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anz hervorragend, Leopold«, sagte der Klassenlehrer. »Du hast dich in diesem Halbjahr vom zwanzigsten auf den dritten Platz vorgearbeitet. Weiter so!«
Leo nahm das Jahreszeugnis aus der Hand seines Lehrers, bedankte sich und machte einen Diener, wie es üblich war in der Schule. Von neidischen Blicken seiner Mitschüler begleitet, setzte er sich wieder auf seinen Platz und steckte das Zeugnis gleichgültig in die Schultasche. Dritter! Was für eine Enttäuschung. Daran war das elende Fach Mathematik schuld, das hatte ihn den Platz des Klassenprimus gekostet. Dabei hatte er gebüffelt wie ein Verrückter, aber dieser Mist wollte einfach nicht in sein Hirn hinein.
Sein Freund Walter war nur Fünfter geworden, weil er in Latein und Griechisch durchhing, es schien ihn jedoch nicht weiter zu stören, er saß auf seinem Platz und starrte abwesend vor sich hin. Leo vermied es, mit ihm zusammenzutreffen, weil er seine begeisterten Berichte über den neuen Geigenlehrer am Konservatorium nicht hören mochte. Walter hatte riesige Fortschritte gemacht, war neulich sogar in der Zeitung erwähnt worden und hatte beim Vorspielabend mit dem Presto aus Bachs Violinsonate Nummer eins geglänzt. Für Leo hingegen war alles, was mit dem Konservatorium zu tun hatte, Schnee von gestern. Vielleicht war die Musik tatsächlich seine Bestimmung. Aber seine Aufgabe in diesem Leben war die Fabrik seines Vaters
.
Am letzten Schultag vor den Osterferien wurden viele Schüler von den Eltern oder deren Angestellten abgeholt. Auf Leo wartete Tante Kitty in ihrem klapprigen Auto. Da die Sonne schien, hatte sie das Verdeck zurückgeschoben, und er sah, dass sie sich angeregt mit Frau Ginsberg unterhielt, und natürlich stand Walter dabei.
»Ja, ich bin sehr froh, dass es endlich geklappt hat«, hörte er Tante Kitty sagen. »Mein Robert hat sich ganz fürchterlich ins Zeug gelegt und einen Haufen Briefe hinübergeschickt.«
»Ich bin Ihrem Gatten zu großem Dank verpflichtet«, erklärte Frau Ginsberg. Walter sagte nichts, er schien nicht so froh wie seine Mutter.
»Ach, Leo!«, rief Tante Kitty und winkte aufgeregt ihrem Neffen. »Du weißt es noch gar nicht. Walter und seine Mama werden über den großen Teich nach Amerika reisen.«
Leo verspürte einen Stich im Herzen. Nach Amerika! »Für immer?«, fragte er und sah seinen Freund zweifelnd an.
Der nickte düster. »Mama will es so«, sagte er. »Weil sie Angst hat, dass sie Leuten wie uns hier noch mehr antun. Und weil sie sowieso keine Arbeit mehr findet.«
Mamas Atelier war vorläufig geschlossen, da hatte sich Frau Ginsberg im Konservatorium als Klavierlehrerin beworben, war allerdings abgelehnt worden.
