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D u musst dich hinlegen, Paul«, sagte Marie vorwurfsvoll. »Gleich wenn wir zu Hause sind, sollst du dich ausruhen, hat der Arzt gesagt.«
Paul saß neben ihr auf der Rückbank des Wagens, er trug den Anzug, den sie ihm ins Krankenhaus gebracht hatte, einen Mantel hatte er abgelehnt. Die Sonne schien, und überall blühte es bunt in den Beeten, der Frühling machte gewaltige Fortschritte – warum sollte er wie im tiefsten Winter herumlaufen, zumal er in einer geschlossenen Limousine saß?
»Liebling«, erwiderte er lächelnd, »wir fahren zuerst zur Fabrik. Ich möchte sehen, wie die Maschinen laufen.«
»Bitte, Paul! Das kannst du doch heute Nachmittag tun. Du darfst dein Herz auf keinen Fall übermäßig strapazieren.« Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Angenehmes Herzklopfen ist erlaubt, hat der Doktor gesagt«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Das werden wir beide heute Abend einmal ausprobieren, nicht wahr, mein Schatz?«
Marie wurde rot, weil Humbert das Flüstern womöglich verstanden hatte.
»Du bist und bleibst ein unvernünftiger Mensch«, schalt sie ihn kopfschüttelnd. »Für die kommenden Wochen ist absolute Ruhe angesagt, Liebster. Und ich werde mich streng daran halten.«
Er grinste sie so spitzbübisch an, wie sie es an ihm liebte. »Vorsichtig, mein Schatz. Er hat ebenfalls gesagt, dass ich weder Ärger noch Aufregung haben darf … Humbert, geradeaus und dann nach links abbiegen! Na also.«
Marie seufzte. Wenn sie nicht gut auf ihn aufpasste, würde er sich wieder in die Arbeit stürzen, und der nächste Zusammenbruch würde nicht lange auf sich warten lassen. Der Arzt hatte zu einem Rekonvaleszenzurlaub an der Ostsee geraten, ein kleines Hotel, gutes Essen, tägliche Spaziergänge am Meer und die liebevolle Betreuung seiner Ehefrau. Ein schöner Traum. Aber in diesem Moment, da es galt, wichtige Entscheidungen zu fällen, und das Schicksal der Familie auf dem Spiel stand, war an Urlaub nicht zu denken.
Am Tor der Fabrik stand der alte Pförtner Gruber, schwenkte seine Mütze und strahlte vor Freude. »Herr Direktor, dass Sie wieder bei uns sind! Ich bin ja so froh und könnte die Bäume hochklettern auf meine alten Tage.« Er öffnete das Tor so eilig, dass er beinahe gestolpert wäre.
»Mein lieber Gruber«, sagte Paul gerührt. »Sie wissen doch: Unkraut vergeht nicht!«
»Und das tüchtige Fräulein Tochter«, fuhr Gruber fort. »Nee, so was! Zehn Männer haben die Maschinen nicht in Gang bekommen, und dann kommt das Mädel mitten in der Nacht und bringt die Dinger zum Laufen. Eine ganz Gescheite ist das, Herr Direktor. Das hat sie von ihrem Großvater geerbt, dem Jacob Burkard. Wenn’s um Maschinen ging, war der ein Genie.«
Natürlich hatte Marie ihm von der nächtlichen Aktion der Zwillinge berichtet, und ihr Mann war zuerst der Meinung gewesen, sein Sohn Leo habe diese Meisterleistung vollbracht.
»Nein, Paul«, hatte sie widersprochen. »Es war unsere Dodo. Sie hat sich die Pläne meines Vaters unter den Nagel gerissen, die ich bereits herausgesucht hatte, und sie genau studiert. Anschließend hat sie Leo angestiftet, sie zu begleiten, und die beiden sind heimlich bei Nacht und Nebel in die Spinnerei eingedrungen. Dodo hat es tatsächlich geschafft, den Fehler bei den Ringspinnern zu finden und sie in Gang zu setzen. Wir verdanken es also ausschließlich unserer technisch begabten Tochter, dass wir fristgerecht liefern können. Und dabei habe ich sie furchtbar gescholten und ihr sogar Hausarrest angedroht.«
Ach, sie hatte kein Vertrauen zu ihrem Kind gehabt. Und dabei hatte sie gewusst, wo Dodos Fähigkeiten lagen. Von Anfang an war ihre Begabung für Technik und Naturwissenschaft offenbar gewesen. Leider hatte diese übertriebene Leidenschaft für die Fliegerei sie dazu veranlasst, ihre Tochter für eine maßlose Träumerin zu halten. Inzwischen musste sie sich darüber Gedanken machen. Wenn Dodo tatsächlich in einigen Jahren Flugstunden nehmen wollte, konnte sie sich diesem Wunsch schwerlich widersetzen. Obwohl Maries Angst um ihr Kind groß war, denn die Fliegerei war eine gefährliche Leidenschaft, die schon viele mit dem Leben bezahlt hatten.
