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D
ie Ehe ist der Treuebund eines Mannes und einer Frau, die sich einander in gegenseitiger Hingabe schenken. Eine Ehe wird vor Gott geschlossen und steht unter dem Segen des Schöpfers.«
Der Richter saß auf einem erhöhten Platz und wandte sich, während er diesen Vortrag hielt, vor allem an Tilly. Ernst von Klippstein, der neben ihr saß, nickte immer wieder mit ernster Miene zu den Ausführungen des Juristen. Tilly fühlte sich schrecklich in dem dunklen, holzgetäfelten Raum, der nach Akten und Bohnerwachs roch. Alle Schuld der Welt lastete auf ihr, denn sie war es, die diese gottgewollte Lebensgemeinschaft zerstört hatte.
Der Richter rückte kurz an seiner Brille, blätterte in der vor ihm liegenden Akte und räusperte sich. »Sie sind heute gekommen, um einen letzten Versuch zu unternehmen, diese Lebensgemeinschaft, die Sie vor sechs Jahren eingegangen sind, weiterzuführen. Deshalb ersuche ich Sie, Tilly von Klippstein, mit Ernsthaftigkeit darüber nachzudenken, ob zwischen Ihnen und Ihrem Ehemann nicht Gemeinsamkeiten bestehen, die Sie beide aneinanderbinden. Im Laufe einer Ehe kommt es gelegentlich zu Missverständnissen, die durch ein klärendes Gespräch in Güte und Vernunft aus der Welt geschafft werden können.«
Tillys Hand tastete nach dem kleinen Anhänger, den sie heute aus irgendeinem Grund umgehängt hatte. Wie unpassend, dachte sie und berührte das rote Herz mit dem
Zeigefinger. Die alte Patientin hat eine glückliche Ehe geführt, bevor der Krieg ihren Mann von ihrer Seite riss. Ich hingegen …
»Wir haben schon miteinander gesprochen, Euer Ehren«, sagte sie. »Und wir sind uns einig, dass wir beide eine Scheidung wünschen.«
Der Richter machte einen neuen Versuch, die vor ihm sitzende scheidungswütige Frau mit seinen Blicken aufzuspießen und zur Umkehr zu zwingen, da Tilly jedoch keine Reaktion zeigte, wandte er sich dem Ehemann zu.
»Dann ersuche ich Sie, Ernst von Klippstein, darüber nachzudenken, ob Sie Ihrer Ehefrau in christlicher Liebe vergeben können, um mit ihr weiterhin in einer von Gott gewollten Ehegemeinschaft zu bleiben.«
Er schien noch lange nicht aufgeben zu wollen. Tillys Gedanken schweiften ab. Morgen war Karfreitag, in der Praxis war über die Ostertage ein Notdienst eingerichtet worden, sie hatte freiwillig die Nachmittage übernommen, obgleich sie ihre Anstellung bereits gekündigt hatte. Die Post hatte den Arbeitsvertrag des Hauptkrankenhauses früher als erwartet geschickt, und sie hatte ihn unterschrieben. Ihr Leben hatte damit eine neue, aufregende Wendung genommen, die ihr in den Nächten heftiges Herzklopfen bereitete. Eine neue Zukunft lag vor ihr. Frei, finanziell unabhängig und geschieden.
»Du bist ein Glückskind, Tillylein!«, hatte Kitty gerufen und sie in ihre Arme gerissen. »Ach, ich freue mich so für dich!«
Sie selbst war weit davon entfernt, wirklich glücklich zu sein. Ganz im Gegenteil, sie hatte ein schlechtes Gewissen. Gestern Mittag war sie in die Praxis gegangen, um das anstehende Gespräch zu führen und zugleich ihre Kündigung auszusprechen. Sie wollte sich auf keine
langen Erklärungen einlassen, sondern die Sache auf gute Art hinter sich bringen. Natürlich kam alles ganz anders. Kaum hatte sie die Tür geöffnet und wie üblich einen Blick ins Wartezimmer geworfen, kam ihr Jonathan Kortner entgegen.