»Es ist sehr schade um eure Freundschaft, Leo.« Frau Ginsberg sah ihn traurig an. »Aber ihr werdet euch Briefe schreiben. Und wer weiß? Vielleicht besuchst du uns ja einmal in der Neuen Welt.«
»Wann …«, Leo musste sich räuspern, um die Worte herauszubringen. »Wann fahrt ihr denn?«
»Gleich nach Ostern, Leo. Bis dahin könnt ihr beiden
euch noch ein paarmal sehen und miteinander musizieren, nicht wahr, Walter?«
»Ja, Mama«, gab Walter mit gepresster Stimme zur Antwort. »Wenn Leo Lust hat, Klavier zu spielen …«
»Hab ich.« Leo gab sich einen Ruck. Es ging nicht an, dass er Walter so gehen ließ. »Heute geht’s leider nicht, weil wir Papa im Krankenhaus besuchen. Soll ich morgen mal bei euch vorbeikommen?«
»Es ist besser, wenn Walter in die Tuchvilla kommt«, meinte Frau Ginsberg. »Bei uns ist schon alles in Kisten und Koffern verpackt, und mein Klavier habe ich verkauft. Wir fangen ganz von vorne an in Iowa. Dort werde ich in einem Shop arbeiten, und Walter wird in Charles City die Schule besuchen.«
»Schön«, sagte Leo, obgleich er das alles gar nicht schön fand. »Dann bis morgen um zehn in der Tuchvilla, Walter.«
Er stieg zu Tante Kitty ins Auto und war froh, nicht mehr reden zu müssen, weil Tante Kitty wie üblich ohne Punkt und Komma schwatzte.
»Na, bist du mit deinem Zeugnis zufrieden, Leolein? Henny war ja reichlich faul in diesem Schuljahr, sie hat die Versetzung gerade eben geschafft. Dabei könnte sie viel bessere Noten haben, bloß ist meine Henny so gar nicht an der Schule interessiert … Ach, die arme Frau Ginsberg, sie wird es schwer haben, da drüben in Iowa. Robert hat ja gehofft, sie in New York oder in Boston unterzubringen, doch das hat sich alles zerschlagen. Amerika ist auch nicht mehr das, was es mal war, die Wirtschaftskrise hat die Amis schrecklich gebeutelt, alles liegt darnieder, und die Straßen sind voller arbeitsloser Menschen. In Iowa ist Farmland, dort sei die Welt noch in Ordnung, hat Robert gesagt, von Kultur hingegen keine Spur. Der ar
me Walter wird vorerst wohl keinen vernünftigen Unterricht erhalten … Ach ja, da ist ein Brief von Henny, den soll ich dir geben … Huhu, Dodolein! Da hinüber, hier kann ich mit dem Auto nicht halten … Noch ein Stückchen weiter … Ach verflixt, jetzt fängt er erneut an zu mucken.«
Dodo wartete auf sie am Perlachberg. Sie war von Freundinnen umringt, denen sie irgendetwas Aufregendes erzählte, wahrscheinlich ging es wieder einmal um irgendeine Fliegerin, die in Afrika oder in einer anderen Wildnis gelandet war. Wie hieß sie gleich? Nelly Einhorn oder so …
»Hast du die Handbremse nicht gelöst, Tante Kitty«, fragte die Nichte beim Einsteigen. »Es riecht grauenhaft verbrannt.«
»Ach du liebe Zeit, schon wieder! Das ist alles die Aufregung wegen Paulemann, es macht mich ganz nervös, dass er immer noch in dieser hässlichen Klinik liegen muss. Und derweil geht es in der Fabrik drunter und drüber. Aber das dürft ihr eurem Papa auf keinen Fall erzählen, ja?«
Leo und seine Schwester wussten das längst. Mama war kaum noch in der Tuchvilla anzutreffen; wenn sie nicht bei Papa im Krankenhaus saß, steckte sie in der Fabrik.
»Sie kriegen die Ringspinner nicht in Gang«, hatte Dodo ihrem Bruder aufgeregt erzählt. »Ich habe Mama gesagt, dass ich weiß, wie es geht. Sie will mir trotzdem nicht erlauben, die kostbaren Maschinen auch nur anzufassen …«
Leo stopfte Hennys Brief zu dem Zeugnis in die Schultasche und musste dabei über das naseweise Gehabe seiner Schwester grinsen.
Ich weiß, wie das geht
, war ihr Standard- und Lieblingsspruch. Ob Auto, Flugzeug oder
Dampfmaschine, Dodo Schlaumeier wusste immer alles ganz genau.
