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L
eo hasste rührselige Abschiedsszenen. Niemals hätte er vor anderen Menschen geheult und geschluchzt, wie es die Frauen taten. Lieber machte er ein grimmiges Gesicht und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Ich wünsche Ihnen alles Glück der Welt«, sagte Mama zu Frau Ginsberg und umarmte sie. Beide hatten Tränen in den Augen und hielten einander ein Weilchen fest.
»Wir sehen uns wieder, ich bin ganz sicher, dass wir einander irgendwann wiedersehen. Vergessen Sie nicht, gleich zu schreiben, wenn Sie in Amerika angekommen sind.«
Sie standen an der Treppe im ersten Stock der Tuchvilla, unten in der Halle wartete Humbert schon auf die Ginsbergs, um sie zum Bahnhof zu fahren. Zuerst ging es nach Hamburg, dann nach Bremerhaven, wo übermorgen ihr Dampfer ablegen würde. Dann nach New York. In das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Walter hatte seine Geige in den Kasten gelegt, den Bogen entspannt und sorgfältig an die Seite geklemmt, jetzt legte er die Notenblätter dazu und klappte den Kasten zu. Leo stand neben seinem Freund und schluckte mehrfach, aber der Kloß in seinem Hals wollte nicht weggehen. Sie hatten die kleine Geigensonate, die Leo für Walter geschrieben hatte, mehrfach durchgespielt, nun war der Augenblick gekommen, voneinander Abschied zu nehmen. Für sehr lange Zeit. Vielleicht für immer
.
»Dann … geh ich jetzt«, sagte Walter mit heiserer Stimme. »Mach’s gut, Leo. Und schreib mir, ja? Und vergiss mich nicht.«
Leo schüttelte energisch den Kopf. Wie sollte er seinen einzigen Freund je vergessen?
»Du musst zuerst schreiben, Walter, weil ich deine Adresse nicht weiß …«
»Klar, versprochen.«
Die beiden Mütter stiegen zusammen die Treppe hinunter in die Halle, wo Hanna stand, um Frau Ginsberg und Walter in Mantel und Jacke zu helfen. Walter und Leo hingen immer noch mit den Blicken aneinander und rührten sich nicht.
»Also dann«, murmelte Walter. »Ade …«
»Ade«, flüsterte Leo.
Sie umarmten einander, was ihnen sonst eher peinlich war. Beide grinsen ein wenig, dann lösten sie sich voneinander, und Walter lief mit seinem Geigenkasten so eilig die Treppe hinunter, als würde er verfolgt.
An der Eingangstür drehte sich Frau Ginsberg noch einmal um und winkte den Zurückbleibenden zu, stieg dann zu Walter in den Wagen, und Humbert ließ den Motor an. Sie fuhren durch die Allee aus dem Parktor auf die Haagstraße in die Stadt hinein. Zum Bahnhof, wo Walters neues Leben beginnen würde, an dem Leo von nun an keinen Anteil mehr hatte.
»Na, Leo«, sagte Mama und legte ihm den Arm um die Schultern. »Du bist traurig, nicht wahr? Denk daran, dass es für die beiden besser ist.«
»Ja, Mama.«
Er war nicht sicher, ob sie recht hatte. Doch die Erwachsenen hatten entschieden, und man musste sich fügen. Er entwand sich Mamas tröstendem Arm und
behauptete, noch ein wenig in den Park gehen zu wollen und die Pferde anzuschauen.
»Bleib nicht zu lange, Leo. Es gibt nachher eine Brotzeit mit all den leckeren Sachen, die Tante Elvira aus Pommern mitgebracht hat. Tante Tilly kommt und Tante Kitty mit Onkel Robert.«
Ach herrje, dachte er. Dann würde garantiert Henny dabei sein, die er gerade jetzt, wo er immer an Walter denken musste, überhaupt nicht um sich haben mochte.
»Ich bin rechtzeitig zurück, Mama.«
Natürlich hatte er mal wieder Pech. Als er die Eingangsstufen der Villa hinunterlief, knatterte Tante Kittys Auto gerade munter in den Hof herein, hüllte das blühende Rondell in eine dunkle, stinkende Wolke und hielt vor der Villa an.
»Hattest du etwa wieder die Handbremse vergessen, mein Schatz?«, scherzte Onkel Robert.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Tante Kitty mit unschuldiger Miene. »Eher glaube ich, der Wagen muss in die Werkstatt. Die Bremsen sind so schwach. Ich trete mir ja fast die Seele aus dem Leib, wenn ich den Wagen anhalten will …«
Leo wollte sich eilig nach rechts und durch die Wiesen verdrücken, aber Henny hatte aufgepasst. Sie war überhaupt eine, die immer alles mitbekam, seine Cousine Henny.
