40
D er Kummer, den sie in ihrem Herzen trug, würde für immer bleiben. Es gab niemanden, dem sie von diesem Schmerz erzählen konnte, er gehörte ihr allein. Für den Rest ihres Lebens. Liesl saß auf dem schaukelnden Wagen und starrte mit tränenblinden Augen in die erwachende Frühlingslandschaft. Auf die weiten, grünenden Wiesen, in denen Inseln von gelbem Löwenzahn blühten, auf die schroffen Silhouetten dunkler Wälder am Horizont, auf das verlockende Glitzern eines dahineilenden Bachlaufs im Sonnenlicht.
»Freust du dich nicht, dass es wieder nach Hause geht?«, fragte Leschik und drehte sich nach ihr um. »Hast schließlich deine Mutter und deine Brüder daheim.«
»Doch, doch«, antwortete Liesl rasch. »Ich freu mich ja.«
Es klang nicht sehr überzeugend, und der Pferdeknecht wandte sich ratlos wieder nach vorn, um die betagte Stute anzutreiben. Er hatte sich entschlossen, auf Gut Maydorn zu bleiben, aber die Trennung von seiner verehrten Herrin lastete schwer auf ihm. Neben Liesl türmten sich Kisten, Koffer und Bündel sowie ihre Reisetasche, die dieses Mal gut gefüllt war mit Wäsche und Kleidern, seidenen Strümpfen und Schuhen. In einem Etui aus Leder lag sorgsam in weißer Watte verpackt der hübsche Ring, den Frau von Maydorn ihr geschenkt hatte. Der Pelz von Fanny Brunnenmayer, der ihr in den ersten schlimmen Monaten lebenswichtige Dienste geleistet hatte, steckte zusammengerollt in einem der Koffer. Inzwischen benötigte sie das wärmende Kleidungsstück nicht mehr. Frühlingswinde strichen sanft über das Land, junge Häschen tummelten sich in den Wiesen, weißgraue Reiher standen wie Stöcke unbeweglich an den Gewässern, und oben am klaren Himmel zogen Raubvögel ihre Kreise.
Elvira von Maydorn ritt vor dem Wagen her, sie hatte den Hengst einige Tage zu den Stuten auf die Weide geschickt, damit er sich austobte und ruhiger wurde, sodass sie es wagen konnte, auf ihm nach Kolberg zu reiten. Ihr Rücken war zwar keineswegs schmerzfrei, doch wesentlich besser geworden. Wer fast fünfzig Jahre im Sattel gesessen hatte, machte schließlich nicht auf den letzten Metern schlapp.
»Hat mich aus dem Weg räumen wollen, die Bäuerin«, grollte sie. »Aber der Herrgott hat es anders gefügt und mir den Rücken wieder eingerenkt. Der Himmel ist gerecht!«
Zwei junge Stuten mit ihren Jährlingsfohlen begleiteten den Wagen. Die Gutsbesitzerin hatte diese Tiere sorgfältig ausgewählt, und ihr größter Kummer war, dass sie die restliche Herde vorerst auf Maydorn zurücklassen musste. Solange Hagemanns Frau sich noch auf dem Gut oder in der Nähe herumtrieb, fürchtete sie, dass es noch mal zu einem solch üblen Anschlag kam, der ihren Pferden großen Schaden zufügen oder sie sogar das Leben kosten könnte.
»Sie wird’s wohl versuchen, er wird sie vermutlich dran hindern«, mutmaßte die alte Gutsherrin. »Zornig wird er bestimmt auf sie sein, vielleicht ist’s ihm eine Lehre, dem Hagemann.«
Elvira von Maydorn hatte sich mit ihrem Anwalt besprochen, der beauftragt war, ihren Nachlass zu regeln. Während Liesl im Postamt von Kolberg mit Augsburg telefonierte, um dem unglücklichen Christian mitzuteilen, dass sie ihn nicht vergessen habe, hatte Elvira ein langes, ernstes Gespräch mit dem Juristen geführt, der sie über ihre Rechte aufklärte.