Vorerst war die Instandsetzung der Ringspinner ihr Meisterwerk, und das wollte der Vater sich als Erstes ansehen. Mehrere Arbeiterinnen waren beschäftigt, die vollen Garnrollen abzunehmen und neue Innenteile aufzustecken oder abgerissene Fäden in aller Eile wieder anzuknoten. Die Behälter mit dem fertigen Garn wanderten hinüber zur Färberei. Mittermayer saß auf einem Stuhl und überwachte die Arbeit, während er behaglich ein Butterbrot aß und dazu ein Flaschenbier trank. Neben ihm hatte Dodo auf einer Holzkiste Platz genommen, sie hielt eine Blechdose mit Keksen auf dem Schoß, weil Fanny Brunnenmayer es sich nicht hatte nehmen lassen, dem »tüchtigen Mädel« seine Lieblingskekse zu backen .
»Papa!«, schrie Dodo, als sie die Eltern in die Halle treten sah. Die Keksdose kippte um, die Tochter flog ihrem Vater in die Arme und redete aufgeregt auf ihn ein. »Siehst du, wie das funktioniert, Papa. Es war ganz einfach. Ich hab’s mir gleich gedacht, dass es daran liegen muss, weil sie alles auseinandergebaut und gereinigt hatten. Und da hab ich mir die Pläne ausgeliehen und …«
»Ich weiß, mein Mädchen«, sagte Paul sanft. »Ich weiß es. Mama hat es mir erzählt. Es ist wirklich unglaublich. Wir haben dich alle unterschätzt, meine kleine kluge Tochter.«
Marie sah mit glücklichem Lächeln, wie Dodo die Worte ihres Vaters förmlich in sich aufsaugte. Ihr Mundwerk stand keinen Augenblick lang still, sie zog den Papa hinter sich her, ging mit ihm um die Maschinen herum und erklärte genau, wie sie funktionierten.
»Auf die großen Rollen kommt der Vorfaden und wird dort gedreht, bevor er auf die kleinen Rollen kommt. Die großen laufen langsamer und die kleinen schneller, und wenn das Zusammenspiel nicht richtig klappt, dann reißen die Fäden in einer Tour …«
Paul, dem die Funktion der Maschine natürlich bekannt war, hörte geduldig zu, wechselte belustigte und anerkennende Blicke mit Josef Mittermayer und fragte nach, wie viele Garnrollen mittlerweile drüben in der Färberei seien. Es stellte sich heraus, dass etwa ein Fünftel der Auftragsmenge produziert war. Es würde knapp werden, aber wenn alles weiterhin reibungslos verlief, konnten sie fristgerecht liefern.
Marie hatte gehofft, dass Paul sich zufriedengab und sie in die Tuchvilla fahren würden, damit er sich ein Stündchen hinlegen konnte. Weit gefehlt. Erst war ein Kontrollgang in der Färberei fällig, wo vier Arbeiter beschäftigt waren, dann ging es hinüber in den Packraum, um festzustellen, ob genügend Verpackungsmaterial zur Verfügung stand. Schließlich ließ er es sich nicht nehmen, die Treppen im Verwaltungsgebäude hinaufzusteigen, um den Buchhalter Stollhammer zu begrüßen, der sich wie ein Kind darüber freute. Und wie konnte es anders sein – es ging eine weitere Treppe hinauf, um im Büro nach dem Rechten zu sehen und der anwesenden Sekretärin einen guten Tag zu wünschen. Und dabei war ihm das Treppensteigen höchstens in langsamem Tempo mit Verschnaufpausen erlaubt.