Nach dem Mittagessen saß Leo in seinem Zimmer und starrte das Klavier an. Seit Monaten hatte er nicht einmal mehr den Deckel über der Tastatur angehoben, die Noten lagen in wohlgeordneten Stapeln auf dem Instrument, und die Pedale waren mit Staub bedeckt, weil Else immer nur obenherum abstaubte. Er stand auf und ging im Zimmer herum, zweimal dicht am Klavier vorbei, beim dritten Mal berührte er den Deckel ganz vorsichtig mit den Fingern und zuckte zurück, als hätte er eine heiße Herdplatte angefasst. Nie wieder, hatte er sich geschworen. Durfte man eigentlich einen Schwur brechen, den man sich selbst gegeben hatte?
Für ein paar Tage, dachte er. Weil ich Walter nicht so gehen lassen kann. So ganz ohne Musik. Und danach spiele ich nie wieder. Ganz bestimmt nie wieder!
Er zog den Schemel zurück und setzte sich. Holte tief Luft und hob den Deckel an. Der dunkelrote Tastenschoner aus Filz war verknittert, weil er ihn nicht sorgfältig an seinen Platz gelegt hatte. Damals, als er noch auf dem Konservatorium Unterricht gehabt hatte. Er vermied es, weiterzudenken. Nicht an ihren Namen. Nicht an ihr Gesicht. Auf keinen Fall an ihre Bluse und das andere, von dem er so oft geträumt hatte …
Als er die Hände auf die Tasten legte, bewegten sich seine Finger wie von selbst. Beethoven. Mondscheinsonate. Erster Satz. Kahle Berglandschaft, fahles Licht, karg, weit, unendlich einsam. Die Stimmung umfing ihn und schloss ihn ein. Nie zuvor hatte er diesen ersten, ruhigen Satz so intensiv empfunden, hatte eher den zweiten Satz geliebt, weil er wild und atemlos war, Gewitter mit Blitzen und
Donnerschlägen, rasende Arpeggien, die aufgeregte, entfesselte Natur. Dabei war der erste Satz viel großartiger. Zauberte mit ein paar Tönen eine tiefe Düsternis herauf, eine ruhende, schwermütige Welt …
»Leolein! Wie schön, dass du wieder Klavier spielst«, klang eine Stimme von der Treppe her. »Aber wir müssen los, dein Papa wartet auf euch.«
Tante Kitty. Wer sonst konnte solch eine grandiose Stimmung mit einem einzigen Wort zerreißen?
Leolein.
Wie er es hasste, wenn sie ihn so nannte.
»Ich komme gleich.«
Das blöde Zeugnis nahm er nicht mit in die Klinik, schließlich sollte er seinen Vater ja nicht aufregen. Dodo machte es ebenso, obgleich sie Klassenerste geworden war. Ihr ging es darum, den Bruder nicht in den Schatten zu stellen.
Papa ging es zum Glück besser. Er lag nicht mehr in dem weißen Krankenhausbett, sondern saß auf einem Stuhl am Fenster und las die Zeitung. Zudem trug er nicht mehr das komische Krankenhaushemd, sondern seinen eigenen Pyjama und den Morgenmantel, den er immer anzog, wenn er ins Badezimmer ging.
»Nun, ihr beiden, begrüßte er sie. »Zufrieden mit den Zeugnissen? Na schön, ich stelle heute ausnahmsweise keine Fragen. Mögt ihr Schokolade? Tante Lisa hat sie mir mitgebracht. Verratet ihr nichts, dann darf jeder von euch ein Stück davon essen.«
Papa war ungewöhnlich lieb und großzügig, er schenkte ihnen die ganze Tafel Milchschokolade, und sie durften ihn auf einem kurzen Spaziergang durch den Flur begleiten.
Er sagte ganz seltsame Dinge. Dass er jetzt erst begriffen habe, wie kostbar das Leben sei, und dass man nicht
sorglos und verschwenderisch mit seinen Kräften umgehen dürfe.
