenliege und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren.
Es kann lediglich ein Irrtum sein, dachte sie beklommen. Es gibt keinerlei Familienähnlichkeiten zwischen den beiden. Er schlank und blond, sie braunhaarig und eher kräftig gebaut. Er begeisterungsfähig, einfühlsam und ein wenig weltfremd, sie realistisch, kühl und reserviert. Wie sollen die beiden Geschwister sein?
Hatte er Doris jemals als seine Ehefrau bezeichnet? Hatte er sie nicht immer allein mit dem Vornamen angesprochen? Und Doris Kortner? Tilly grub in ihrem Gedächtnis, war sicher, dass Doris Kortner sich bei einer Gelegenheit seine Frau genannt hatte, konnte sich allerdings nicht erinnern, wann das gewesen war.
Sollte sie ihn einfach fragen? Wenn es nicht stimmte, wie lächerlich stand sie dann da? Und überhaupt – er hätte irgendwann bemerken müssen, dass sie etwas falsch verstanden hatte. Dann hätte er sie längst über ihren Irrtum aufgeklärt. Nein, es war besser, den Mund zu halten.
Als sie aber hinüber ins Wartezimmer ging, um den nächsten Patienten zu sich zu bitten, traf sie im Flur zufällig mit Dr. Kortner zusammen.
»Viel zu tun, wie?«, fragte er sie lächelnd im Vorübergehen. »Gerade hat mein Patient ein Loblied auf Sie gesungen, Sie haben seine Frau vom Nesselfieber geheilt.«
Das war zum Lachen, weil der Ausschlag normalerweise von selbst verschwand, sie hatte seiner Frau lediglich eine Salbe gegen den Juckreiz verordnet. Und dann tat sie es doch. Sie stellte ihn auf die Probe.
»Ach, Dr. Kortner. Sagen Sie Ihrer Schwester bitte, dass in meinem Behandlungszimmer Verbandsstoff fehlt.«
Er blieb wie festgenagelt stehen, dann drehte er sich zu ihr um. In diesem Moment begriff Tilly, dass die Patientin die Wahrheit gesagt hatte. Dr. Jonathan Kortner sah aus wie ein ertappter Sünder.
»Wem soll ich das sagen?«, fragte er, bemüht, ein erstauntes Gesicht zu machen.
»Doris. Ihrer Schwester, Herr Dr. Kortner! «
Er wartete, bis sie, gefolgt von einer Patientin, zurück in den Flur trat. Dort blieb er stehen, fasste sie beim Arm und zog sie auf die Seite. »Bitte, Frau von Klippstein. Ich kann Ihnen alles erklären«, flüsterte er unglücklich.
»Später, Herr Dr. Kortner. Ich habe eine Patientin«, gab sie kurz angebunden zurück.
Bis zum Abend kam sie kaum dazu, über diese skurrile Sache nachzudenken, weil sie einen Patienten nach dem anderen untersuchte. Der März war kühl und feucht, viele Menschen litten unter fiebriger Erkältung, Mandelentzündung, Ohrenschmerzen oder an einem Infekt der Harnwege, des Magen-Darm-Trakts. Als der letzte Patient gegangen war, saß sie erschöpft und ratlos in ihrem Untersuchungszimmer und wusste nicht, was sie tun sollte. Seine Reaktion vorhin auf dem Flur hatte sie vollends irritiert. Warum nur? Was steckte dahinter?
Jemand klopfte an ihre Tür, Tilly fuhr von ihrem Sitz auf. »Ja, bitte?«
Es war Doris Kortner. Ihre Miene zeigte Schuldbewusstsein und zugleich eine gewisse Verärgerung. »Kommen Sie bitte zu uns herüber, Frau von Klippstein. Jonathan und ich möchten Ihnen etwas erklären.«
Tilly hatte plötzlich das Gefühl, davonlaufen zu müssen. Sie hatte sich in diesen Mann verliebt – warum tat er ihr ein solches Durcheinander an? Hatte sie ihm vielleicht zu viel Entgegenkommen gezeigt, sodass er sich auf diese Weise vor ihr schützen wollte? Was für ein furchtbarer Gedanke! Nein, sie war jetzt nicht in der Lage, sich lange Erklärungen anzuhören.
»Bedauere. Ich werde zu Hause erwartet. Würden Sie mir bitte eine einzige Frage beantworten, Frau Kortner?«
Die Schwester des Arztes war überrascht, vermutlich war sie der festen Überzeugung gewesen, Tilly würde ihr bereitwillig ins Sprechzimmer folgen. »Was wollen Sie wissen?«, gab sie stirnrunzelnd zurück.