»Frau von Klippstein«, sagte er und nahm ihre Hand. »Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. Es ist eine so dumme und peinliche Angelegenheit, ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll …«
Er wirkte völlig hilflos und sah sie so jungenhaft schuldbewusst an, dass sie Mühe hatte, sich gegen den Ansturm ihrer Gefühle zu wehren. Keine Frage, er war anziehend, ganz besonders in dieser Verwirrung, sein Lächeln drang ihr ins Herz, sein Blick wollte sie zärtlich umfassen, aber Tilly hielt stand. Sie machte diesen Fehler kein zweites Mal.
»Das tut mir leid«, sagte sie und entzog ihm ihre Hand. »Sie sind mir nichts schuldig, Herr Dr. Kortner. Die Schuld an diesem Missverständnis liegt ganz allein bei mir.«
Damit flüchtete sie in ihr kleines Sprechzimmer, schloss hastig die Tür hinter sich und lehnte sich heftig atmend gegen die Wand. Ging er jetzt hinüber ins Wartezimmer, um den nächsten Patienten aufzurufen? Sie lauschte angestrengt, ohne etwas zu hören. Plötzlich klopfte es zaghaft an ihrer Tür.
»Frau von Klippstein, nur auf ein Wort …«
Was sollte sie tun, fragte sie sich, denn offenbar betrachtete er das Gespräch als noch nicht beendet.
Eine raue, männliche Stimme aus dem Wartezimmer erlöste sie von ihrem Dilemma. »Verzeihung, Herr Doktor. Meiner Tochter ist schlecht geworden. Könnten Sie bitte helfen?«
»Ich komme«, sagte Dr. Kortner und entfernte sich
.
Oh Gott, wie feige sie war, dachte Tilly beschämt, atmete tief durch und ging hinüber ins Wartezimmer, wo sich Dr. Kortner um eine junge Frau bemühte. Sie half ihm, die Ohnmächtige ins Behandlungszimmer zu tragen, und rief den nächsten Patienten auf.
Erst gegen zwei Uhr, als sich das Wartezimmer geleert hatte, wagte sie sich ins Sprechzimmer, um die missliche Angelegenheit endlich befriedigend zu regeln.
Wie üblich schlug ihr der Geruch von Pfefferminztee entgegen. Jonathan Kortner saß an seinem Schreibtisch, hatte die Arme aufgestützt und sah ihr mit einem seltsam resignierten Blick entgegen. Doris wechselte den Bezug der Liege und drehte sich erst zu Tilly um, als sie ihre Arbeit beendet hatte.
»Da sind Sie ja. Ich denke, wir reden mal im Klartext. Die Sache war folgendermaßen …«
»Warte, Doris«, bremste ihr Bruder sie. »Bitte, Frau von Klippstein, nehmen Sie erst einmal Platz.«
»Danke, nein.« Tilly schüttelte den Kopf. »Ich stehe lieber.«
Doris Kortner warf ihrem Bruder einen strafenden Blick zu und fuhr kurz angebunden fort, wie es ihre Art war. »Wir haben natürlich frühzeitig Ihr Missverständnis bemerkt. Ich konnte Jonathan davon überzeugen, dass es eigentlich ganz praktisch war, den Eindruck zu erwecken, dass er verheiratet sei, das glauben schließlich fast alle Patienten. Wir wollten abwarten, bis es sich früher oder später von selbst klären würde. Wie es ja geschehen ist, nicht wahr? Nun wissen Sie Bescheid, und alles ist in bester Ordnung.«
Sie lächelte Tilly zufrieden an und sah dann zu ihrem Bruder hinüber, der das Gesicht in den Händen vergraben hatte. Tilly begriff nicht alles, was im Kopf dieser Frau vor
sich ging, doch eines war ihr klar geworden: Der werte Dr. Kortner wurde ganz und gar von seiner älteren Schwester beherrscht. Die Erkenntnis war ernüchternd, machte es ihr allerdings leichter, ihn nicht länger für einen begehrenswerten Mann zu halten, sondern für einen Schwächling, der unter dem Pantoffel seiner Schwester stand.