Heute, am Ostersamstag, waren sogar beide Damen anwesend. Sie waren eigens hergekommen, weil die Nachricht, dass der Herr Direktor aus der Klinik entlassen werde, bis zu ihnen vorgedrungen war. Ottilie Lüders und Henriette Hoffmann hatten Obstsaft und selbst gebackene Kekse bereitgestellt, um das große Ereignis gebührend zu feiern. Kaffee wurde mit Rücksicht auf das schwache Herz ihres Chefs nicht ausgeschenkt.
»Was für eine Freude, Herr Direktor! Wir sind so glücklich, dass Sie wieder bei uns sind … Dürfen wir uns erlauben, Ihnen ein Gläschen Fruchtsaft, ganz frisch, und Honigplätzchen anzubieten, die mag Ihre Tochter ja so gern.«
In Pauls Büro saß Sebastian am Schreibtisch und sortierte die Post. Er stand eilig auf, um den Platz frei zu machen.
»Lieber Paul, ich habe getan, was in meinen Kräften stand, um den Betrieb am Laufen zu halten«, erklärte er geschäftig. »Zwei Aufträge sind hereingekommen, kleinere Sachen. Die Löhne haben wir ausbezahlt, allerdings keine Zulagen, dazu ist die Lage zu ernst. Die Leute sind froh, bei uns überhaupt Arbeit zu haben, wir müssen dafür sorgen, dass es so bleibt. Der Nordwollekonzern soll wackeln, heißt es, doch es gibt täglich neue Gerüchte, wenn man da alles glauben wollte …«
Er schwieg, weil Marie ihm hinter Pauls Rücken warnende Blicke zuwarf. Die Gerüchte um Nordwolle, die Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei, waren nicht neu, aber heute musste er seinen Schwager wirklich nicht damit behelligen.
»Zwei Aufträge?«, meinte Paul fröhlich. »Na bitte. Besser als gar nichts. Ich danke dir ganz herzlich, Sebastian. Und ich wäre sehr froh, wenn du mir auch in den kommenden Wochen beistehen könntest.«
Das war ein Versöhnungsangebot, das Sebastian mit großer Begeisterung annahm. Die beiden schüttelten einander die Hände, Paul hatte seine Vorbehalte abgelegt, und Sebastian schien den bedingungslosen Kampf gegen den Kapitalismus und für das Wohl der Arbeiterschaft vorerst zurückgestellt zu haben. Keine Fabrik, keine Arbeit. Sogar ein überzeugter Kommunist musste diesen einfachen Sachverhalt respektieren.
»Paul, es ist jetzt wirklich Zeit«, drängte Marie. »Lass uns fahren. Mama und Lisa warten auf uns.«
Sie erwähnte das Wort ausruhen nicht, weil sie eingesehen hatte, dass ihr Mann nicht wie ein Kranker behandelt werden wollte. Es war klüger, diplomatisch vorzugehen.
»Du hast wie immer recht, mein Schatz.«
Als sie in die Allee einbogen, leuchtete das Rondell vor der Tuchvilla in allen Farben – die Tulpen und Narzissen waren aufgeblüht, dazwischen standen gelbe und lilafarbige Stiefmütterchen und in der Mitte weiße und rosa Hyazinthen.
»Wie schön«, sagte Paul leise zu Marie. »Weißt du, dass ich erst jetzt lerne, mich an solchen Dingen zu erfreuen? Früher bin ich daran vorbeigelaufen, ohne sie zu sehen.«
Hanna stand auf der Treppe, um ihnen die Eingangstür aufzuhalten, sie lächelte verschwörerisch und trat zur Seite, um den Blick in die Halle freizugeben. Die Angestellten hatten in aller Eile das Geländer des herrschaftlichen Treppenaufgangs mit einer Girlande aus Tannengrün umwickelt, die mit weißen und roten Papierblumen geschmückt war. Oben auf der Treppe hockten Johann, Hanno und Kurti, um das Geschehen zu beobachten, wobei sich Hanno mehr für die bunten Papierblüten interessierte als für die Menschen unten in der Halle.
»Lieber gnädiger Herr«, sagte Humbert ein wenig verlegen. »Wir wollten Ihnen einen kleinen Willkommensgruß darbringen, damit Sie wissen, wie sehr wir Sie vermisst haben. Alle werden wir unser Bestes geben, damit Sie wieder ganz gesund …«
Der Rest war nicht zu verstehen, weil Kurti die Treppe herunterlief, um seinen Papa zu umarmen, und Paul den Jungen zu Maries Entsetzen auf den Arm hob. Dabei waren ihm körperliche Anstrengungen eigentlich streng von den Ärzten verboten worden.