»Wer von Ihnen beiden hat sich dieses Spiel ausgedacht? Sie oder Ihr Bruder?«
Doris Kortner schüttelte den Kopf und erklärte, dass es sich um ein Missverständnis handele. Niemand habe irgendein Spiel mit ihr getrieben. »Sie haben etwas missverstanden, und wir haben uns mit der Aufklärung ein wenig Zeit gelassen. Das ist alles.«
»Sieht Ihr Bruder das genauso?«
»Gehen Sie hinüber, und fragen Sie ihn!«
Es reichte. Tilly war so gedemütigt und verletzt, dass sie wortlos aufstand und ihren Mantel überzog. Ohne einen Gruß verließ sie die Praxis, am liebsten hätte sie den beiden ihre Kündigung auf den Schreibtisch geworfen, um nie wieder an diesen Ort zurückkehren zu müssen. In der Frauentorstraße war sie schweigsam, erklärte Kitty und ihrer Mutter, sie sei erschöpft, und begab sich früh zu Bett.
Dort lag sie schlaflos in den Kissen und grübelte darüber nach, was sie tun sollte. War alles vielleicht allein ihre Schuld? Nichts weiter als ein lächerliches Missverständnis? Tat sie den beiden Unrecht? War ihre beleidigte Reaktion heute Abend dumm und albern gewesen? Sie entschloss sich, am folgenden Tag um ein Gespräch zu bitten – es hatte keinen Zweck, den Kopf in den Sand zu stecken, sie musste sich der Situation stellen. Egal, ob es schrecklich peinlich und demütigend sein würde.
Am Morgen wurde sie von Kitty geweckt, die einfach in ihr Schlafzimmer drang und sich auf ihre Bettkante setzte. »Tillylein, du hat verschlafen, meine Süße. Macht nichts, du arbeitest sowieso viel zu viel. Deine liebe Mutter hat Pfannkuchen zum Frühstück gemacht, die leider ein wenig verbrannt sind, deshalb haben wir Puderzucker drübergestreut, da merkt man es nicht so. Ach ja: Dein schrecklicher Noch-Ehemann wollte dich am Telefon sprechen, und außerdem hat der Oberarzt vom Krankenhaus zweimal angerufen.«
Tilly war auf einen Schlag hellwach und setzte sich im Bett auf. »Was hast du gesagt? Dr. Peuser hat angerufen? Geht es Paul etwa schlechter?«
»Aber nein!«, rief Kitty, die bereits in den Flur gelaufen war. »Paul geht es gut. Der schöne Herr Dr. Peuser mit den grauen Schläfen wollte irgendetwas anderes von dir. Vermutlich hast du ihm den Kopf verdreht, und er will dich zu einem Schäferstündchen im OP überreden.«
»Ach, Kitty!«, stöhnte Tilly, die ihre Schuhe unter dem Bett hervorangelte. »Kannst du nicht einmal deine albernen Scherze lassen?«
»Meine Güte, Tilly! Du bist demnächst ein freier Mensch, und es wird Zeit, dass du endlich einmal Erfahrungen auf diesem Gebiet sammelst. Oder willst du eine alte Jungfer werden? Das wäre wirklich schade um dich, Tillylein!«
Tilly stieß einen Seufzer aus. Kitty war nun einmal so, wie sie eben war, es hatte keinen Zweck, mit ihr zu diskutieren. Selbst wenn diese Anspielungen ihr gerade jetzt sehr wehtaten.
Um einen anderen Fehler wiedergutzumachen, rief sie ihren Mann in München an. Ausnahmsweise hatte sie einmal Glück, dass Ernst zu Hause war und den Hörer abnahm.
»Es tut mir schrecklich leid, dass ich den Gerichtstermin verpasst habe«, sagte sie. »Es kam ein Notfall dazwischen, Paul hatte einen Zusammenbruch.«
»Ich weiß«, erwiderte er kurz angebunden. »Ich habe meine Einwilligung zu einer Scheidung und meine Bedingungen schriftlich niedergelegt, sie werden dir in Kürze zugestellt. Vermutlich wird das Gericht einen zweiten Termin ansetzen.«
»Das wird leider so sein.«
»Ich hoffe sehr, dass du dann anwesend sein wirst.«
»Ganz sicher.«
»Dann ist wohl alles zwischen uns gesagt. Schönen Tag noch.«
»Dir auch einen …«
Er hatte schon aufgelegt. Wie ärgerlich das alles war! In letzter Zeit ging in ihrem Leben wirklich alles Mögliche schief, sie hatte das Gefühl, beständig gegen neue, auf sie einstürzende Katastrophen zu kämpfen. Da sie einen freien Vormittag hatte, ging sie erst einmal hinunter ins Wohnzimmer, wo man mit dem Frühstück auf sie wartete.