»Sie haben recht«, sagte sie entgegenkommend. »Es ist alles in bester Ordnung. Wir werden uns am fünfzehnten April voneinander trennen, da mir eine Anstellung im Hauptkrankenhaus angeboten wurde, die ich annehmen werde. Bis zu diesem Termin stehe ich der Praxis selbstverständlich mit dem gewohnten Einsatz zur Verfügung.« Sie hatte das Kündigungsschreiben schon vorbereitet und legte den Umschlag auf den Schreibtisch. Er hob den Kopf, sah sie aber nicht an, sondern starrte auf das vor ihm liegende Papier.
»Morgen früh bin ich leider verhindert, weil ich einen amtlichen Termin habe«, fügte sie hinzu, bevor sie den Raum verließ. »Am Nachmittag kann ich die Hausbesuche übernehmen, wenn Ihnen das recht ist.«
Als sie keine Antwort erhielt, verließ sie den Raum und schloss leise die Tür hinter sich. Sie fuhr in die Stadt, um sich in einem Café in der Maximilianstraße ein Stück Kuchen und ein Tässchen Mocca zu gönnen. Sie tat so etwas zum ersten Mal. Als Frau allein in einem Café zu sitzen erschien ihr skandalös, ihre Mutter wäre darüber entsetzt gewesen. Es sähe ja so aus, als warte sie nur darauf, angesprochen zu werden. Kitty hingegen hätte sie ausgelacht und behauptet: »Da ist ja wohl nichts dabei!« Tatsächlich schien sich niemand über die einsame junge Dame in der Konditorei zu wundern. Lediglich zwei ältere Damen, die dort Apfelkuchen aßen, betrachteten sie mit neugierigen Blicken, aber sie kümmerte sich nicht darum
.
Am nächsten Tag saß sie im Gerichtssaal, der sich im Rathaus befand. Eine Fliege summte durch den holzgetäfelten Raum, stieß mehrfach gegen die Wände und stürzte in die aufgeschlagene Akte, die vor dem Richter lag. Er machte eine unwillkürliche Bewegung, um den Störenfried zu erschlagen, verfehlte sein Ziel jedoch, und die Fliege summte wieder in Richtung Fenster.
»Fassen wir also zusammen«, fuhr der Richter fort und sah auf die Uhr, die seitlich von ihm an der Wand angebracht war. »Es wurde ein letzter Versuch unternommen, das Ehepaar von Klippstein zu einer versöhnlichen Einigung und einem Weiterführen ihrer Ehe zu bewegen, der leider gescheitert ist. Insofern wird das Gericht in absehbarer Zeit einen Termin für die Ehescheidung bekanntgeben. Die Kosten für das Verfahren werden beiden Partnern zugesandt.«
Endlich! Tilly erhob sich von dem harten Sitz und hatte es eilig, den düsteren Gerichtssaal zu verlassen, wo der Richter bereits den nächsten Fall aufrief. Im Flur wartete sie auf Ernst, der wegen seiner Kriegsleiden nicht so rasch aufstehen konnte und den Saal einige Minuten später verließ.
»Nun hast du also, was du wolltest«, sagte er. »Bist du zufrieden?«
Sein Tonfall war weniger vorwurfsvoll als spöttisch, Tilly war eigentlich auf härtere Vorwürfe gefasst gewesen.
»Es ist besser so, Ernst. Nicht allein für mich, sondern auch für dich.«
»Ach ja?«, meinte er ironisch. »Dann soll ich mich vielleicht bei dir bedanken, dass du mir ein besseres Dasein eröffnest?«
»Es kommt auf dich an, was du daraus machst.«
Er ging schweigend neben ihr her durch die verwinkelten
Flure und die breite Treppe hinunter zum Ausgang. Draußen empfing sie ein heller Vorfrühlingstag, der weite Rathausplatz lag im Sonnenlicht, Marktstände waren um den Augustusbrunnen herum aufgebaut, die ersten Frühlingsblumen leuchteten zwischen dem Gemüse. Wer Geld hatte, der kaufte ein, denn die Ostertage standen bevor. Wer keines oder nur wenige Groschen besaß, der ging an den Ständen entlang, um die begehrten Lebensmittel wenigstens anzuschauen und vielleicht irgendwo etwas umsonst zu ergattern.