»Meine Hinterlassenschaft, die geht an Klaus von Hagemann«, erklärte sie Liesl auf der Rückfahrt. »Daran ist nichts mehr zu rütteln, das hab ich dumme Pute damals bei Lisas Scheidung so festgelegt. Doch was und wie viel ich hinterlasse, das ist meine Sache. Der Gutshof ist seit mehr als zweihundert Jahren im Besitz derer von Maydorn, wobei mein lieber Rudolf der letzte männliche Erbe war. Die Alicia hat das Gut nicht haben wollen, und die Lisa, die nächste Erbin, hat es bei ihrer Scheidung an den Hagemann abgetreten. Hat mich da einer gefragt, ob es mir recht ist? Keiner hat das getan. Unterm Hintern hat Lisa mir das Gut weggezogen und an ihren Verflossenen gegeben. Und der tut sich mit so einem Drecksweib zusammen, das mir sogar ans Leben will. Aber die sollen mich kennenlernen. Heulen und Zähneklappern bring ich über dieses Pack!«
Obwohl Liesl die Zornausbrüche ihrer Mutter kannte, war das nichts gegen die hemmungslose Wut, die die betrogene Gutsherrin seit dem Angriff auf den Stall erfasst hatte, denn ein Anschlag musste es gewesen sein, das bewies auch die Tatsache, dass jemand den Riegel an der Box des Hengstes Dschingis Khan zurückgeschoben hatte. Am Abend zuvor waren sämtliche Boxen kontrolliert worden und in Ordnung gewesen. Leschik, der die Trakehner wie seine eigenen Kinder liebte, hatte es ihr versichert. Wer noch vor Sonnenaufgang in den Pferdestall geschlichen war, würde wohl nie herauskommen – wahrscheinlich dieselbe Person, die kurz darauf dicke Kiesel in die Stallfenster geworfen hatte.
»Stell dir mal vor, Mädel«, gab Elvira von Maydorn zu bedenken, »wenn bei dem Tumult eine der Petroleumlampen vom Haken gefallen wäre. Dann hätte es den Stall mit allem, was drin war, in Flammen gesetzt, und wir wären mitsamt der Pferde jämmerlich verbrannt. Womöglich hätte es sogar auf die anderen Ställe und das Gesindehaus übergreifen können, das Feuer. Wir haben alle großes Glück im Unglück gehabt!«
Als sie an jenem Nachmittag aus Kolberg wieder zurück zum Gutshof fuhren, hatte Elvira von Maydorn den festen Entschluss gefasst, das Gut zu verkaufen. Zwar hatte Klaus von Hagemann dann nach wie vor Anspruch auf das Geld, das sie dafür erhielt, doch dafür hatte die alte Dame eine Lösung gefunden.
»Ich werde es verbrauchen, Mädel. In Augsburg, bei meiner Schwägerin Alicia, die mir als Einzige von meiner Generation geblieben ist. Für meine Pferde werde ich eine gute Weide und einen Stall anmieten. Mir selber will ich auch was gönnen. Verjuxen und verjubeln werde ich das Geld, bis nichts mehr da ist. Keinen müden Pfennig wird er von mir erben.«
Sie hatte gleich einen Makler gefunden, der tags darauf im offenen Automobil auf dem Gutshof erschien, um alles genau in Augenschein zu nehmen und sich seine Notizen zu machen. Der kleine, geschäftige Mann im dunklen Mantel und Hut fiel dem Verwalter Klaus von Hagemann natürlich auf, ärgerlich stellte er den Fremden zur Rede und erfuhr auf diese Weise von den Plänen der Gutsherrin. Es musste ihm schwer in die Glieder gefahren sein, denn Liesl hatte vom Fenster aus, hinter der Gardine verborgen, gesehen, wie ihr Vater bewegungslos verharrte und den schwatzenden Makler wie eine Geistererscheinung anstarrte. Er brüllte etwas, das Liesl nicht verstand, hob die Peitsche und ging auf den Makler los, woraufhin der verblüffte Mann in aller Eile zurückwich. Schimpfend stieg er in sein Automobil, scheuchte zwei Hühner von den Sitzen, die dort inzwischen Platz genommen hatten, und knatterte davon.
»Das wird dir nichts nützen, Klaus von Hagemann!«, schrie Elvira von Maydorn, die ebenfalls an einem Fenster gestanden hatte, über den Hof hinweg in heißem Zorn. »Einen kann er verscheuchen, dafür kommen drei andere«, schimpfte sie. »Wir wollen mal sehen, wer hier das Sagen hat!«
Nicht lange, und sie hörte ihren Vater mit schweren Stiefeln die Treppe hinaufsteigen. Er klopfte kurz an, dann stand er im Zimmer, trug die speckige Jacke, und an seinen Stiefeln hing der Schweinemist, der den Stallmägden beim Mistkarren herabgefallen war.