Wie üblich empfing ihre Mutter sie mit vorwurfsvoller Miene. »Du siehst heute wieder aus wie ausgespuckt, Tilly. Das kommt daher, weil du so unregelmäßig isst. Wir warten seit einer Viertelstunde auf dich.«
Trotz allem war das Frühstück gemeinsam mit Kitty, Robert und Gertrude ein Balsam für ihre wunde Seele, denn die Gespräche lenkten sie von den eigenen Sorgen ab. Man sprach über Paul, machte sich Gedanken um die Fabrik und um die Tuchvilla. Robert erzählte, dass die Rückzahlung des Kredits immerhin noch einmal für vier Wochen ausgesetzt worden sei, mehr habe er nicht erreicht.
»Du hättest diesen gierigen Bankmenschen erschießen können«, widersprach Kitty ärgerlich. »Dann müsste der arme Paulemann das Geld überhaupt nicht zurückzahlen.«
»Du möchtest mich wohl im Zuchthaus sehen, Liebling?«, unterstellte Robert erheitert. »Dabei glaubte ich bisher, unsere Ehe sei glücklich. «
»Du hast mich durchschaut, Robert Scherer«, tat Kitty zerknirscht. »Ich brüte seit Langem darüber nach, wie ich dich loswerden könnte, weil ich unsterblich in Rechtsanwalt Grünling verliebt bin und jede Nacht von ihm träume.«
»Weißt du, was, mein Schatz«, versetzte Robert grinsend. »Ich gönne ihn dir von Herzen.«
»Du Schuft!«, rief Kitty und zog ihn kräftig am Ohr, was er sich ohne Widerstand gefallen ließ.
»Wann werdet ihr beiden endlich erwachsen?«, seufzte Gertrude.
Tilly genoss die entspannte Atmosphäre und wünschte, sie würde nicht enden, doch nach dem Frühstück brach der Alltag erneut über sie herein. Zurück in ihrem Zimmer dachte sie über die bevorstehende Aussprache nach. Wo lag überhaupt das Problem? Dr. Kortner war ein charmanter Mann, hatte ein wenig mit ihr geflirtet, weil er sie als Partnerin für seine Praxis benötigte. Mehr nicht. Erst als er bemerkte, dass sie sich verliebt hatte, trat er den Rückzug an. Da war ihm das Missverständnis mit der Ehefrau sehr willkommen gewesen, und er hatte es vorsichtshalber nicht aufgeklärt. Seufzend gestand sie sich ein, dass sie in Liebesdingen nun einmal sehr unerfahren war und dass jeder ihr ansehen konnte, was in ihrem Herzen geschah. Vielleicht hatte Kitty nicht unrecht: Eine Frau von heute sollte Erfahrungen mit Männern haben. Leider war sie nun mal nach den Regeln des vergangenen Jahrhunderts erzogen worden, die besagten, dass ein Mädchen ahnungslos und jungfräulich vor den Traualtar zu treten habe. Was sie damals sogar getan hatte. Und das war das Peinlichste an der ganzen Geschichte, denn an dem Zustand der Jungfräulichkeit hatte die Ehe mit Ernst nichts geändert.
Sie beschloss, erst einmal zur Klinik zu fahren, um sich nach Pauls Zustand zu erkundigen und sich bei Dr. Peuser zu melden, der vielleicht noch eine Auskunft benötigte. Erst danach würde sie den schweren Weg zu Dr. Kortners Praxis antreten. Ach, wenn sie es bloß schon hinter sich hätte!
Doch dann nahm dieser Tag eine ganz unerwartete, wundervolle Wendung.
An der Pforte der Klinik wurde sie diesmal von der diensthabenden jungen Nonne mit einem herzlichen Lächeln begrüßt. »Frau von Klippstein. Oberarzt Dr. Peuser erwartet Sie bereits. Links den Flur hinunter das dritte Zimmer. Sein Name steht an der Tür.«
Hoffentlich hatte sich nicht noch eine schlimme Diagnose ergeben, dachte sie beklommen. Würde Paul lebenslang mit einer Herzschwäche zu kämpfen haben? Das wäre gut möglich, allerdings hatte sie gehofft, dass er noch einmal davonkommen würde. Mit bangen Ahnungen klopfte sie an die Tür und wurde von einer Angestellten empfangen.
»Einen Augenblick bitte, Frau von Klippstein. Herr Dr. Peuser wurde gerade zu einem Patienten gerufen. Sie können hier auf ihn warten.«
»Geht es vielleicht um den Patienten Paul Melzer, der vorletzte Nacht eingeliefert wurde?«
»Bedaure, darüber darf ich keine Auskunft erteilen.«
Natürlich durfte sie das nicht, warum stellte sie überhaupt so dumme Fragen. Eine Weile saß sie unruhig in dem mit dunklen Möbeln ausgestatteten Raum, sah immer wieder auf die Uhr, weil sie zur Mittagspause in der Praxis sein wollte. Endlich trat er ein.