»Wo willst du hin, Leo? Es gibt gleich Kaffee und Kuchen. Oma Gertrude hat Kirschstreusel gebacken.«
Er drehte sich kurz um und bemerkte: »Ich komm später.«
»Hast du meinen Brief gelesen?«, rief sie ihm nach.
Brief? Was für ein Brief? Ach ja, der musste noch in seiner Schultasche liegen. Wahrscheinlich eine Einladung
zu ihrem Geburtstag. Typisch Henny. Der war erst im Mai, und sie machte jetzt bereits ein Riesentheater darum.
Ohne eine Antwort zu geben, eilte er mit großen Schritten davon und hoffte inständig, dass sie nicht hinter ihm herlief. Am Gärtnerhäuschen schaute er sich um – Glück gehabt, sie war wohl mit den anderen in die Tuchvilla gegangen. Da konnte sie mit Dodo schwatzen, die bald mit Papa aus der Fabrik kommen würde. Sie ging mittlerweile täglich mit hinüber und trieb sich dort herum, sagte den Arbeitern, was sie zu tun hatten, und machte sich wichtig. Er liebte seine Schwester sehr, doch dass Papa plötzlich solch große Stücke auf Dodo hielt und ihn, Leo, kaum mehr beachtete, das tat weh.
Hinter dem Gärtnerhäusl befand sich die Pferdeweide, die sie vorgestern in aller Eile mit Stöcken und Bändern abgegrenzt hatten, weil Tante Elvira mit ihren Trakehnern zu ihnen gekommen war. Das war vielleicht ein Zirkus gewesen! Vom Bahnhof aus hatte sie in der Tuchvilla angerufen, dass sie zwei Leute für die Pferde benötige und dass außerdem eine Menge Gepäck zu transportieren sei. Tante Lisa und die Großmama waren beinahe durchgedreht vor Schreck, Mama dagegen hatte die Sache in die Hand genommen und alles organisiert. Aus der Fabrik waren zwei Leute geschickt worden, Humbert und Tante Kitty waren mit den Autos zum Bahnhof gefahren, um das Gepäck in die Tuchvilla zu bringen, und die Pferde hatten sie aus der Stadt heraus über die Wiesen in den Park geführt. Den Christian hatte Elvira gleich mitgebracht und natürlich auch die Liesl. Das hatte Leo am meisten gefreut, weil er die Liesl gut leiden konnte.
Jetzt stand sie drüben bei den Leuten, die einen festen Zaun bauten, und verteilte Schinkenbrote und Apfelmost. Die Weide sollte in drei Flächen eingeteilt werden, später
wollte Elvira von Maydorn noch einen Stall errichten lassen. Leo blieb in sicherer Entfernung stehen und schaute sich die Pferde an. Schön waren sie, vor allem der Hengst, der größer war als die Stuten und ziemlich wild. Wenn er galoppierte, flogen die Grassoden durch die Gegend, so viel Kraft hatte er. Manchmal rannten die Stuten hinter ihm her, und dabei machten die beiden Fohlen verrückte Freudensprünge – wahrscheinlich waren sie alle froh, nicht mehr in einem Eisenbahnwaggon eingesperrt zu sein.
Jetzt hatte die Liesl ihn entdeckt, nahm den Korb mit der Brotzeit und kam zu ihm herüber. »Guten Tag, Leo«, sagte sie und verbesserte sich gleich. »Ach nein, ich soll ja Herr Melzer und gnädiger Herr sagen.«
»So ein Blödsinn! Lass das ja sein, Liesl. Ich bin der Leo. Wie immer.«
Sie lächelte und meinte, das sei nun mal so üblich. Weil sie fortan wieder Küchenmädel in der Tuchvilla sei, gehöre es sich nicht, jemanden von der Herrschaft zu duzen.
»Na ja, zumindest wenn wir unter uns sind, sagst du Leo zu mir, ja?«
»Wenn du unbedingt willst, dann tu ich das, Leo.«
Er wurde ein wenig rot, weil sie ihn so verschmitzt und ein wenig überlegen anlächelte. Sie war nur ein paar Monate fort gewesen, doch in dieser Zeit hatte sie sich verändert. Fraulicher war sie geworden, erwachsener und hübscher. Und in ihren Augen lag ein anderer Ausdruck. Leo spürte, dass sie von Dingen wusste, die ihm noch verschlossen waren, die in den Nächten seine Träume beherrschten und ihm eindringliche, süße Melodien eingaben.
»Wie geht’s denn daheim?«, fragte er, um irgendetwas zu sagen.