»Was soll das werden?«, bellte er. »Was hat diese Lachfigur von einem Makler auf Maydorn verloren?«
Liesl verzog sich angstvoll hinter dem Lehnsessel, aber die Gutsherrin erhob sich von ihrem Sitz und trat ihm furchtlos entgegen. »Ich wüsste nicht, dass ich Sie in meine Räume gebeten hätte«, sagte sie herrisch.
Der Verwalter schnaubte ärgerlich, die Narben in seinem Gesicht traten als dicke rote Linien hervor und entstellten ihn mehr als sonst.
»Lassen wir bitte die Formalien«, meinte er und bemühte sich, ruhiger zu wirken. »Dieser Gutshof wurde mir als Erbe zugesprochen, das ist notariell besiegelt und bestätigt. Sie können ihn nicht verkaufen!«
Die alte Dame musste den Kopf ein wenig anheben, um ihrem Gesprächspartner ins Gesicht sehen zu können. Sie grinste ihn hämisch an. »Ein Erbe ist erst dann ein Erbe, wenn der Erblasser tot ist. Und da ich noch am Leben bin, gibt’s für Sie kein Erbe. Der Gutshof gehört mir, und ich mache damit, was ich will.«
Gereizt starrte er sie an, sein Kinn begann zu zittern. »Das wird vor Gericht nicht durchgehen, Frau von Maydorn. Es gibt einen notariellen Vertrag.«
»Ich habe gestern mit dem Anwalt gesprochen, es ist rechtens. Selbst wenn es Ihnen nicht gefällt: Der Gutshof wird den Besitzer wechseln, und sofern Sie viel Glück haben, bleibt Ihnen der Posten des Verwalters. Empfehlen werde ich Sie nicht.«
»Das ist ja Irrsinn!«, brach es wutentbrannt aus ihm heraus. »Wieso bilden Sie sich ein, jemand hätte einen Anschlag auf Sie verübt? Lächerlich. Es war ein bedauernswerter Unfall. Ein Verrückter hat mit Steinen geworfen, und Sie drehen mir und meiner Familie einen Strick daraus!«
»Ich will nichts mehr hören«, sagte die alte Frau energisch. »Verlassen Sie mein Zimmer, Herr von Hagemann!«
Er wollte noch Einwände anbringen, aber als sein Blick die weit aufgerissenen, erschrockenen Augen seiner Tochter traf, schwieg er. »Denken Sie noch einmal in aller Ruhe darüber nach, Frau von Maydorn«, erwiderte er mit bebender Stimme. »Sie schneiden sich ins eigene Fleisch.«
Er drehte sich um und ging hinaus, nur ein paar Brocken Stallmist blieben auf dem Fußboden zurück.
»Jetzt wird die Bäuerin ihr Fett abkriegen«, freute sich Elvira von Maydorn und setzte sich mit der Zeitung auf ihren Lehnstuhl.
Tatsächlich entbrannte am Abend im unteren Geschoss ein heftiger Streit. Dieses Mal dominierte die männliche Stimme, die weibliche keifte hin und wieder, später hörte man sie jammern. Liesl hielt sich die Ohren zu, sie wollte sich gar nicht erst vorstellen, was dort unten geschah. Ihre Gönnerin hingegen lächelte zufrieden und schien dieses Stimmenkonzert zu genießen.
Tags darauf erschien der Makler erneut auf dem Hof, dieses Mal hatte er zwei kräftige Männer mitgebracht, die ihn bei seinem Besichtigungsgang begleiteten. Er verhandelte mit der Gutsbesitzerin, schaute sich den Plan von Grundbesitz und Gebäuden an und rumpelte mit seinem Automobil davon. Er würde Anzeigen in allen wichtigen Zeitungen in Berlin, München und Hamburg schalten, hatte er versprochen. Jetzt war es amtlich.