»Ich habe meinen Wagen dort drüben stehen«, sagte Ernst und deutete mit dem Finger zur Steingasse hinüber. »Dann also: Lebe wohl. Wir sehen uns zum Scheidungstermin wieder, vermutlich zum letzten Mal.«
Er streckte ihr die Hand entgegen. Noch lag Bitterkeit in seinem Blick, Wut und Hass dagegen waren verschwunden, er schien sich gefangen zu haben. Erleichtert und ein wenig traurig sah Tilly ihm nach, wie er sich steif zwischen den Marktständen hindurch auf die andere Seite des Platzes bewegte. Immerhin hatte es zwischendurch gute Zeiten gegeben, vor allem zu Anfang ihrer Ehe, als sie beide einander brauchten und aneinander hingen. Daran wollte sie sich vor allem erinnern, wenn sie an Ernst von Klippstein dachte.
Mit einem Mal stutzte sie. Ernst war vor einem Blumenstand stehen geblieben und sprach mit einer jungen Frau, die einen grünen Lodenmantel und einen Trachtenhut trug. Sie hatte einen Koffer neben sich stehen, den sie jetzt in die Hand nahm, um Ernst von Klippstein zu folgen. Woher kannte sie diese Person? Als die Unbekannte ihren Kopf zur Seite drehte, sah sie, dass es die blonde Gerti war, die Kammerzofe von Lisa. Hatte Ernst sie der Tuchvilla etwa abspenstig gemacht? Auf jeden Fall trippelte das
Mädchen ganz aufgeregt neben ihm her, redete in einer Tour und schien sehr glücklich zu sein.
Wie seltsam, dachte Tilly belustigt. Wenn er sie am Ende mit nach München nahm, würde die anspruchsvolle Lisa wohl sehr ärgerlich sein.
Sie schaute auf die Uhr am Perlach und stellte fest, dass sie noch etwas Zeit hatte, bevor sie zu ihren Patienten fahren musste. Vielleicht sollte sie ein paar Winteräpfel oder Trockenpflaumen kaufen. Ach nein, lieber ein Töpfchen mit Stiefmütterchen für Kitty, die so wunderschöne Blumenbilder malte.
»Verzeihung, Frau von Klippstein, dass ich Sie so einfach anspreche«, sagte eine wohlbekannte Stimme hinter ihr und ließ sie erschrocken zusammenfahren. Was um Himmels willen wollte Dr. Kortner von ihr?
»Sie haben nicht etwa Ihre Patienten im Stich gelassen?«, fragte sie fast ein wenig anzüglich und ärgerte sich sofort, dass es ihr nicht gelang, unbefangen zu bleiben.
»Ich muss mit Ihnen sprechen, Frau von Klippstein«, sagte er verlegen und drehte den Hut in den Händen. »So kann ich das nicht stehen lassen. Ich bitte Sie …«
Tilly bekam Herzklopfen, fürchtete sich, dass er sie überreden wollte, das neue Stellenangebot in der Klinik abzusagen und weiter in seiner Praxis zu arbeiten, wozu ihn seine Schwester angestiftet haben könnte. Warum auch immer.
»Momentan passt es nicht«, wich sie aus. »Ich muss in Kürze zu den Hausbesuchen aufbrechen.«
»Bis dahin ist noch genug Zeit«, wandte er ein. »Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen einladen?«
Es hatte keinen Zweck, er war einfach zu liebenswert, und sie brachte es nicht fertig, ihm einen Korb zu geben
.