»Gut geht’s. Der Maxl kümmert sich inzwischen um alles, auch ums Geld. Der Hansl geht auf die Oberrealschule,
und der Fritz kommt in die zweite Volksschulklasse. Der ist ziemlich faul in der Schule und gräbt lieber im Garten.«
Sie lachte, und Leo stimmte ein. Von ferne winkte ihr Christian zu, der beim Bauen des Zauns half.
»So langsam muss ich in die Küche«, seufzte sie. »Die Fanny Brunnenmayer wird sich sonst wundern, wo ich so lange bleibe.«
Leo blickte ihr nach, wie sie mit ihrem Korb leichtfüßig davoneilte, und überlegte einen Moment lang, ob er mit ihr zur Tuchvilla laufen sollte, aber er ließ es bleiben und schaute lieber noch ein wenig den Pferden zu. Die standen beieinander und grasten, ab und zu hob der Hengst den Kopf und äugte misstrauisch zu den Leuten hinüber, die Pfosten in den Boden gruben. Sie schienen ihm keine Angst zu machen, denn er rupfte weiter Grashalme.
Mit Klängen und Melodien im Kopf kehrte Leo langsam zurück zur Tuchvilla, stieg die Eingangstreppe hinauf und öffnete die Tür. Oben im Speisezimmer hatten sie wohl mit der Brotzeit begonnen, man hörte Tante Kittys Geschwätz bis in die Halle herein, auch Tante Lisa und vor allem Henny und Dodo waren zu vernehmen. Er hatte wenig Lust auf dieses laute Familientreffen, viel lieber hätte er sich in sein Zimmer verkrümelt, um ein paar von den neuen Melodien aufzuschreiben, doch dann würde Mama traurig sein, und außerdem war ja Papa aus der Fabrik gekommen. Seufzend zog er die Schuhe aus und suchte seine Hausschuhe. Als er sie endlich gefunden hatte, tat sich hinter ihm plötzlich die Küchentür auf.
»Ja, der Leo«, sagte Fanny Brunnenmayer. »Warum
bist droben gar net dabei, Bub? Bist noch traurig, weil der Walter fort ist? Da, ich hab dir ein paar von deinen Lieblingskeksen gebacken. Für dich und deine Schwester.
«
Die gute Fanny Brunnenmayer! Es waren die gleichen leckeren Kekse, die er und Dodo früher heimlich aus der Küche geschmuggelt hatten, weil die Gouvernante, das eklige Weib, ihnen keine Süßigkeiten erlauben wollte.
»Dankschön, Frau Brunnenmayer«, sagte er gerührt und griff in die Blechdose, die sie ihm entgegenhielt. »Sie sind sicher froh, dass die Liesl wieder hier ist, stimmt’s?«
»Da hast ein wahres Wort gesagt, Bub«, meinte sie und strahlte ihn an. »Dass das Mädel heil und gesund zurück ist, dafür dank ich meinem Herrgott jeden Abend und jeden Morgen. Hab von Anfang an nicht gewollt, dass sie fortgeht – hat aber wohl sein müssen, dadurch wurde sie zumindest klüger. Es wird also ernst werden mit ihr und dem Christian, da steht eine Verlobung ins Haus.«
Leo nahm einen zweiten Keks und überlegte, ob er die Köchin je so redselig erlebt hatte. Sie war halt nicht mehr die Jüngste, vielleicht wurde sie im Alter ja vollends geschwätzig. Da würde sich die Liesl offenbar mit dem Christian verloben. Es versetzte Leo einen kleinen Stich. Christian war ein lieber Kerl, dennoch fand Leo, dass die Liesl eigentlich zu schade für einen Gärtner war.
Er stieg hinauf in sein Zimmer, um sich rasch umzukleiden, bedachte seinen Schreibtisch und die daraufliegenden Notenblätter mit einem wehmütigen Blick, und ihm fiel ein, dass Walter jetzt mit seiner Mutter im Zug saß und ganz sicher genauso traurig war wie er. Übermorgen würden sie den Dampfer besteigen. Seufzend ging er hinunter ins Speisezimmer.
»Ja, Leo!«, sagte seine Mama. »Ich wäre beinahe nach oben gelaufen, weil ich fürchtete, du hättest dich in deinem Zimmer vergraben.«
Dodo und Henny fehlten, waren nicht mehr dabei – was für ein Glück! Papa, Onkel Robert und Onkel Sebastian
hatten sich hingegen ins Herrenzimmer zurückgezogen. Tante Lisa hatte Leo für sich, schob ihm die Platte mit Räucherwurst und Schinken hin, mit frisch gebackenem Brot, eingelegten Gurken und süß-sauren Kürbisstückchen, die er ganz besonders hasste.