Tage vergingen, es war sehr still im Gutshaus, nur die drei Kinder lärmten manchmal. Sie wurden jedoch immer rasch zur Ruhe gebracht. Klaus von Hagemann war auf den Feldern und in den Ställen beschäftigt, es wurde geeggt und gesät, Kälber und Ferkel kamen zur Welt, im Pferdestall hatten zwei Stuten geworfen. Der Verwalter war ungewöhnlich streng, gebrauchte rasch und ohne Vorwarnung die Peitsche, Knechte und Mägde zogen die Köpfe ein und tuschelten heimlich miteinander. Es hatte sich herumgesprochen, dass das Gut verkauft werden sollte und vielleicht ein anderer Verwalter eingesetzt würde. Wenn Liesl hinunter in die Küche ging, waren die Mägde neuerdings freundlich, redeten mit ihr und fragten, ob es wahr sei, dass der Verwalter und seine Frau gehen müssten. Liesl zuckte die Schultern und sagte, sie wisse nichts darüber. Aber wenn sie hinausging, hörte sie die Frauen miteinander flüstern, dass es ein Segen wäre, wenn die Frau des Verwalters von hier verschwände.
Es herrschte eine unangenehme Spannung. In den Nächten meinte Liesl, Schritte im Flur und das Knacken der Treppenstufen zu hören. Es war, als stiege dort jemand in Strümpfen herauf. Auch Frau von Maydorn war besorgt, sie verschloss die Zimmertür sorgfältig und verbarrikadierte die Türklinke mit einer Stuhllehne.
»Zur Vorsicht«, sagte sie zu Liesl. »Brauchst keine Angst zu haben, Mädel. Hab den Säbel von meinem Bruder selig neben dem Bett stehen. Den hat er als Offizier getragen, die Klinge ist glatt und scharf.«
Liesl, die nach wie vor im Wohnzimmer auf dem Sofa schlief, fühlte sich von dieser Zusicherung keineswegs beruhigt. Sie zog den Pelz von Fanny Brunnenmayer über sich und hoffte, dass sie im Ernstfall niemand sehen würde.
Doch der Tod fand selbst bei verschlossenen Türen seinen Weg ins Gutshaus, als schwarzer Schatten stieg er unhörbar die Stiegen empor und verrichtete seine Arbeit. Als Liesl am Morgen ihrer Großmutter Riccarda von Hagemann einen Becher warme Milch mit Honig bringen wollte, fand sie die alte Frau leblos in ihrem Bett.
»Hat ausgelitten«, sagte Elvira von Maydorn, als sie in das Zimmer der Toten kam, um von ihr Abschied zu nehmen. »War nicht uneben, die Riccarda. Hab mich gut mit ihr verstanden, solange sie noch klar im Kopf war. Gott hab sie selig und schenke ihr das ewige Leben.«
Ob ihr Vater den Tod seiner Mutter betrauerte, erfuhr Liesl nicht. Am Nachmittag trugen zwei Knechte die Verstorbene in einem Betttuch die Stiege hinunter und legten sie in den hölzernen Sarg, den ein Fuhrwerk gebracht hatte. Die Beerdigung sollte nach Ostern sein, aber Liesl konnte nicht mehr daran teilnehmen – zu diesem Zeitpunkt, so hatte Elvira von Maydorn beschlossen, würden sie das Gut schon verlassen haben.
Am Nachmittag des gleichen Tages sah man die Frau des Verwalters, die sich jahrelang als Gutsherrin betrachtet hatte, mit ihren Kindern und zwei Mägden auf einen Wagen steigen. Kisten und Koffer wurden hinaufgereicht, die »Bäuerin«, wie Frau von Maydorn sie selbst jetzt noch abfällig nannte, trug einen weiten Mantel aus dunklem Tuch, um das Haar hatte sie einen Schal geschlungen. Sie sah weder nach rechts noch nach links, während einer der Knechte das Fuhrwerk aus dem Hof lenkte. Mägde und Knechte standen vor den Ställen und Wirtschaftsgebäuden, um ihr mit offenen Mündern nachzuschauen. Liesl und Frau von Maydorn beobachteten die Szene vom Fenster des Gutshauses, doch die alte Dame sagte kein einziges Wort dazu.
Am Abend klopfte Klaus von Hagemann an die Zimmertür, und das Gespräch, das zwischen ihm und Frau von Maydorn geführt wurde, blieb seiner Tochter lange Zeit im Gedächtnis.
»Auf ein Wort, Frau von Maydorn, ich bitte Sie«, sagte er in verbindlichem Ton. »Ich denke, das Recht zu haben, diese Angelegenheit einmal aus meiner Sicht darzustellen.«
Die Gutsherrin ließ ihn eintreten. Mit Genugtuung stellte sie fest, dass er dieses Mal einen Anzug angezogen hatte und keine Stiefel, sondern normales Schuhwerk trug. Vor allem sprach er in gesetztem Ton und mit dem Zusatz »Ich bitte Sie«. Trotz allem bot sie ihm keinen Stuhl an, er musste vor ihr stehen, während sie in ihrem Lehnstuhl saß und ihn von unten herauf musterte.