»Ihr müsst eurer Mutter wirklich zur Seite stehen. Du, Dodo, wirst ihr bei den häuslichen Obliegenheiten zur Hand gehen, und du, Leo, könntest in der Fabrik mithelfen. Wollt ihr das tun?«
»Ja, Papa!«, versicherten beide einstimmig.
Nachdem er sie verabschiedet hatte, legte er sich wieder in das Krankenhausbett, um sich eine Spritze geben zu lassen und einen Kamillentee zu trinken.
»Papa ist richtig altmodisch«, lästerte Dodo, die in der Straßenbahn neben ihm stand und sich an einem Metallgriff festhielt, weil die Tram so wackelte. »Wieso soll ich Mama bei den häuslichen Obliegenheiten helfen, und du darfst dich um die Fabrik kümmern?«
»Weil du eben ein Mädchen bist«, gab Leo zurück.
Wie er Mama in der Fabrik unterstützen sollte, war ihm zwar unklar, doch er war zu allem bereit. Wenn es nur nichts mit Zahlen oder Mathematik zu tun hatte.
An der Pforte der Fabrik begrüßte sie der alte Gruber. »Hast deine Schwester mitgebracht, wie?«
»Ja, wir kommen heute zu zweit.«
»Deine Mutter ist übrigens drüben in der Halle. Stört sie besser nicht, die sind alle schwer beschäftigt.«
Sie liefen über den Hof, der leer und trostlos wirkte. Leo war zuletzt mit seinem Vater vor ein paar Wochen hier gewesen, seitdem waren viele Mitarbeiter verschwunden, hatten entlassen werden müssen. Drüben in der Weberei liefen noch Maschinen, beim Druck herrschte Totenstille. Vor dem Verwaltungsgebäude stand ein Arbeiter und stützte sich auf seinen Besen – als er den Sohn des Direktors erkannte, begann er eifrig den Eingang zu kehren
.
In der Spinnerei waren mehrere Männer mit den beiden Ringspinnern beschäftigt, zwei schraubten daran herum, die anderen sahen zu und redeten durcheinander. Ihre Mutter stand mitten zwischen ihnen, hatte die alten Pläne auf einem Tisch ausgebreitet und die Ränder mit Backsteinen beschwert, damit sich das Papier nicht zusammenrollte.
»Die Maschinen laufen immer noch nicht«, flüsterte Dodo ihrem Bruder zu. »Wie dumm die alle sind!«
Leo gab ihr keine Antwort. Manchmal war seine Schwester schrecklich peinlich. Jetzt lief sie zu Mama und sagte irgendetwas, doch die machte eine abwehrende Bewegung und drehte sich zu einem der Männer um. Das war der Mittermayer, den hatte Papa ihm einmal vorgestellt, als die Fabrik noch viele Aufträge hatte und Mittermayer Spinnmeister war. Kurz darauf gab es Streit.
»Nimm deine Finger da weg, Mädel«, rief einer der Arbeiter. »Sonst klemmst du sie dir ein.«
»Ich weiß, was ich tue«, fauchte Dodo ihn an. »Das Teil ist falsch herum eingebaut. Deshalb gehen die Maschinen nicht.«
Gelächter war zu hören. Mama kam zu ihr herüber und fasste sie beim Arm. »Bitte, Dodo. Stör uns nicht, und fahr mit Leo zur Tuchvilla zurück.«
»Nein, Mama! Ich weiß, dass ich recht habe. Hört mir endlich mal zu. Die Spindelbank ist es. Sie ist falsch aufgesetzt, und deshalb reißen die Fäden.«
Jetzt lachten die Männer nicht mehr, sie waren vielmehr ungehalten, Mittermayer schob Dodo kopfschüttelnd beiseite, schraubte irgendwo am Streckwerk herum und legte die gelösten Schrauben in eine Schale.