»Also gut … Woher wussten Sie überhaupt, wo ich zu finden war?«
»Das war nicht schwer zu erraten. Ihr amtlicher Termin heute Vormittag musste etwas mit der Scheidung zu tun haben. Da dachte ich mir, dass Sie sich vermutlich in der Nähe des Rathauses aufhalten. Ich kenne ein sehr nettes Café in der Maximilianstraße. Wenn Sie einverstanden sind …«
Sie verkniff sich die Frage, ob er oder seine Schwester auf diese schlaue Idee gekommen war. »Warum nicht?«
Sie gingen schweigend nebeneinander her, wichen entgegenkommenden Passanten aus, hin und wieder sah Kortner sie von der Seite an, als fürchtete er, sie könne ihm davonlaufen. Aber Tilly musste sich eingestehen, dass seine Begleitung ihr nicht unangenehm war, im Gegenteil.
Was für ein Zufall – es war das gleiche Café, in dem sie gestern gewesen war. Jetzt war es voller Menschen, da man hier auch eine Suppe als Mittagsmahlzeit bestellen konnte. Gerade mal ein einziger Tisch im hinteren Teil des Gast-raumes war noch frei: der, an dem sie gestern gesessen hatte.
»Wäre Ihnen dieser Tisch recht? Oder sollten wir es besser anderswo versuchen?«
»Bleiben wir ruhig hier.«
Er half ihr aus dem Mantel, rückte ihr den Stuhl zurecht und setzte sich ihr gegenüber. Vor lauter Nervosität stieß er den Ständer mit der Speisekarte um.
»Entschuldigung.«
»Ist ja nichts passiert«, sagte sie lächelnd.
Die Serviererin war mollig und mütterlich. Dr. Kortner bestellte zweimal Kaffee und dazu Apfelkuchen. Kirschstrudel und Schlagsahne waren leider aus
.
»Nicht schlimm«, beruhigte Tilly ihn. »Es geht uns ja nicht ums Kuchenessen, sondern um ein Gespräch, oder?«
»Da haben Sie recht.«
Die Unruhe und das laute Reden ringsherum schienen ihn zu stören, denn er wirkte befangen, rieb sich die Hände und sah vor sich hin.
»Zuerst möchte ich Ihnen zu der neuen Stellung gratulieren«, begann Kortner. »Sie haben es verdient, eine Ihren Fähigkeiten angemessene Position zu erhalten. Ihre Arbeit in meiner Praxis war ohnehin mehr als Übergang gedacht. Ich werde mich also nach einem anderen Partner umsehen, wobei ich gestehe, dass es mir schwerfällt, Sie zu ersetzen. Aus unterschiedlichen Gründen …« Er stockte, und sein Blick schweifte ab. Tilly wartete schweigend, was er weiter vorbringen würde. »Es ist nicht einfach, gewisse Dinge hier in dieser Umgebung zu sagen, Frau von Klippstein«, gestand er. »Möglicherweise wird es unglaubwürdig klingen, und Sie werden mich auslachen. Dennoch will ich es versuchen.«
Sie musste warten, weil genau in diesem Augenblick die Bedienung an den Tisch kam, servierte und gleich die Rechnung präsentierte.
Irgendwie tat er ihr leid. Der Schwung und die Begeisterung, das strahlende Wesen – alles, was sie zu Anfang so an ihm fasziniert hatte, war verschwunden. Er wirkte bedrückt und hilflos, doch er gefiel ihr immer noch. Sie hatte ein Faible für hilflose Männer, schließlich hatte sie so Ernst kennengelernt, als er seinerzeit im Lazarett der Tuchvilla unglücklich und hilfsbedürftig gewesen war. Ein Grund, in diesem Fall sehr, sehr vorsichtig zu sein.
Sie nippten von dem dünnen Kaffee und probierten den Kuchen, in dem sowohl Zucker als auch Äpfel sparsam verwendet worden waren. Nach wenigen Minuten wagte er einen neuen Ansatz
.