»Ich danke von ganzem Herzen für diesen wunderbaren, unerwarteten Empfang«, sagte Paul und stellte Kurti auf die Füße. »Es ist ein gutes Gefühl, wieder zu Hause in der Tuchvilla zu sein.«
Marie war allerdings ernsthaft besorgt, denn Paul war blass und zitterig, die Anstrengungen dieses Vormittags waren zu viel für ihn gewesen. Sie ließ ihn noch Alicia und Lisa begrüßen, dann erklärte sie, dass Paul Ruhe benötige, und begleitete ihn ins Schlafzimmer.
»Nur ein Stündchen, Marie«, sagte er und ließ sich angekleidet aufs Bett fallen. »Weck mich zum Mittagessen, ja? «
Er schlief sofort ein, und Marie verließ leise das Zimmer. Sie klopfte bei Leo an, der Walter zu Besuch hatte, um den Vormittag über gemeinsam mit dem Freund zu musizieren. Die beiden Jungen saßen über einem Stapel Notenpapier und schauten Marie wie zwei Verschwörer entgegen.
»Lasst euch nicht stören«, sagte Leos Mutter lächelnd. »Ich bitte euch bloß, leise zu sein, Papa hat sich hingelegt.«
»Natürlich, Mama, das haben wir uns schon gedacht. Wann dürfen wir wieder Musik machen?«
»Wenn er aufgewacht ist, Leo. Was habt ihr beiden da für Notenblätter?«
»Äh, das haben wir abgeschrieben. Von Noten aus der Bibliothek, die man nicht ausleihen kann.«
»Dann seid ihr ja beschäftigt«, meinte Marie erleichtert.
Paul schlief tief und fest, als unten der Essensgong ertönte, und Marie beschloss, ihn schlafen zu lassen.
»Was sagen wir Mama?«, fragte Lisa, als Marie ihr die Mitteilung machte. »Sie wird sich Gedanken machen. Bisher glaubt sie, dass Paul zu einer einfachen Untersuchung in der Klinik war und kerngesund ist.«
»Wir sagen, dass der Arzt ihm den Schlaf verordnet hat«, entschied Marie.
»Das wird ihr nicht gefallen!«
Doch an diesem Tag hatte Alicia wieder Migräne, sie erschien nur kurz, um ein wenig Suppe zu sich zu nehmen, saß dann mit leidender Miene am Tisch, ohne weitere Fragen zu stellen, und zog sich noch vor dem Dessert in ihr Schlafzimmer zurück.
»Ein Telegramm, gnädige Frau«, sagte Humbert und reichte Alicia das Blatt, als sie aus dem Speisezimmer ging.
»Nicht jetzt, Humbert. Legen Sie es bitte auf die Kommode«, murmelte sie. »Ich lese es später. «
Paul erwachte erst am Nachmittag. Marie hatte sich neben ihn aufs Bett gelegt, um in seiner Nähe zu sein, und musste sich seine Vorwürfe anhören.
»Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Du brauchtest deinen Schlaf.«
Er machte einen tiefen, schweren Atemzug und setzte sich im Bett auf. »Es hilft nichts, Marie. Es ist dieser Zustand der Schwebe, der mir wie ein Wackerstein auf der Brust liegt. So kann es nicht weitergehen. Ich lasse mich von unseren treuen Angestellten willkommen heißen, während ich daran denke, die Tuchvilla zum Verkauf anzubieten. Das ist nicht redlich.«
»Dann muss die Zukunft des Hauses und unserer Familie endlich entschieden werden«, sagte sie entschlossen. »Lass uns morgen sämtliche Beteiligten zusammenrufen und alles noch einmal durchsprechen.«
»Nein«, sagte er und tastete nach ihrer Hand. »Es soll heute geschehen. Ich will es so, Marie.«
Es gefiel ihr nicht. Sie schlug vor, noch eine Nacht darüber zu schlafen, er müsse Kräfte sammeln, dürfe seinem Herzen nicht zu viel auf einmal zumuten. Doch er war fest entschlossen und ließ sich nicht umstimmen.