»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe, Dodo«, kam es von Mama in ungewohnter Schärfe. »Du verlässt
auf der Stelle die Halle. Heute Abend unterhalten wir uns.«
Das hatte sie nun davon, seine dumme Schwester. Warum musste sie sich immer einmischen? Leo ging schon mal zum Hallenausgang, um auf sie zu warten, und hoffte inständig, dass Dodo zur Vernunft gekommen war.
»Na endlich!«, seufzte er, als sie mit düsterer Miene am Ausgang erschien.
»Komm schnell!«, sagte sie.
Wieso hatte sie es auf einmal so eilig? Er lief hinter ihr her, winkte Gruber an der Pforte freundlich zu und bekam ein zerstreutes Nicken zur Antwort. Gruber las seine Zeitung und schaute kurz zu ihnen auf, das Tor war sowieso offen. Dodo stürmte voran, sie ging leicht nach vorn gebeugt, die Arme vor der Brust gekreuzt. Heulte sie?
»Was hast du?«, fragte ihr Bruder. »Bist du beleidigt, weil sie dir nicht zugehört haben? Meine Güte, Dodo! Das sind alles Fachleute, die jahrelang mit den Maschinen gearbeitet haben. Denen kannst du nicht erzählen, dass du mehr verstehst als sie!«
Seine Schwester gab keine Antwort, sondern hastete schnell voran. Erst als sie bereits in der Allee der Tuchvilla waren, fiel bei Leo der Groschen.
»Was hast du da unter deinem Mantel? Doch nicht etwa …?«
Sie blieb stehen und sah ihn mit zusammengekniffenen grauen Augen an. Drohend und wild entschlossen war dieser Blick. Man konnte fast Angst vor ihr bekommen.
»Du verrätst mich hoffentlich nicht, oder?«
Er konnte es nicht fassen, sie hatte die Pläne mitgenommen. Wenn Mama das merkte, war eine satte Strafe fällig
.
»Ich verrate dich nicht, Dodo«, sagte er. »Aber du bekommst mindestens drei Wochen Hausarrest, wenn das herauskommt, die ganzen Osterferien!«
Sie warf verächtlich das kurze Haar zurück. »Ist mir egal!«
Beim Abendessen fehlte Mama wieder einmal, was die Großmutter mit einem Seufzer zur Kenntnis nahm. »Ich verstehe Maries Verhalten nicht. Gut, sie muss sich um die Fabrik kümmern, aber Paul war stets pünktlich zur Abendmahlzeit am Tisch.«
Tante Lisa rettete die Lage, indem sie der Großmama anbot, sie morgen zur Klinik zu begleiten, damit sie sich von Pauls Genesung überzeugen konnte.
»Wenn es denn sein muss«, räsonierte sie. »Ich hasse Krankenhäuser. Sagtest du nicht, er werde sowieso bald entlassen werden?«
Es gab Kartoffelsalat mit Ei zum Abendessen und dazu Schinkenbrot. Dodo stocherte lustlos auf ihrem Teller herum und schob Leo ihr Ei herüber. Sie war schrecklich ungeduldig, weil sie die Pläne in ihrem Zimmer versteckt hatte und sie studieren wollte, bevor Mama zurückkam. Leider wünschte die Großmama die Zeugnisse zu sehen, und man musste hinauf ins Zimmer laufen, um das Dokument zu holen.
»So ein Mist!«, stöhnte Dodo. »Nie bekommt sie etwas Wichtiges mit, doch dass es heute Zeugnisse gab, das hat sie sich gemerkt.«
Alicia Melzer erwartete sie im roten Salon und hatte ihre Geldbörse mitgebracht. Für ein gutes Zeugnis gab es fünf Reichsmark, das war immerhin etwas. Vor allen Dingen jetzt, wo das Geld in der Tuchvilla knapper war denn je
.