»Mein Beileid zum Tod Ihrer Mutter«, sagte sie. »Der Riccarda zuliebe will ich Sie anhören.«
Liesl saß auf dem Sofa, wohl wissend, dass ihre Anwesenheit dem Vater unangenehm war, aber da Frau von Maydorn sie nicht hinausschickte, rührte sie sich nicht von der Stelle .
Ihr Vater begann damit, seine treuen Dienste auf dem Gutshof und seine erfolgreiche Arbeit zu loben. »Als ich vor über zehn Jahren diesen Posten übernahm, war der land- und forstwirtschaftliche Ertrag sehr gering, Gleichgültigkeit und Misswirtschaft hatten sich breitgemacht, das Gesinde lebte in Saus und Braus, die Ställe waren verdreckt, die Gerätschaften nicht gepflegt. Deutlich gesagt: Außer der Pferdezucht war alles vernachlässigt worden. Ich war es, der den Betrieb wieder hochbrachte.«
Elvira von Maydorn hörte ihm geduldig zu, und als er geendet hatte, nickte sie bedächtig. »Ist leicht übertrieben, doch im Kern stimmt’s. Sie haben sich als tüchtiger Verwalter erwiesen, von Hagemann. Leider haben Sie sich mit der falschen Frau zusammengetan.«
Klaus von Hagemann versuchte halbherzig, seine Frau zu verteidigen, räumte aber schließlich ein, dass Frau von Maydorn recht hatte.
»Ich habe sie heim in ihr Dorf geschickt«, fuhr er fort. »Sie wird Sie nie mehr behelligen. Ich werde mich dauerhaft von ihr trennen, sie hat strenges Verbot, das Gut je wieder zu betreten.«
Erwartungsvoll sah er die Gutsherrin an. Doch Elvira von Maydorn war nicht beeindruckt von diesem Opfer. Im Gegenteil: »Dann hat sie also zugegeben, den Anschlag veranlasst zu haben?«, fragte sie lauernd.
Klaus von Hagemann schwieg – es war ein sehr beredtes Schweigen. »Ich habe nichts davon gewusst, Frau von Maydorn«, sagte er schließlich leise. »Das schwöre ich.«
Ein Weilchen war es still im Wohnzimmer. Von Hagemann wartete auf eine Antwort, und Liesl sah das Flehen in seinen Augen, die inständige Bitte, ihm nicht alle Hoffnungen zu rauben. Fast konnte sie nicht glauben, dass dies der gleiche Mann war, der sie so kalt verabschiedet und fortgeschickt hatte. Den Vater so erniedrigt zu sehen, tat beinahe mehr weh, als seine Gleichgültigkeit zu ertragen. Liesl wünschte inständig, sie wäre vor Beginn dieses Gesprächs ins Nebenzimmer entwischt, um nichts von alldem mit anhören zu müssen. Es sollte noch schlimmer kommen.
»Dass Sie nicht dahintergesteckt haben«, ließ sich Frau von Maydorn vernehmen, »das will ich glauben. Das Theater mit der Trennung von Ihrer Bäuerin hingegen, das können Sie sich sparen. Ich weiß recht gut, wie es ausgehen wird.«
»Mir ist es bitterernst damit. Warum glauben Sie mir nicht?«
»Weil ich weiß, dass Sie diese Person im Leben nicht mehr loswerden«, sagte Elvira von Maydorn gelassen. »Sobald ich mit der Liesl und den Pferden davon bin, wird sie hierher zurückkommen. Selbst gegen Ihren Willen.«
»Sie wollen weg?«, fragte er erschrocken.
»Allerdings. Den Verkauf regelt der Makler, die Übergabe an den Käufer muss ich nicht mit ansehen. Wir brechen morgen auf.«
Jetzt kam dumpfe Verzweiflung über Klaus von Hagemann. Er schüttelte den Kopf und rang die Hände, dann traf sein Blick auf seine Tochter, die das Ganze mit Entsetzen verfolgte. »Liesl«, rief er bittend. »So sag auch etwas dazu. Du bist mein Kind, und ich bin dein Vater. Leg ein gutes Wort für mich ein!«
Es war ein Dilemma für Liesl, die ihm gern geholfen hätte. Aber das war unmöglich, gegen den Willen ihrer Gönnerin war sie machtlos.