»Wir werden Lisa und Sebastian einbeziehen«, sagte er. »Kitty und Robert sind weniger betroffen, für sie wird sich nicht viel ändern, falls es zum Verkauf des Hauses kommt. Leider müssen wir Mama reinen Wein einschenken.«
»Sie hat Migräne, Paul.«
Er seufzte und stand vom Bett auf, um sich umzukleiden. »Dann eben nur Lisa und Sebastian. Schick Hanna hinüber, um sie ins Speisezimmer zu bestellen.«
Eine halbe Stunde später saß man im Speisezimmer beisammen. Sebastian gab sich sehr beflissen und versprach, er werde über Ostern durcharbeiten, um rechtzeitig liefern zu können. Marie war weniger hoffnungsvoll, sie wusste, dass der große Auftrag die Fabrik für nicht mehr als wenige Monate retten konnte, die beiden Folgeaufträge waren geringe Bestellungen, die mehr Aufwand als Gewinn versprachen. Wenn erst die Zollunion mit Österreich geschlossen wäre, würde das den Handel beleben und Anlass zur Hoffnung geben. Dummerweise zogen sich die Verhandlungen hin, noch war der Vertrag nicht unter Dach und Fach.
Der Kredit, der auf der Tuchvilla lastete und den die Bank zurückforderte, war eine besondere Bedrohung. Hier war es nötig zu handeln, bevor das Kreditinstitut die Hand auf das Gebäude legte, dann nämlich würde es zu spät sein.
»Da momentan sehr viele Häuser und Grundstücke zum Verkauf stehen«, erklärte Paul, »werden die Preise enorm gedrückt. Unser Vater hat die Tuchvilla seinerzeit für mehr als eine Million Goldmark errichten lassen, der momentane Marktwert geht dagegen nicht über hunderttausend Reichsmark hinaus und fällt mit jedem Tag.«
»Wir können die Tuchvilla auf keinen Fall verschleudern«, rief Lisa entsetzt. »Unser Vater würde sich im Grab umdrehen, wenn wir das täten. Zur Not verkaufen wir eben doch den Park«, schlug sie vor. »So haben wir wenigstens noch ein Dach über dem Kopf.«
Marie wandte ein, dass von diesem Erlös gerade mal der Kredit zurückbezahlt werden könnte, sodass keinerlei Rücklagen blieben. Die Fabrik bringe nichts ein, man werde die Angestellten nicht mehr bezahlen können und möglicherweise neue Schulden machen müssen.
»Außerdem gibt es nach wie vor lediglich einen einzigen Interessenten, der bereit wäre, den Park ohne Villa zu erwerben«, fügte Paul hinzu .
»Lass mich raten«, sagte Lisa. »Nicht etwa …«
»Der fleißige, ehrbare Rechtsanwalt Grünling!«
»Der Teufel soll ihn holen! Lieber wandere ich aus, als dass ich erleben muss, wie Serafina einen Palast auf unserem Grund und Boden gleich neben der Tuchvilla bauen lässt.«
Die Diskussion bewegte sich im Kreis, aber Marie war klar, dass letztlich bloß eine einzige Entscheidung sinnvoll sein konnte. Man würde die Tuchvilla und einen kleinen Teil des Parks opfern müssen, um wenigstens den größeren Teil des Grundstücks zu retten und sich finanziell über Wasser zu halten. Wenn sich die Lage irgendwann drehte, konnte man auf dem verbliebenen Grundstück später ein neues Gebäude errichten.
»Und wenn wir vielleicht alle Möbel und sonstigen Wertgegenstände verkaufen«, jammerte Lisa, die sich mit diesem Gedanken nicht abfinden konnte, »was ist dann?«
»Das wird nicht ausreichen, weil …«
Paul wurde von Humbert unterbrochen, der die Tür für Alicia öffnete.
»Warum sagt man mir nicht, dass die Familie beim Nachmittagskaffee sitzt?«, beschwerte sie sich. »Gehöre ich etwa nicht mehr dazu? Und wo sind überhaupt die Kinder?«
Sie richtete ihre empörten Blicke auf Paul, aber bevor er antworten konnte, sprang Marie für ihn ein. »Setz dich bitte zu uns, liebe Mama. Wir müssen etwas sehr Ernstes miteinander besprechen. Ist deine Migräne besser?«
»Meiner Migräne geht es ausgezeichnet. Gibt es keinen Kaffee?«
»Später, Mama«, warf Paul ein. »Ich denke, dann werden wir alle ein Tässchen brauchen.«
»Ich brauche ihn sofort«, beharrte seine Mutter ungnädig. »Humbert, bitte Kaffee, Tee und Gebäck. Und nun wüsste ich gern, was eigentlich los ist. Ich bin nämlich keineswegs so verkalkt, dass ich eure fortwährende Heimlichtuerei nicht bemerkt hätte.«
Lisa und Marie wechselten verlegene Blicke, Sebastian wollte etwas sagen, doch er schwieg, weil Paul das Wort ergriff.