»Guten Morgen, Frau von Klippstein«, sagte er fröhlich und reichte ihr die Hand. »Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten. Sie wissen ja … «
»Natürlich.«
Tilly war erleichtert. Es konnte sich auf keinen Fall um eine schlechte Nachricht handeln, sonst wäre er nicht so heiter und unbefangen auf sie zugegangen. Jetzt nahm er an seinem Schreibtisch Platz und sah sie erwartungsvoll an.
»Haben Sie Ihre Papiere mitgebracht?«, fragte er. »Dann können wir die Angelegenheit gleich in die Wege leiten.«
Sie starrte ihn verblüfft an. »Meine … Papiere?«
Er machte eine ärgerliche Bewegung und seufzte. »Ich habe befürchtet, dass man Ihnen mein Anliegen unvollständig ausrichten würde. Die junge Dame am Telefon kam mir ein wenig desorientiert vor. Wenngleich sehr charmant, das muss ich zugeben. Ihre Schwägerin, nicht wahr?«
»Wenn Sie Frau Scherer meinen – ja, das ist meine Schwägerin. Sie war vorgestern Nacht hier in der Klinik.«
»Richtig«, meinte er schmunzelnd. »Ich erinnere mich. Jetzt aber zu Ihnen, Frau von Klippstein. Wir haben nämlich eine Vakanz, und ich möchte Sie für die Stelle vorschlagen. Ich weiß, dass Sie momentan in einer Arztpraxis arbeiten, doch vielleicht haben Sie ja Lust, sich zu verändern? Jedenfalls würde ich mich sehr freuen.«
Ein Stellenangebot. Ganz unverhofft und ohne dass sie sich darum bemüht hätte! Gab es tatsächlich noch Wunder auf dieser Welt? Oder erwartete sie eine neue Enttäuschung?
»Ich würde wirklich sehr gern hier in der Klinik arbeiten«, begann sie zögernd. »Es ist leider so, dass es in der Schwabinger Klinik einige, nun ja, Komplikationen gegeben hat, und von daher sind meine Zeugnisse nicht sehr vorteilhaft.«
Der Oberarzt saß vornübergebeugt am Schreibtisch, hatte die Arme aufgestützt und betrachtete sie mit einem seltsamen Schmunzeln.
»Das ist mir bekannt, Frau von Klippstein. Ich habe gestern Erkundigungen eingezogen, Professor Sonius ist ein Studienkollege. Nun, ich will keine weiteren Details unseres Telefonats preisgeben – die Angelegenheit tut ihm sehr leid, und er hat Sie mir als hervorragende Ärztin empfohlen. Was sagen Sie dazu?«
Tilly blieb die Sprache weg. Der Chefarzt in Schwabing hatte sie als Bauernopfer missbraucht, obwohl er in Wirklichkeit ganz genau über die wahren Vorgänge in der Klinik Bescheid gewusst hatte. Und nun empfahl er sie an seinen Kollegen. Sozusagen aus schlechtem Gewissen. Was war das für eine Welt?
»Verzeihung«, sagte sie und musste schlucken. »Ich bin einigermaßen erstaunt.«
Dr. Peuser bedachte sie mit einem geradezu väterlichen Lächeln und streckte ihr die Hand entgegen. »Sagen Sie Ja, Frau von Klippstein. Wir brauchen Mediziner wie Sie. Schicken Sie mir Ihre Papiere zu, und ich leite die Angelegenheit weiter. Ich denke, wir machen mit Ihnen einen guten Fang!«
Sie ergriff die dargebotene Hand und ging ein wenig taumelig, aber beschwingt zum Ausgang der Klinik. Erst als sie draußen stand, fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, nach Paul zu fragen. Es würde alles in Ordnung sein, beruhigte sie sich. Sonst hätte er es ihr bestimmt gesagt.
Die Sonne schien warm auf die Stadt, überall zeigte sich das erste Grün, Krokusse und Tulpen sprossen aus den Beeten. Ostern war nicht mehr weit.
Konnte es sein, dass das Blatt sich wirklich gewendet hatte? Tilly hatte keine Angst mehr vor der anstehenden Aussprache. Es war ganz einfach: Sie würde kündigen, weil sie ein gutes Stellenangebot erhalten hatte. Eine saubere Lösung, die es ihr erlaubte, mit erhobenem Kopf aus der dummen Geschichte herauszukommen.
Nur ein Stachel in ihrem Herzen würde bleiben, doch ihr dummes Herz zählte nicht. Wann immer sie ihrem Herzen gefolgt war, hatte es ihr nichts als Kummer gebracht.