»Lassen Sie das Mädel in Ruhe«, sagte die Gutsherrin schließlich ärgerlich. »Sie haben sich nie um sie gekümmert, da ist es eine Schande, sie anzubetteln. Und jetzt bin ich müde und will zu Bett gehen. Morgen wird ein harter Tag. Gute Nacht, Herr von Hagemann!«
Er ging wortlos hinaus, ohne Liesl noch einmal anzusehen, und schloss die Tür mit einem harten Ruck. Das also war das Ende. Das Ende ihrer Suche nach dem Vater und der Anfang eines lebenslangen Kummers.
Als am nächsten Tag der massige Leuchtturm von Kolberg in der Ferne zu sehen war, wischte sie sich die Tränen ab und beschloss, von nun an nicht mehr an ihren Vater zu denken. Wichtiger war es, nach vorn zu sehen, dort warteten sicher andere Probleme. Die Mutter würde nicht froh sein, dass sie zurückkehrte, denn sie hatte sich anderes erhofft. Außerdem war ungewiss, ob sie ihre Stellung in der Tuchvilla wieder erhielt. Falls man dort inzwischen eine andere eingestellt hatte, würde sie vorerst bei der Mutter wohnen und in der Gärtnerei mitarbeiten müssen. Und Christian? Würde er glauben, dass sie ihn nicht vergessen hatte? Vielleicht hatte er sich ja die ungetreue Liesl längst aus dem Kopf geschlagen und wollte nichts mehr von ihr wissen.
Die Ankunft des kleinen Trecks am Bahnhof vertrieb erst mal alle Zukunftssorgen, weil es galt, Gepäck und Pferde in die bereitstehenden Waggons zu verladen. Bei Kisten und Koffern war das schnell getan durch die Hilfe von zwei Gepäckträgern, die eilfertig herbeiliefen und auf ein gutes Trinkgeld hofften. Mit den Pferden war es eine andere Sache. Leschik und Frau von Maydorn benötigten eine Engelsgeduld, bis die beiden Stuten mit ihren Fohlen die hölzerne Rampe in den geschlossenen Güterwagen passierten.
Selbst als die beiden jungen Pferde drinnen waren und von Leschik gehalten wurden, zögerten ihre Mütter misstrauisch, das dunkle Wageninnere zu betreten .
»Wird das heute noch was?«, fragte der Stationsvorsteher ungeduldig. »In einer halben Stunde fährt der Zug ab.«
»Sie sehen ja, dass wir uns bemühen«, kanzelte ihn Elvira von Maydorn ab. »Das sind keine Militärpferde, sondern Zuchttiere. Die haben in ihrem bisherigen Leben nie einen Waggon gesehen.«
»Dann lernen sie’s hoffentlich bald«, schimpfte der Mann. »Und wenn der Hengst unterwegs Sperenzien macht, dann schmeißt ihn der Zugführer raus.«
Frau von Maydorn sah den uniformierten Menschen empört an und straffte den Rücken. »Wer immer versucht, meinen Hengst aus dem Waggon zu treiben, dem fahre ich persönlich an die Gurgel.«
»Eine halbe Stunde und keine Sekunde länger geb ich Ihnen Zeit«, erklärte der Stationsvorsteher unbeeindruckt und stapfte davon, weil er sich um den Personenzug nach Köstlin kümmern musste.
Der eigenwillige Dschingis Khan sollte allein in einem zweiten Waggon untergebracht werden, damit er bei den Stuten keine Unruhe stiftete. Allerdings wollte er sein Luxusabteil unter keinen Umständen betreten, kein Locken, keine Leckerbissen, kein Zureden brachten ihn dazu, sich dem Waggon nur zu nähern. Stur verharrte er vor dem Wagen, in dem seine Stuten mit ihren Fohlen standen, schüttelte zornig die Mähne und verlangte seine Damen zurück.