»Ich sagte bereits, dass es schwer sein wird, einen Ersatz für Sie zu finden, Frau von Klippstein. Nicht allein, weil Sie eine ausgezeichnete und ungewöhnlich engagierte Ärztin sind, sondern auch weil ich sehr gern mit Ihnen zusammengearbeitet habe. Von Anfang an habe ich eine tiefe Sympathie zu Ihnen empfunden, eine Art Gleichklang der Seelen. Die Gespräche über unsere Patienten haben mir immer wieder bewiesen, dass wir in unserer Arbeit ähnlich empfinden. Das klingt sehr pathetisch, nicht wahr?«
In der Tat hatte Tilly bei dem Ausdruck
Gleichklang der Seelen
lächeln müssen, was ihr jetzt peinlich war.
»Nein, nein«, sagte Tilly, »Sie haben völlig recht, ich sehe es genauso. Die Gespräche mit Ihnen waren für mich immer sehr hilfreich.«
Er nickte und stocherte in seinem Kuchenstück herum. »Ich wollte Ihnen etwas erklären, und nun weiß ich nicht, wo ich anfangen soll. Es geht um Doris, meine Schwester. Ich verdanke ihr sehr viel.«
Ach du liebe Güte, dachte Tilly. Jetzt kam die rührende Geschichte von der großen Schwester, die immer die Mutterrolle für ihn übernommen hatte. Wollte sie das wirklich hören?
Es war anders gewesen, als sie vermutet hatte. Jonathan war als junger Medizinstudent in den Weltkrieg gegangen und hatte vier Jahre lang als Sanitäter viel Schlimmes gesehen. Als der Krieg endlich vorbei war, hatte er sein Studium wieder aufgenommen und sich Hals über Kopf verliebt. Die Ehe verlief unglücklich, eine einzige Katastrophe, es kam zur Scheidung, und er blieb mittellos und seelisch angeschlagen zurück. Zur gleichen Zeit starben die Eltern, denen die Inflation alles genommen hatte.
»Ich weiß nicht, was ohne Doris aus mir geworden wäre«, gestand er leise. »Praktisch war ich so weit, dass ich
alles hinwerfen wollte. Aber sie setzte sich für mich ein, hat gearbeitet, um mein Studium zu finanzieren, hat mich beim Lernen abgehört, hat mir Mut gemacht, wenn ich glaubte, das Examen nicht zu schaffen.« Er machte eine Pause, bevor er zum Wichtigsten kam. »Vor allem wollte meine Schwester verhindern, dass ich mich ein zweites Mal in eine unglückliche Ehe stürzte. Sie war der Ansicht, dass ich zu sehr meinen Gefühlen folgte, anstatt meinen Verstand zu benutzen. Das war der Grund, verstehen Sie? Sie hatte Angst, ich könnte etwas Unbedachtes tun, und daher kam ihr dieses Missverständnis gerade recht. Es schuf einen gewissen Abstand, und sie hatte Gelegenheit, sich ein Bild von den Menschen zu machen, die sich um mich herum bewegten. Also von Ihnen.«
»Ich verstehe«, versicherte Tilly nachdenklich, die seine Lebensgeschichte berührte. Ihr lag eine Frage auf der Zunge, die sie stellen musste. »Wie kam Ihre Schwester dazu, speziell mich zu beobachten und zu testen? Welchen Grund hatte sie dafür?«
Seine großen, unglücklichen Augen suchten ihren Blick. »Sagte ich das nicht? Ich habe mich unsterblich in Sie verliebt, Frau von Klippstein. Hals über Kopf. Schon bei unserem ersten Treffen in der Tuchvilla. Es kam wie ein Blitzschlag über mich …«
Tilly blieb der Atem weg. War das ein Trick? Nein, bestimmt nicht, und noch weniger eine hinterhältige Lüge, die sie ständig fürchtete. Nein, so wie er sie ansah, wie er nach passenden Worten suchte, das konnte nicht gespielt sein. Er meinte es ehrlich. Tilly spürte, wie ein zaghaftes Glücksempfinden in ihr aufstieg. Ein Mann hatte sich in sie verliebt. Wann war ihr das zuletzt passiert? Grundgütiger, das war mittlerweile so lange her.