»Sehr schön, Leo«, lobte sie ihn, nachdem sie die Brille aufgesetzt und sein Zeugnis studiert hatte. »Der dritte Platz. Das sah im Sommer noch anders aus, wie?«
In manchen Dingen besaß sie nach wie vor ein phänomenales Gedächtnis, die liebe Großmama. Auch Dodo, die vor Ungeduld fast verging, bekam ein Lob, und schließlich erhielten beide je ein silbernes Fünfmarkstück. Leo fand es zwar etwas ungerecht, weil er bloß dritter, Dodo hingegen Klassenerste war, aber er sagte nichts – die Großmama war eben altmodisch, daran konnte man nichts ändern.
»Weiter so, meine Lieben«, sagte sie lächelnd zum Abschluss. »Ihr beide habt mir heute viel Freude gemacht. Habt eine gute Nacht.«
Es war noch zu früh, um schlafen zu gehen. Leo saß auf seinem Bett und überlegte ernsthaft, ob er sich nicht ans Klavier setzen sollte. Morgen kam Walter zu ihm, dann würden sie die alten Stücke noch einmal durchspielen, und er war sich nicht sicher, ob er das hinbekam, ohne vorher zu üben. Das war er dem Freund einfach schuldig. Es ging nicht an, dass er herumstümperte, wenn sie in der Musik, die ihre gemeinsame Leidenschaft war, voneinander Abschied nahmen. Entschlossen stand er auf, um die Noten herauszusuchen, und trat auf ein Stück Papier, das vor ihm auf dem Teppich lag. Ach, das war der Brief, den Tante Kitty ihm gegeben hatte. Von Henny. Was würde das wohl sein? Nun ja, er würde es sehen.
»Dorothea!«
Er hielt inne, denn Mamas Stimme klang fürchterlich zornig. Oha! Jetzt kam das Donnerwetter. Und zwar gewaltig.
»Ich habe die Pläne genommen, weil ich alles noch einmal nachprüfen wollte«, sagte Dodo mit schuldbewusster
Piepsstimme. »Ich weiß genau, woran es liegt, Mama. Bitte, ich zeige es dir … morgen früh oder gleich, wenn du willst.«
Leo hörte Papier knistern und vermutete, dass seine Mutter die Pläne an sich genommen hatte. Er konnte sich ihr Gesicht sehr gut vorstellen. Sie veränderte keine Miene, dennoch wusste man genau, dass sie unfassbar zornig war.
»Ich will dich in den nächsten Tagen nicht mehr sehen, Dodo. Du hast bis Ende der Ferien Hausarrest.«
Mama schrie nicht, sie sagte es ganz leise und ruhig. Dann verließ sie Dodos Zimmer, schloss die Tür hinter sich, und man hörte, wie sie die Treppe hinunterlief und in Papas Büro ging.
Eine Weile war es still. Die Ruhe nach dem Gewittersturm. Leo warf den Brief zurück in die Schultasche, holte tief Luft und entschloss sich, hinüber zu seiner Schwester zu gehen. Gut, sie war selber an dem ganzen Ärger schuld, leid tat sie ihm trotzdem.
»Sie ist gemein«, heulte Dodo. »Gemein! Gemein! Gemein!«
Er sagte nichts. Es hatte keinen Sinn, wenn sie so zornig war. Aber er fand es nicht anständig von ihr, so von Mama zu reden. Wortlos reichte er ihr ein Taschentuch, und sie schnaubte kräftig hinein.
»Kommst du mit, Leo?«
Jetzt hatte sie wieder diesen entschlossenen Blick, ganz sicher brütete sie eine neue Verrücktheit aus.
»Wohin?«
»In die Fabrik.«
»Jetzt? Am späten Abend? Du spinnst ja, Dodo!«
»Dann geh ich eben allein!«
Er wand sich. Was sie vorhatte, war mehr als verrückt.
Es war der pure Wahnsinn. Doch er war ihr Bruder. Er würde sie nicht allein lassen. Was immer geschah.