»Es hilft nichts, wir müssen die Cora ausspannen und in den Waggon führen«, schlug Leschik vor. »Die Stute ist brav, die wird hineingehen, und der Dschingis Khan geht hinterher. Anschließend hole ich die Cora wieder raus, und Sie machen rasch die Tür zu.«
»In Gottes Namen«, seufzte Frau von Maydorn. »Mach rasch, der verdammte Rotbemützte schaut auf die Uhr. «
Liesl lief hinter Leschik her, weil im Wagen noch zwei Futtereimer mit Leckerbissen für die Pferde standen, die mit auf die Reise sollten. Doch nach den ersten Schritten blieb sie wie angewurzelt stehen.
»Verzeihung«, sagte jemand zu Leschik. »Man hat mir gesagt, dass Sie zum Gut Maydorn fahren.«
»Das ist richtig«, sagte der Kutscher, der an der Stute hantierte. »Dauert aber noch ein Weilchen. Wollen Sie mit?«
»Ja, ich will nach Maydorn, da hab ich ja wirklich Glück gehabt, dass Sie mich mitnehmen.«
Tatsächlich war Christian heute ein Glückskind. Er fuhr heftig zusammen, als er Liesls lauten Überraschungsschrei hörte. »Christian! Christian! Nein, das glaub ich net! Bist du das wirklich?«
Verblüfft, wie er war, brachte er kein Wort heraus und blieb stocksteif auf der Stelle stehen, während Liesl geradewegs auf ihn zulief und ihm um den Hals flog.
»Ja, Liesl …«, stotterte er und konnte nicht glauben, dass sie in seinen Armen lag. »Liesl, da bist du ja.«
»Und du, Christian? Wie kommst du hierher? Ich denk, du bist in Augsburg und magst nix mehr von mir wissen.«
Endlich hatte er begriffen, dass er am Ziel angekommen war. Früher und leichter, als er geglaubt hatte. Und dieses Wiedersehen war viel wunderbarer, als er es sich je erträumt hatte.
»Heimholen will ich dich«, sagte er verlegen. »Weil ich das Warten satthabe. Und weil ich net will, dass du so einen Grafen oder Prinzen heiratest und mit ihm unglücklich wirst.«
Liesl musste lachen, weil er einen solchen Unsinn redete. Grafen und Prinzen! Wie kam er auf so etwas?
»Ich hab extra in der Tuchvilla angerufen und dem Humbert gesagt, er soll dir von mir ausrichten, dass ich dich net vergessen hab, Christian!«
Er schüttelte den Kopf, weil er von keinem Telefonanruf wusste. Doch weil die Liesl immer noch ganz dicht bei ihm stand und nicht fortgehen wollte, küsste er sie ganz zart auf die Wange.
»Liesl?«, hörte man die energische Stimme der Gutsherrin. »Wo steckst du bloß, Mädel? Der Hengst ist drin, und der Zug fährt gleich ab. Wo sind die Futtereimer?«
Erschrocken fuhren die beiden auseinander. Liesl griff einen Eimer, Christian den anderen, so liefen sie zum Verladebahnsteig, wo Frau von Maydorn ungeduldig wartete und der Stationsvorsteher ungeduldig die Kelle schwang.
»Nanu?«, staunte die alte Dame. »Hast dir einen Freund angelacht?«
»Das ist der Christian Torberg aus Augsburg, Frau von Maydorn. Bittschön, darf er mit uns heimfahren?«
Ihre Gönnerin musterte den neuen Fahrgast, fand ihn gut gewachsen und sehnig. »Kann er mit Pferden umgehen?«
»Freilich kann er das«, behauptete Liesl kühn.
»Dann steig ein, Christian.«
Die Reise war lang und anstrengend für Mensch und Tier. An jeder Station galt es, nach den Pferden zu schauen, ihnen frisches Wasser zu beschaffen, den Mist auszuräumen und neues Stroh einzustreuen. Wenn der Zug weiterfuhr, saß Liesl neben Frau von Maydorn im Abteil, unterhielt sich mit ihr, reichte ihr die Tasche mit der Verpflegung, die Zeitung oder spielte mit ihr Karten. Christian stand meist im Gang und schaute aus dem Zugfenster in die Landschaft. Wenn die alte Frau ein Schläfchen machte, schlich sich Liesl zu ihm hinaus, um ihm etwas zu essen zu bringen und ein paar Worte mit ihm zu reden. Es gab viel, das sie sich zu erzählen hatten, zarte Geständnisse wurden ausgetauscht, und wenn kein Schaffner und kein Mitreisender zu sehen war, legte Christian den Arm um sein Mädel und bewies ihr, welch übergroße Sehnsucht er nach ihr gehabt hatte.