»Meine liebe Mama. Es fällt mir unendlich schwer, dir ganz unumwunden unsere missliche Situation zu schildern. Aber so, wie die Lage sich momentan darstellt, muss ich das tun …«
Alicia hielt sich vorbildlich. Voller Bewunderung beobachtete Marie, wie die alte Dame Pauls Erklärungen folgte, ohne ihn zu unterbrechen. Dass sie den Inhalt begriff, den Ernst der Lage erfasste, zeigte sich daran, dass sie hin und wieder die Augen für einen Moment schloss und ihre Hände, die sie aufeinandergelegt hatte, leicht zitterten.
»Es wird leider zu einigen Unbequemlichkeiten kommen, Mama, doch du wirst alle Möbel, die dir wichtig sind, mitnehmen können. In der Karolinenstraße sind wir nahe am Stadtgeschehen, du kannst ins Theater gehen, das Marktgeschehen beobachten oder gemeinsam mit den Kindern durch die Stadt spazieren.«
Bei diesen Worten kam Bewegung in die alte Dame. Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und sah ihren Sohn zornig an. »Genug! Vergiss bitte nicht, Paul, dass ich lebenslanges Wohnrecht in diesem Haus habe. Das hat mein lieber Johann seinerzeit in seinem Testament festgelegt. Auf meinen Wunsch hin. Auf welche Summe beläuft sich der Kredit, den diese Geier auf einen Schlag zurückhaben wollen?«
»Auf etwas mehr als achtzigtausend Reichsmark«, gestand Paul.
»Das ist ja lächerlich! Die Villa hat damals mehr als das Zehnfache gekostet«, regte sich Alicia auf. »Ich verbiete dir ausdrücklich, dieses Haus, das Vermächtnis deines Vaters, so einfach zu verscherbeln!«
Marie sah, dass Paul sich erschöpft im Stuhl zurücklehnte. Man würde Mama erklären müssen, dass der Wert des Hauses inzwischen gewaltig gesunken war, was eine weitere seelische Erschütterung bei ihr hervorrufen würde. Leider war es nicht zu umgehen. Vorsichtig legte sie Paul die Hand auf den Arm, um anzudeuten, dass nun sie weitersprechen würde.
In diesem Moment ergriff Alicia erneut das Wort. »Wenn es allein darum geht, diesen lächerlichen Kredit aus der Welt zu schaffen, werde ich eben meine Brillanten opfern«, sagte sie mit hocherhobenem Kopf und funkelndem Blick.
Paul lächelte gequält. »Das ist sehr großzügig von dir, Mama. Allerdings wird nicht einmal der Verkauf deines Schmucks eine solche Summe erzielen.«
»Du weißt nicht, wovon du redest«, belehrte Alicia ihn. »Ich meine nicht die Schmuckstücke, die ich hin und wieder trage, sondern die Brillanten, die dein Vater mir zur Hochzeit geschenkt hat. Ich habe sie seitdem niemals wieder angelegt, weil sie zu wertvoll sind. Johann hat dieses Collier als Geldanlage betrachtet, es handelt sich um lupenreine Steine, von denen die größten drei bis fünf Karat haben.«
»Davon hast du uns nie erzählt, Mama«, staunte Lisa. »Wusstest du von diesem Schmuck, Paul?«
Ihr Bruder hatte durchaus davon Kenntnis gehabt, dass seine Mutter ihren Hochzeitsschmuck nach dem Tod des Vaters in ihrem Besitz behielt, hatte die Juwelen jedoch nie zu sehen bekommen.
»Dein Vater hat die Brillanten immer in einem Bankfach aufbewahrt. Anders als er habe ich den Banken nicht getraut und habe sie nach seinem Tod an mich genommen. Ich dachte daran, das Collier einer meiner Töchter zu vererben, nur würde Kitty es genau wie ich niemals tragen, und Lisa steht es nicht.«
Lisas Augen wurden starr. »Was meinst du damit, dass es mir nicht steht?«, hauchte sie.