»Wir haben keinen Schlüssel.«
»Hängt im Flur.«
»Weißt du wirklich, was du da tust, Dodo?«
»Ja!«
Sie zogen sich Pullover über und gingen auf Strümpfen in den ersten Stock hinunter. Er hielt an der Treppe zur Halle Wache, während Dodo Papas Schlüsselbund vom Wandhaken holte. Niemand nahm Notiz davon. Ihre Mutter war im Büro, die Angestellten saßen in der Küche zusammen und schwätzten. Heute ging es besonders laut zu, als würde jemand Geburtstag feiern. Sie hatten jedenfalls alle Zeit der Welt, ihre Schuhe anzuziehen und die verschlossene Haustür zu öffnen. Draußen war es kalt, Leo fröstelte und wünschte sich, er säße jetzt oben in seinem Zimmer am Klavier.
Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an das schwache Mondlicht gewöhnten und die Umrisse von Park und Allee vor ihnen erschienen.
»Nicht die Allee«, flüsterte Dodo. »Wir laufen über die Wiesen, im Schatten der Bäume.«
Auch das noch, sie würden nasse Füße kriegen. Egal, das war schon gleich: mitgegangen, mitgehangen. Auf der Haagstraße brannten zum Glück noch die Straßenlaternen, sodass sie ohne Probleme zur Fabrik fanden. Das Pförtnerhaus war dunkel – Gruber, der allzeit Wachende, schlief den Schlaf des Gerechten.
Dodo fand problemlos den richtigen Schlüssel an Papas dickem Schlüsselbund, es knirschte laut, als sie ihn im Schloss umdrehte, zum Glück wachte Gruber nicht davon auf. In der Spinnerei war es stockdunkel, sie mussten an den Hauptschalter, um den Strom einzuschalten, dann
flammten die Lampen auf, und es war klar, dass man das Licht von der Tuchvilla aus sehen würde.
»Soll ich dir etwas helfen?«, murmelte Leo.
»Gleich.«
Dodo umschlich einen der beiden Ringspinner, suchte in dem liegen gelassenen Werkzeug herum und stieg auf die Trittleiter. Mit bangem Herzen hörte Leo, wie sie Schrauben löste und Metallteile entfernte. Wenn sie die Maschine endgültig kaputt machte, war alles aus. Eingeschüchtert betrachtete er die zahllosen großen und kleinen Garnrollen, die der Reihe nach aufgesteckt waren und die sich in unterschiedlicher Geschwindigkeit drehten, wenn die Maschine lief. Einige Fäden waren abgerissen und hingen herunter.
»Jetzt hilf mal, den Kram anzuknoten und aufzuwickeln. Vorsichtig. Nicht in der falschen Richtung wieder aufsetzen.«
Was für eine blöde Fummelei! Die Frauen, die diese Arbeit früher den ganzen Tag über verrichtet hatten, waren wirklich nicht zu beneiden. Wahrscheinlich sah man am Abend nichts anderes mehr als drehende, tanzende Garnrollen und hatte wunde Finger.
»Gut«, kommandierte die Schwester. »Nun probieren wir es mal. Den Hebel dahinten hoch. Sachte.«
Leo drückte den schweren Stromhebel herauf und spürte, wie mit dem Strom Leben in die Maschine gelangte. Sie begann zu surren, zu rattern, zu schleifen, das Geräusch steigerte sich und wurde unangenehm laut, die Garnrollen drehten sich wie Tänzerinnen, die eine unendliche Pirouette tanzten.
»Da drüben schleift was«, rief Dodo. Er hörte es auch, hatte zunächst geglaubt, das Geräusch gehöre zu dem großen Ringspinnerkonzert, dem er fasziniert lauschte
.
»Da drüben«, rief Dodo und lief rechts an den Spulen entlang.