»Dieser Schinken ist ein Gedicht, Leo«, schwärmte sie. »Was für ein Jammer, dass wir von nun an wohl darauf verzichten müssen, weil Tante Elvira den irrsinnigen Entschluss gefasst hat, das schöne Gut Maydorn zu verkaufen.«
Leo nahm etwas Schinken zum Brot und kaute lustlos darauf herum. Großtante Elvira saß bei Hennys Oma Gertrude und Großmama Alicia und erzählte allerlei krauses Zeug von einer Bäuerin, die eine Hexe sei und versucht habe, sie und Liesl umzubringen. Leo erschrak zuerst, vor allem wegen Liesl, aber die Großmama schien es nicht so recht zu glauben, und Oma Gertrude lachte sogar. Also hatte Großtante Elvira es wohl erfunden. Er hatte sie nur ein- oder zweimal in seinem Leben gesehen, damals war er noch klein gewesen. Sie war grauhaarig und etwas größer als die Großmama, vor allem hatte sie eine ganz andere Art, sich zu bewegen und zu sprechen. Viel energischer und lauter war sie als Großmama Alicia und benutzte Worte, die seine Großmutter niemals in den Mund genommen hätte. Nicht einmal Tillys Mutter Gertrude hätte so etwas gesagt, obgleich die sonst kein Blatt vor den Mund nahm.
»Dieses Weib hat ihn im Bett kirre gemacht, sodass er ihr völlig hörig war.«
»Bitte, Elvira. Es sind Unmündige im Raum!«
»Ach was!« Die Baronin aus Pommern schaute zu Leo herüber. »Der hat schon eine tiefe Stimme, da tut es ihm gut, wenn er frühzeitig vor solchen Weibsbildern gewarnt wird.
«
Leo war nicht ganz klar, wovon sie sprach, doch dass sie ihn so anstarrte und dazu von seinem Stimmwechsel redete, war sehr peinlich. Tatsächlich war er seit einiger Zeit häufig heiser und sprach manchmal eine Oktave tiefer. In seiner Klasse brummelten einige seiner Mitschüler seit Monaten im Bass, und auf dem Pausenhof gaben sie tiefe, grölende Laute von sich. Zwei hatten dafür eine Verwarnung erhalten.
»Und hat sich dein Makler mittlerweile gemeldet?«, wollte Tante Lisa wissen.
»Bisher noch nicht, bestimmt wird sich da innerhalb der nächsten Tage etwas rühren«, gab Elvira zurück, während die Großmama einen unglücklichen Seufzer ausstieß und den Rest aus ihrer Kaffeetasse trank.
»Wenn ich mir vorstelle, dass irgendein wildfremder Mensch mein geliebtes Maydorn so einfach kaufen kann«, stöhnte sie.
Tante Elvira lachte und behauptete, solange Klaus von Hagemann dort Verwalter sei, habe sich die neue Gutsherrin mit der Bäuerin abzufinden. Und die sei eine harte Nuss und könne einem das Leben zur Hölle machen.
»Dann sollte der neue Besitzer den Hagemann wohl besser entlassen«, meinte Mama. »Schade wäre das schon. Ich glaube, er ist ein guter Verwalter.«
»Das ist allerdings wahr, meine liebe Marie«, bestätigte Elvira mit Bedauern.
Tante Lisa spitzte den Mund und kniff die Augen zusammen. »Vielleicht hätte ich da einen Interessenten, Tante Elvira«, sagte sie und kicherte leise.
»Wirklich? Wenn er einen guten Preis bezahlt, können wir darüber reden.«
»Auf jeden Fall wäre das eine Gutsherrin, die deiner Bäuerin gewachsen wäre.
«
Jetzt mischte sich die Großmama ein. Sie schüttelte empört den Kopf und fragte: »Du meinst um Himmels willen doch nicht etwa Herrn Grünling? Nein, das vermag ich mir nicht vorzustellen. Warum sollte er einen Gutshof kaufen?«
»Nun ja«, meinte Tante Lisa schulterzuckend. »Serafinas Familie hatte einmal Ländereien im Osten, die sie während der Inflation nach dem Krieg verloren haben. Es würde ihr sicher gefallen, die Gutsherrin zu spielen.«
»Ich weiß nicht, Lisa, was für eine merkwürdige Idee.«
Leo schluckte das letzte Stück Schinkenbrot herunter und fragte sich, warum er eigentlich hier sitzen und sich solch ödes Zeug anhören musste. Es kümmerte sich sowieso niemand um ihn, er konnte genauso gut hinauf in sein Zimmer gehen. Nur legte ihm seine Mama noch ein Stück Räucherwurst auf den Teller und flüsterte ihm zu, dass der Papa nach ihm gefragt habe.