»Weil du zu füllig bist, du würdest damit aussehen, als wollte dich jemand erwürgen«, erklärte ihre Mutter mitleidslos. »Deshalb stelle ich das Collier jetzt zur Verfügung, um dieses Haus, das unsere Familie beherbergt, zu erhalten.«
Schweigen trat ein. Paul sah unsicher zu Marie hinüber. Das Angebot war großherzig. Um es wirklich beurteilen zu können, musste man aber zunächst den Wert des Colliers fachmännisch schätzen lassen. Es war möglich, dass Mama zu optimistisch war.
»Wo bewahrst du diesen wertvollen Schmuck überhaupt auf?«, hakte Paul nach.
Alicia sah sich im Speisezimmer um, als könnten sich hinter Buffet oder Vitrine irgendwelche Lauscher verborgen haben. »In einer Mauernische gleich neben meinem Bett«, flüsterte sie. »Wenn du willst, werde ich das Collier morgen zum Juwelier in der Steingasse tragen und fragen, wie viel es wert ist.«
Paul winkte ab. »Das solltest du auf keinen Fall ohne Begleitung tun, Mama. Ich denke, dass Marie und ich mit dir gemeinsam …«
Das Gespräch wurde unterbrochen, weil Humbert anklopfte und die Tür einen Spaltbreit öffnete.
»Verzeihen Sie bitte, gnädiger Herr. Unten stehen zwei Personen, die bitten, ein Gespräch mit Ihnen führen zu dürfen. «
»Später, Humbert«, wehrte Paul leicht verärgert ab. »Wir möchten jetzt nicht gestört werden.«
»Es dauert nicht lange, gnädiger Herr«, sagte Fanny Brunnenmayer, die im Flur wartete. »Und mir scheint’s eine wichtige Sache zu sein. Für uns alle.«
Verblüfft sah sich die Familie an. Die Köchin verließ ihre Küche normalerweise nur einmal in der Woche, um mit Lisa den Speiseplan durchzusprechen. Und Else, die neben ihr stand und verlegen lächelte, hatte noch niemals gewagt, in eigener Sache ins Speisezimmer der Herrschaft vorzudringen.
Marie hatte eine schwache Ahnung von dem, was nun vorgetragen würde, denn sie kannte Fanny Brunnenmayer, die eine treue Seele und tatkräftige Person war.
»Kommen Sie bitte herein«, sagte sie. »Und nehmen Sie Platz.«
Das wollten weder Fanny Brunnenmayer noch Else. Sich bei der Herrschaft in deren eleganten Räumen niederzusetzen, kam für beide nicht infrage.
»Es ist folgendermaßen«, begann Fanny Brunnenmayer, die ihre weiße Schürze abgelegt hatte und ganz ungewohnt festlich im dunkelblau geblümten Kleid vor ihnen stand. »Else und ich, wir haben nie viel Geld ausgegeben. Hatten ja alles, was wir brauchten in der Tuchvilla. Da haben wir gespart. Else hat fünfzehntausend Reichsmark, und ich hab zwanzigtausend. Dieses Geld wollen wir Ihnen leihen, damit die Tuchvilla nicht verkauft werden muss.«
Tief gerührt wehrte Paul ab. »Das kann ich nicht annehmen, es sind die Ersparnisse Ihres Lebens. Und ich weiß nicht einmal, ob ich sie Ihnen jemals zurückzahlen kann.«
Alicia sagte kein Wort, aber Marie wusste, dass sie ebenfalls gerührt war. Zugleich empfand die alte Dame es jedoch als Zumutung, von ihren Bediensteten solche Summen anzunehmen. Sebastian hingegen wäre wohl am liebsten aufgestanden, um den beiden Frauen die Hände zu schütteln. Lisa blickte stirnrunzelnd zu ihrem Bruder hinüber.
»Wieso denn nicht, Paul? Damit wäre uns allen geholfen, oder? Haben Sie das Geld auf einem Bankkonto, Frau Brunnenmayer? Da ist es momentan sowieso nicht gut aufgehoben.«
»Wo denken Sie hin, gnädige Frau«, rief Fanny Brunnenmayer und lachte. »Den Banken trau ich net. Mein Geld ist oben in meiner Kammer in einem guten Versteck. Und die Else, die hält es genauso.«
Es war ein ergreifendes Bild. Marie musste leise schmunzeln, Paul war vollkommen überwältigt und wusste nicht, was er sagen sollte.