»Nein«, rief er. »Da nicht. Hier. Weiter links.«
»Da kann nichts schleifen!«
»Ich hör’s doch!«
Wenn es ums Hören ging, war Leo der Fachmann. Dodo blieb stehen und starrte angestrengt in die summende, surrende Maschine hinein.
»Hebel runter!«, rief sie. »Du hast recht, Leo. Da ist was.«
Die Maschine zischte, keuchte wie ein Mensch, der sein Leben aushauchte, schien in sich zusammenzufallen, verstummte, zwei Garnrollen, die nicht richtig aufgesessen hatten, fielen herunter.
Dodo stocherte mit dem Schraubenzieher zwischen den Garnrollen herum und fluchte fürchterlich. Unfassbar, seine Schwester konnte fast so gut fluchen wie Tante Kitty.
»Eine Schraubenmutter ist zwischenhinein gefallen. Ich brauche einen Schraubenzieher, einen ganz schmalen, langen.«
Leo wühlte im Werkzeugkasten herum, aber keiner der drei Schraubenzieher entsprach Dodos Wunsch.
»Zu kurz. Gib mal das Stück Draht, das vor dir auf dem Boden liegt«, verlangte sie und fing an, mit dem Draht zwischen den Garnrollen herumzustochern, stöhnte immer wieder, schimpfte, stocherte weiter, kratzte, rutschte ab, fluchte …
»Verdammt!«
Es gab ein metallisches Pling, dann zweimal ein Plaff, und man verspürte einen Luftzug, der durch die Halle wehte und von der Eingangstür her gekommen war.
»Ich hab’s gewusst«, hörten sie ihre Mama in verzweifeltem
Ton rufen. »Was denkt ihr beiden euch eigentlich dabei?«
Erwischt! Damit war alles aus. Mama und Humbert waren in die Fabrik gefahren, hinter ihnen humpelte der alte Gruber in die Halle und stöhnte, dass er nicht begreifen könne, wie die beiden Kinder hineingekommen seien.
»Sie müssen geflogen sein, Frau Melzer. Ich schwöre es … geflogen!«
Dodo hielt den ominösen Draht in der Hand, starrte ihre Mutter an, sah zu Leo herüber. »Nichts sagen, Mama«, rief sie. »Leo, den Hebel hoch!«
Leo hatte vor Aufregung so feuchte Hände, dass ihm der Hebel beim ersten Versuch aus den Fingern flutschte, dann war das Ding oben. Die Maschine wurde lebendig. Schnaufte erst ein wenig, surrte dann, ratterte, zischte. Die kleinen Garnrollen spannten sich, begannen sich zu drehen. Die großen folgten langsamer. Der Ringspinner begann zu singen. Hundertstimmig, tausendstimmig war seine schleifende, summende, sirrende Musik, die Ballerinas tanzten ihre unendlichen Pirouetten, drehten sich um ihre eigene Achse und hüllten sich in ihre weißen Kleider aus zarten Baumwollfäden. Sie tanzten und sangen eine endlose, sich ewig wiederholende Komposition und wollten nicht damit aufhören.
»Siehst du, Mama«, schrie Dodo über die Ringspinnersinfonie hinweg. »Das war falsch herum, weil ihr es auseinandergebaut habt. Du hast mir ja nicht glauben wollen, dass ich weiß, wie so was geht … ich weiß …«
Weiter kam sie nicht, weil Mama sie in die Arme genommen und an sich gedrückt hatte. Was sie ihr ins Ohr flüsterte, konnte man nicht verstehen, jedenfalls weinten sie alle beide. Auch der alte Gruber wischte sich die Tränen aus den Bartstoppeln, Humbert lehnte an einem
Pfosten und hatte die Augen aufgerissen, als wäre er bei einem Wunder zugegen. Leo verspürte einen heftigen Druck in der Kehle, etwas stieg unaufhaltsam in ihm hoch, schüttelte ihn geradezu, und er schluchzte laut auf.
Die Maschine lebte. Jetzt würde alles gut werden.