»Er ist drüben im Herrenzimmer. Iss deinen Teller leer, und geh danach bitte hinüber.«
»Ja, Mama.«
Gleichgültig schnitt er die rötliche, nach Rauchwerk duftende Wurst in kleine Stücke und spießte sie mit der Gabel auf. Dabei traf Tante Kittys Stimme sein Ohr, die heute ungewöhnlich leise redete. Sie saß auf der anderen Seite des Tisches mit Tante Tilly zusammen, und es schienen dort Dinge zur Sprache zu kommen, die Großmama auf keinen Fall mithören sollte. Leo musste wider Willen lauschen.
»Du hast also ein Rendezvous?«, fragte Tante Kitty. »Meine Güte, Tillylein. Wie mich das freut! Du schaust schon ganz anders in die Welt, meine Liebe. Eine hübsche, verführerische Frau bist du geworden, kein Wunder, dass er angebissen hat.
«
Leo fand nicht, dass Tante Tilly viel anders als sonst aussah. Vielleicht hatte sie die Haare etwas gefälliger aufgesteckt, und der kleine Anhänger mit dem roten Stein, den sie um den Hals trug, sah recht nett auf dem grauen Kleid aus.
»Ich bitte dich, Kitty. Nicht so laut. Ja, ich werde mich mit ihm treffen. Wir wollen an den Rhein fahren und ein wenig spazieren gehen. Weiter nichts.«
»Nun, meine liebe Tilly, du solltest auf jeden Fall ein Kondom dabeihaben. Jetzt schau mich nicht so entsetzt an, du bist schließlich Ärztin und solltest über diese Dinge Bescheid wissen. Oder willst du gleich beim ersten Mal schwanger werden?«
Leo fiel die Wurst von der Gabel, und er musste dreimal zustechen, um das Stückchen wieder aufzuspießen. Ein Kondom! Davon hatten seine Klassenkameraden kurz geredet, hatten auch andere Namen dafür gebraucht, doch als er ganz harmlos eine Frage stellte, hatten sie sich über ihn fast totgelacht und waren weggelaufen. Weil er nicht dazugehörte. Es musste irgendwas ganz Verbotenes, furchtbar Unmoralisches sein. Vielleicht fragte er den Maxl mal so ganz im Vertrauen, der wusste solche Sachen.
»Wie kommst du auf die Idee, ich könnte mit ihm ins Bett gehen?«, regte sich Tante Tilly auf. »Es ist ein ganz harmloser Spaziergang, Kitty. Deine Fantasie geht mit dir durch.«
»Lehre du mich die Männer kennen«, lachte Tante Kitty. »Eins, zwei, drei hat er dich in ein Hotel eingeladen, und du erlebst den Himmel auf Erden.«
»Auf keinen Fall!«
»Willst du ewig eine alte Jungfer bleiben, Tillylein? Sei nicht albern. Das Leben hält so viele kostbare, unersetzliche und wunderbare Augenblicke für uns bereit, und du
sperrst dich dagegen. Wenn du erst alt und grau bist, wirst du um jede verpasste Gelegenheit weinen.«
»Ganz bestimmt nicht, Kitty.« Tilly nahm den Anhänger an ihrem Hals zwischen die Finger. »Ich will nicht mehr als einen einzigen Mann. Den, den ich liebe. Und mit ihm will ich glücklich werden. So denke ich mir das.«
»Na, hoffentlich findest du gleich den richtigen«, seufzte Tante Kitty mit skeptischer Miene. »Ich habe mehrere Anläufe gebraucht … Ach, Leolein! Du sollst kurz zu Henny hinaufkommen, sie will dich etwas fragen, glaube ich.«
Leo räusperte sich verlegen, weil er von dem Gehörten noch völlig durcheinander war. Es gab also Frauen, die mehrere Männer nacheinander liebten. Und die nicht heiraten wollten, sondern die Männer sozusagen ausprobierten, bis sie einen fanden, der ihnen gefiel. Es hörte sich einschüchternd an. Er selbst hatte sich unter Liebe immer etwas anderes vorgestellt. So wie bei seinen Eltern. Sich ineinander verlieben und für immer glücklich bleiben.
»Henny? Ja, ich weiß«, sagte er zu Tante Kitty. »Sie hat mich bereits gefragt. Danke, dass du es mir ausgerichtet hast.«
»Du hast ja jetzt eine tiefe Stimme, Leolein«, flötete Tante Kitty und lachte. »Meine Güte, du bist ein aufregender junger Mann geworden, und deine alte Tante Kitty hat es gar nicht so richtig mitbekommen!«
Leo wäre gern in den Boden versunken. Tante Kitty war fast noch schlimmer als Henny, sie konnte einen entsetzlich in Verlegenheit bringen mit ihrem Geschwätz. Wie sie sich über ihn lustig machte! Von wegen »alte Tante«. Eitel war sie und immer noch furchtbar hübsch und verführerisch.