»Ich kann nicht erwarten, dass Sie meine Gefühle
erwidern«, sagte er leise. »Das war zudem nicht der Grund für dieses Geständnis. Ich wollte einfach erklären, warum meine Schwester sich so verhalten hat. Leider habe ich ihr zuliebe eine Weile mitgespielt, das war ungeschickt von mir. Aber zu dieser Zeit habe ich geglaubt, dass ich mir keine Hoffnungen machen durfte, sondern Sie als korrekte und fähige Kollegin betrachten musste.«
Tilly war erschlagen von diesem Geständnis und ratlos dazu. Musste sie sich revanchieren und Gleiches tun? Hier, in diesem lauten Café? Nein, das wäre sehr unpassend gewesen. Gewiss, sie war verliebt. Selbst jetzt noch, da sie mehr von ihm wusste, oder gerade deshalb. Gleichzeitig war sie vorsichtig geworden. Er war ein liebenswerter Hitzkopf, ein wunderbarer Arzt und ein charmanter Mann. Dass er sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte, das glaubte sie, doch was würde sein, wenn er nach einigen Jahren für eine andere Frau entflammte? Und dann diese Abhängigkeit von seiner Schwester, die ihr überhaupt nicht gefiel. Andererseits wollte sie ihn nicht glauben machen, er sei ihr gleichgültig. Dann würde sie ihn vielleicht verlieren, und das wollte sie auf keinen Fall. Nein, das hätte sie nicht ertragen.
»Sie waren sehr ehrlich zu mir, Herr Dr. Kortner«, sagte sie zögernd und jedes Wort abwägend. »Deshalb will auch ich Ihnen die Wahrheit gestehen. Von Anfang an habe ich Sympathie für Sie empfunden …«
Er lächelte resigniert. Sympathie war ihm zu wenig, das las sie in seinem enttäuschten Gesicht.
»Sehr viel Sympathie. Ich wollte sagen: mehr als Sympathie … Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin in einer schwierigen Situation, werde demnächst nach sechs Ehejahren geschieden und bin aus diesem Grund sehr vorsichtig.
«
Jonathan Kortner blühte förmlich auf. Strahlte sie an, wollte ihre Hand nehmen und wagte es nur nicht angesichts der vielen Zuschauer.
»Das verstehe ich vollkommen, dann habe ich mich nicht geirrt und mich in meinen Gefühlen nicht getäuscht … Wissen Sie, wie glücklich Sie mich machen?«
Tilly wusste es, weil sie das gleiche Glück soeben selbst verspürt hatte. Es galt nunmehr, einen harmonischen Weg zu finden.
»Selbst wenn sich unsere beruflichen Wege trennen, sollten wir uns nicht aus den Augen verlieren. Ich denke, es wird sich hier und da eine Gelegenheit zu einer … freundschaftlichen Begegnung ergeben. Meinen Sie, wir könnten so verbleiben?«
Er hatte mehr erwartet, das sah sie an seinem bekümmerten Blick. »Ich richte mich ganz nach Ihnen, liebe Tilly«, sagte er mit weicher Stimme, »und bin Ihr gehorsamer Diener.«
Als er ihr in den Mantel half, ergriff er ihre Hand und hielt sie fest. Tilly wagte nicht, sich zu wehren, wartete mit wild schlagendem Herzen, was er tun würde. Er zog ihre Hand langsam an seine Lippen und küsste sie. Es war wie ein elektrischer Schlag, ein glühender Strom, der sie bei dieser harmlosen Berührung durchfuhr und sie bis ins Mark erschauern ließ. Tilly begriff plötzlich, dass sie verloren war. Es gab keine halben Sachen in der Liebe. Ganz oder gar nicht. Gedeih oder Verderb. Leben oder Tod.
Kitty! Oh Gott, sie musste unbedingt mit Kitty reden!