»Nehmen Sie das Geld bitte an, gnädiger Herr«, ließ sich nun auch Else schüchtern vernehmen. »Damals, als ich so krank war, da haben Sie mich auf Ihren Armen in die Klinik getragen und mir das Leben gerettet. Das hab ich nie vergessen. Die Tuchvilla, die ist mein Zuhause. Seit über vierzig Jahren leb ich hier, und hier will ich dereinst meinen letzten Atemzug tun. Und die Fanny, die will das genauso.«
»Hauptsache, net so bald«, meinte die Köchin. »Will schon noch ein paar schöne Jahre haben und net wildfremden Leuten dienen müssen.«
»Dann müssen wir vielleicht neu verhandeln«, sagte Paul, der seine Sprache wiedergefunden hatte. »Trotzdem bitte ich Sie beide, sich noch einmal gründlich zu überlegen, ob Sie dieses Geld wirklich …«
»Da gibt’s nix zum Überlegen«, sagte die Köchin kurz angebunden. »Wir haben gesagt, was zum Sagen war. Und jetzt muss ich zurück in die Küche, sonst geht mir das Herdfeuer aus.«
Die Tür schloss sich, und die Familie war wieder unter sich. Zunächst herrschte Schweigen, dann bemerkte Alicia, dass es nicht zu verantworten sei, sich Geld von den Angestellten zu leihen. Lisa hielt dagegen, Sebastian lobte die Güte und Opferbereitschaft der beiden Angestellten und vergaß nicht hinzuzufügen, dass dies einfache Menschen seien, die im Gegensatz zu vielen kapitalistischen Ausbeutern das Herz auf dem rechten Fleck hätten.
Marie sah Paul an, dass er im Kopf Rechnungen aufstellte und über juristische Formalien nachdachte, Möglichkeiten erwog und wieder verwarf. Es taten sich unerwartet neue Wege aus der Krise auf – ob sie tauglich waren, würde sich herausstellen.
»Ich schlage vor, die Entscheidung zu verschieben«, meldete sich Sebastian. »Unter diesen Umständen wäre es vorschnell, die Tuchvilla zu verkaufen. Sehe ich das richtig?«
»Auf jeden Fall«, betonte Alicia entschieden, und Lisa unterstützte sie, eifrig Zustimmung nickend.
»Was denkst du, Liebste?«, fragte Paul.
»Ich bin tief bewegt«, sagte Marie. »Wir hatten vergessen, wie wunderbar diese große Gemeinschaft ist, die miteinander in der Tuchvilla lebt. Vielleicht ist der Satz ja wahr: Wenn die Not am größten ist, ist die Hilfe am nächsten.«
»Warten wir es ab«, meinte Paul, der nicht ganz überzeugt war. »Und jetzt brauche ich einen Kaffee. Humbert, haben Sie uns vergessen?«
Der Hausdiener trug das bereitstehende Tablett herein und teilte die Tassen aus. Marie versuchte vergeblich, Paul daran zu hindern, Bohnenkaffee zu trinken, doch der Patient war ungehorsam.
»Wenigstens ein Tässchen, mehr verlange ich nicht, Marie.«
Alicia trank genussvoll den ersten Schluck und sah zufällig zur Kommode hinüber. »Was liegt dort eigentlich? Ach ja, ich erinnere mich. Das kam heute Mittag für mich, gib es mir bitte, Marie … Es ist von Elvira. Du liebe Güte, hoffentlich nicht bereits wieder eine schlechte Nachricht.« Sie hielt das Telegramm in weitem Abstand vor ihre Augen, weil sie dann besser sehen konnte. »Elvira kommt zu Besuch. Sie schreibt: Ankomme Mittwoch mit Liesl und fünf Trakehnern
»Du hast dich verlesen, Mama«, meinte Lisa. »Da steht sicher mit fünf Trägern. Für ihr Gepäck oder wofür auch immer.«
Alicia reichte ihrer Tochter das Telegramm über den Tisch hinweg und nahm sich ein Scheibchen Königskuchen. »Lies selbst, wenn du glaubst, ich hätte schlechte Augen.«
Lisa studierte den Text mit gerunzelter Stirn, dann legte sie das Papier neben ihren Kuchenteller. »Da steht tatsächlich fünf Trakehner. Tante Elvira muss verrückt geworden sein.«