»Ich geh dann mal hinüber ins Herrenzimmer«, verabschiedete er sich. »Papa möchte mich sprechen.
«
Er machte eine kleine Verbeugung und rettete sich in den Flur. Tante Kittys helles Lachen folgte ihm bis zum anderen Ende. Im Herrenzimmer schlug ihm Zigarrenrauch entgegen, den er mochte, weil es so männlich und so erwachsen roch. Papa rauchte nicht, sondern trank bedächtig seinen Kognak und stellte das Glas rasch ab, als Leo eintrat.
»Da hat dein Vater ja ein kleines Vermögen in Brillanten angelegt«, sagte Onkel Robert, der Leos Eintreten nicht bemerkt hatte. »Leider wirst du nicht den vollen Wert erhalten, wenn du jetzt verkaufst – aber es wird kein Pappenstiel sein. Wenn du alles zusammenzählst, könnte es reichen …«
»Da bist du ja, Leo«, sagte sein Vater und wies auf den freien Sessel. »Komm, setz dich zu uns.«
Jetzt wurde über die Ausreise der Ginsbergs gesprochen, und Leo erfuhr, dass Walter vorerst keinen Geigenunterricht erhalten würde, weil Frau Ginsberg nicht genug Geld verdiente
»Sehr schade«, sagte Leo. »Walter hat große Fortschritte gemacht, er will einmal Sologeiger werden.«
Onkel Sebastian paffte seine Zigarre und nickte mit verständnisvoller Miene, Onkel Robert erklärte, dass es um wichtigere Dinge gehe als um eine Karriere als Sologeiger.
»Was sich in unserem Land momentan tut, gibt mir Anlass zu größter Sorge«, sagte er zu Papa. »Wie man auf den Plakaten der NSDAP lesen kann, machen sie die Juden für den verlorenen Krieg, für die Arbeitslosigkeit und natürlich für die weltweite Wirtschaftskrise verantwortlich. Wer Deutschland retten will, so steht da zu lesen, der sollte die Juden bekämpfen. Und diese verlogenen Provokateure finden immer mehr Anhänger.
«
»Tatsächlich habe ich neulich gelesen, dass der Marxismus ebenfalls eine jüdische Erfindung sei und als solche bekämpft werden müsse«, ließ sich Onkel Sebastian voller Empörung vernehmen. »Schlimm, wie sehr man die Menschen verdummen kann.«
»Wer keine Arbeit hat und nicht weiß, wie er seine Familie ernähren soll, der ist geneigt, jedem Scharlatan zu glauben, der ihm eine bessere Zukunft verspricht«, gab Papa zu bedenken.
Onkel Robert beugte sich vor, um die Asche von seiner Zigarre in den Aschenbecher aus grünem Stein zu klopfen. »Jemand hat erzählt«, meinte er dann und hielt die Zigarre zwischen Daumen und Zeigefinger, »dass dieser Hitler in Leipzig gesagt haben soll, noch zwei bis drei Wahlen, dann hätten sie die Mehrheit und würden den deutschen Staat so gestalten, wie sie ihn haben wollten.«
»Da sei Gott vor«, rief Papa entsetzt aus.
Bläulicher, würzig duftender Rauch umgab die Sitzgruppe, und es reizte, mal an einer dieser Zigarren zu ziehen, doch der hölzerne Kasten mit dem Intarsiendeckel aus Elfenbein und Ebenholz war für Leo streng verboten. Immerhin war es interessant, bei den Männern zu sitzen, selbst wenn die Gespräche über Politik und Inflation eher bedrohlich klangen. Niemand in der Tuchvilla war mit der Republik, in der man jetzt lebte, zufrieden, nicht einmal Onkel Sebastian. Der wollte, dass die Kommunisten die Mehrheit im Reichstag bekamen, weil er glaubte, den Arbeitern würde es dann besser gehen. Papa und Mama waren wohl eher für die SPD, zumindest meistens. Die NSDAP wollte hier keiner haben. Der Maxl Bliefert hatte neulich gesagt, solange der alte Hindenburg am Leben sei, habe der Hitler sowieso keine Chance.
Onkel Robert nahm einen Schluck aus seinem Kognakglas
und lächelte Leo zu. »Darf ich einen ganz kleinen Schluck probieren, Papa?«, fragte der.
Sein Vater runzelte die Stirn und schien zu überlegen, Onkel Robert meinte, dagegen sei wirklich nichts einzuwenden.
»Bist du nicht schon fünfzehn?«, fragte er Leo grinsend, und, zu Papa gewendet, fügte er hinzu: »Und fast so groß wie du, Paul. Fehlen noch ein paar Zentimeterchen, dann hat er dich eingeholt.«
Papa lächelte, es schien ihm zu gefallen. »Dann lauf mal hoch und bring mir dein Zeugnis, Leo«, entschied er. »Ich hatte noch gar keine Zeit, es mir anzuschauen. Und wenn es mir gefällt, dann gibt es vielleicht einen winzigen Schluck unter Männern.«
Leo flitzte los. Das war immerhin etwas. Auch wenn er sich über das blöde Zeugnis ärgerte – sein Papa würde sich über den dritten Platz freuen. Oben in seinem Zimmer suchte er nach dem Zeugnis. Hatte er es nicht auf den Schreibtisch gelegt? Vielleicht war es ja zwischen das Notenpapier geraten? Nein, war es nicht. Dann hatte er es wohl in die Schultasche gesteckt. Wo war die hingekommen? Hatte Else wieder mal in seinem Zimmer aufgeräumt und alles durcheinandergebracht. Er fand die Schultasche unten im Kleiderschrank und zog das Zeugnis heraus. Ach ja, da war auch Hennys Brief. Ganz zerknittert, weil er unter das Geografiebuch geraten war. Er riss den Umschlag auf, um ihn rasch zu lesen, und stutzte. Denn das Papier aus dem Umschlag trug eine fremde Handschrift. Was hatte Henny sich da wieder ausgedacht? Bestimmt sollte das ein Witz sein.
Sehr geehrter, lieber junger Künstler,
mit großer Freude habe ich Ihre Kompositionen
angeschaut. Sie zeugen von ungewöhnlichem Einfallsreichtum, von Eigenständigkeit und dem sicheren Empfinden für Stimmungen. Wenn es wahr ist, was in Ihrem Begleitschreiben geschrieben steht, und Sie erst vierzehn Jahre alt sind, dann geben diese ersten Versuche Anlass zu den größten Hoffnungen.
Wenn es sich ergibt, würde ich Sie gern einmal kennenlernen, um Ihnen für Ihre weitere musikalische Entwicklung den einen oder anderen Ratschlag zu geben.
Die herzlichsten Grüße
Ihr geneigter
RichardStrauß
Natürlich! Hatte er es doch geahnt. Was für ein blöder, gemeiner Scherz. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete noch einmal die Unterschrift. Da hatte sie sich ja richtig Mühe gegeben. Dick den Federhalter aufgedrückt, zackig und schwungvoll. In einem Wort geschrieben. RichardStrauß. Nun ja, sie konnte gut zeichnen, da war ihr das nicht sonderlich schwergefallen. Eigentlich wollte er mit seinem Zeugnis hinunter ins Herrenzimmer laufen, aber weil er so wütend war, ging er mit dem Brief in der Hand hinüber zu Dodos Zimmer und hämmerte gegen die Tür.
»Was ist los?«, hörte er Dodos Stimme.
»Er hat’s gelesen«, sagte Henny. »Jetzt platzt die Bombe.«
Die beiden Mädel saßen auf Dodos Bett und schauten sich ein Fotoalbum an. Als Leo außer sich vor Zorn mit dem Brief in der Hand eintrat, warf Dodo das Album zur Seite und grinste ihn an. »Na?«, meinte sie stolz. »Was sagst du jetzt?«
Er starrte sie an und konnte nicht fassen, dass seine Schwester Dodo bei dieser Gemeinheit mit von der Partie
war. »Gelungener Witz«, sagte er mit Verachtung und warf ihnen den Brief vor die Füße. »Sehr lustig. Wisst ihr, was, ihr beiden? Ihr könnt mich mal gernhaben!«
Damit drehte er sich um und wollte das Zimmer verlassen, nicht ohne kräftig die Tür hinter sich zuzuschlagen. Doch so weit kam er nicht, weil Dodo vom Bett sprang und ihn festhielt. »Was schwatzt du da, Leo?«, rief sie aufgeregt. »Das ist kein Witz, das ist echt. Jetzt lauf nicht weg. Ich hab deine Kompositionen aus dem Papierkorb gezogen, und Henny hat sie an den Dirigenten Richard Strauß geschickt. Wirklich! Kein Scherz!«
Weil Dodo sich so aufregte, blieb er stehen und hörte ihr zu. Henny war eine Schwindlerin, das wusste er, seine Schwester Dodo war jedoch immer auf seiner Seite gewesen.
»Meine Kompositionen? Aus dem Papierkorb?«
»Ja. Den hatte Else unten an den Treppenaufgang zum Ausleeren gestellt.«
Immer diese Else! Brachte alles durcheinander.
»Quatsch!«, regte er sich auf. »Die Sachen, die ich früher mal komponiert habe, die sind in dem kleinen Lederkoffer unter meinem Bett. Im Papierkorb, da waren die ersten Entwürfe, die hab ich weggeworfen, weil sie nicht gut waren.«
Jetzt kam Bewegung in seine Cousine Henny, die bisher auf Dodos Bett gesessen und gar nichts gesagt hatte. »Waaas?«, schrie sie entsetzt und sprang auf. »Das waren gar nicht deine richtigen Kompositionen? Und wir haben Wochen gebraucht, um das alles ganz genau abzuschreiben.«
Er sah von Dodo zu Henny und dann wieder von Henny zu Dodo. Konnte es sein, dass an der ganzen Geschichte etwas Wahres dran war?
»Ich habe nie im Leben etwas an Richard Strauß
geschickt«, stotterte er verwirrt. »Das hätte ich nie gewagt. An so einen berühmten Mann.«
»Ich hab’s gemacht«, kam es von Henny, als wäre es die einfachste Sache der Welt. »Abgeschrieben und hingeschickt. Na ja, abschreiben lassen von Anton und Emil. Und er hat geantwortet. Siehste, Leo? So geht das nämlich. Wer berühmt werden will, der muss Kontakte haben, wichtige Leute kennen, die ihm weiterhelfen. Sonst klappt das nicht.«
Dodo hob den Brief vom Teppich auf, glättete ihn mit der Hand und reichte ihn ihrem Bruder.
»Großes Ehrenwort, das alles hat seine Richtigkeit, Leo. Du gibst
Anlass zu größten Hoffnungen
, steht hier – na, ist das vielleicht nichts?«
Er nahm das Schreiben und las es noch einmal, fing wieder von vorne an, und die Buchstaben wurden auf einmal dünn und durchsichtig vor seinen Augen. Er konnte es nach wie vor nicht so recht glauben, aber da stand es schwarz auf weiß. Er wollte ihn kennenlernen! Gütiger Gott! Der große Komponist und Dirigent Richard Strauß wünschte ihn, den Schüler Leo Melzer, zu sehen.
Leo wurde schwindelig, er konnte sich gerade noch rechtzeitig auf das Bett setzen, dann war ihm einen Augenblick lang schwarz vor Augen.
Ich bin ein Musiker, dachte er. Walter hatte recht. Ich bin ein Musiker. Ach, wenn Walter jetzt hier wäre! Wenn ich ihm diesen Brief zeigen könnte.
Henny und Dodo setzten sich zu ihm, seine Schwester fiel ihm um den Hals und küsste ihn auf die Wange. Henny tat das Gleiche.
»Du musst mich auch küssen, Leo«, verlangte sie. »Ich hab das alles für dich getan. Und es war sehr mühsam, das kannst du mir glauben.
«
Sie hielt ihm die Wange hin, und weil er so glücklich war, wollte er tatsächlich einen kleinen Kuss darauf drücken. Doch die gewitzte Person drehte blitzschnell den Kopf, sodass er versehentlich ihren Mund erwischte.
»Das war fürs Erste ganz gut«, stellte sie strahlend fest, während er entsetzt den Handrücken auf seine Lippen presste. »Später, wenn du ein berühmter Komponist bist, werde ich dich heiraten und deine Managerin werden.«
»Und ich übernehme dann die Fabrik«, erklärte Dodo. »Allerdings erst, nachdem ich mit dem Flugzeug in Amerika und Sibirien war. Im Alleinflug, versteht sich.«
Henny schob die Unterlippe vor, weil sie nicht einverstanden war. »Die Fabrik will ich übernehmen, Dodo. Das mach ich nebenbei.«
Leo las seinen Brief zum x-ten Mal und versuchte, das Geschwätz der Mädchen zu überhören, die von rechts und links über ihn hinwegredeten.
»Dann machst du die Geschäftsabschlüsse, und ich bin für die Technik zuständig«, schlug Dodo vor.
»Meinetwegen«, gab Henny nach. »Natürlich will ich auch Kinder haben. Was meinst du, Leo? Zwei genügen uns, oder? Ein Mädchen und ein Junge.«
»Ihr spinnt ja.«
Leo stand auf, um seinem Papa endlich sein Zeugnis zu zeigen. Den Brief würde er vorerst für sich behalten. Es war zu neu, zu groß, zu unwirklich. Er war ein Musiker. Leo Melzer war ein Musiker. Ach, er hatte es immer gewusst. Und nun durfte er es sein
.