Als die Bahn noch Eisenbahn hieß: Erinnerungen

Jörg Thadeusz Leben im Liegewagen

«E s gibt nichts Schönes, in dieser Welt auf Schienen. Und es herrscht immer Nacht. Auch tagsüber», so würde es der Charakter in meinem Liegewagenfilm sagen. Unterlegt vom Tadumm-Tadumm, das die Waggonräder auf den Schweißnähten der Schienen noch machten. Sollte ich dieses Damals jemals filmisch nachstellen dürfen.

Er hätte dann diesen Bart, den er damals trug. Er würde Van Nelle halbschwarz rauchen. Wie er es in echt getan hat. Er müsste Micha oder Pitti oder Schelle heißen. Irgendein Name, der sich schnell tätowieren lässt. Für mich war er der männlichste Mann, den ich bis dahin kannte. Meine 68er-Lehrer am Gymnasium ironisierten unsere Schulzeit. Oder sie schliefen mit den Mitschülerinnen. Oder beides. Zur echten Männlichkeit fehlte ihnen etwas Festgewordenes.

Micha, Pitti oder Schelle erwartete von mir, nun auch vom Abiturienten zum Erwachsenen zu werden. Ich war schließlich sein neuer Kamerad in einem Schützengraben namens Liegewagen. Als Person war ich ihm egal. Meine Liste war ihm wichtig. Da durfte ich nicht viel zu viele offiziell verkaufte Kaffees aufschreiben. Oder zu viele Striche bei den offiziellen Dosenbieren machen. Ich lernte über unseren schlimmsten Feind. Den Revisor. Ein hauptberuflicher Erbsenzähler, der verhindern sollte, was in den folgenden Jahren auch meine lukrative Praxis wurde. Löslichen Kaffee für kleines Geld im Discounter kaufen und im Liegewagen für die Mondpreise der Eisenbahngesellschaft verbimmeln. «Mmmh, lecker, so ein frischer Kaffee», seufzten Hunderte Reisende, wenn sie den ersten Schluck des Granulataufgusses aus der Plastiktasse nippten. Bier hatten wir auch dabei. Reingewinn: zwei Mark pro Dose. Schmerzensgeld, wenn eine Skigruppe schon auf der Hinfahrt nach Österreich mit einigen Paletten Bier den Pegel für die kommenden «Wintersport»-Tage kalibrierte und dabei gar nicht schön sang.

Micha, Pitti oder Schelle hatte recht. In diesen Liegewagen gab es nichts Schönes. Wir saßen in sogenannten «Dienstabteilen». Die sahen so ungastlich aus, dass mich eine Passagierin fragte, ob sie bei mir Pipi machen dürfe. Und das war nicht als erotische Herausforderung gemeint. Sie glaubte schlicht, ich würde immer dann, wenn ich keinen Kaffee austeilte oder Betten baute, auf der Toilette lesen.

Im Rücken hatten wir die Decken. Eigentlich gute Kumpels. Denn die fuhren, wie wir Zugbegleiter, immer mit. Anders als wir stiegen sie aber niemals aus. Sie wurden von uns ordentlich gefaltet. Aber nicht gewaschen. In gewisser Weise eine Schule der Nachhaltigkeit. Denn die Ausdünstungen der schlafenden Fahrgäste wurden nicht einfach vernichtet. Sondern blieben als Souvenir für die nächsten Reisenden im Kunststoff der Decken. Um dem Geruch des Deckenstapels nicht schutzlos ausgeliefert zu sein, fing ich mit dem Rauchen an. Filterlose französische Zigaretten, deren Qualm ich mir als desinfizierenden Heilrauch vorstellte. In unseren Zügen saßen ausschließlich Touristen, wir hießen Reisebürosonderzug. Trugen blaue Uniformen aus einem unangenehmen Kunststoff. Micha, Pitti oder Schelle sah darin aus wie ein schlachterprobter Veteran, dessen ausgemergeltes Gesicht am unteren Bildrand eine lebensfrohe rote Krawatte gut gebrauchen konnte. Ich sah im Spiegel einen pummeligen Konfirmanden, der Schaffner spielte.

Der Pauschalurlauber bekennt mit seiner Buchung seine Hilflosigkeit. Bezahlt also auch für Anführerschaft. Die sogenannten «Reiseleiter» waren unsere Chefs und hatten im Zug das Sagen. Oder das Plappern. Sie ließen über die Bordlautsprecher Musik laufen, die auf jedem «Kraft durch Freude»-Dampfer gern gehört gewesen wäre. Das unterbrachen sie mit käsigem Gelaber über das «frisch gezapfte Pils vom Fass», auf das sich der männliche Gast zu freuen habe. Während «die Dame» doch sicher über «ein Piccolöchen» ganz aus dem Häuschen geraten würde.

Erreichten wir den Rhein, ufftatate «Wenn das Wasser im Rhein goldner Wein wär» durch den gesamten Zug. Spätestens dann ratschte in allen Dienstabteilen das Rollo herunter. Ziviler Widerstand gegen das Zwangsidyll. Vor dem Zugfenster gab es dann nur noch die Aussicht auf die metastasenfarbene Plastikplane, auf der Generationen von Zugbegleitern mit Kugelschreiber erotische Wünsche hinterlassen hatten. Oder einfach nur Sehnsucht nach reichen Eltern, die ihnen das Schicksal dieses Studentenjobs erspart hätten.

War Franz Zimmermann der Reiseleiter, wünschten wir uns, im Kreise von Revisoren zwei Wochen Urlaub machen zu dürfen. Es ging das Gerücht, er sei lange bei der Fremdenlegion gewesen. So groß, dass er sich beim Einsteigen in den Waggon ducken musste. Die Haut wie die verkraterte Mondoberfläche, wenn der Mond auch Alkoholiker wäre. Auf den ersten Kilometern unserer Reise trank er ritualhaft einen Tee. Das letzte nichtalkoholische Getränk des dreitägigen «Umlaufs». Für seine sogenannten «Dienstbesprechungen» hätten wir uns gerne sicherheitshalber die Münder mit Pflastern verklebt. So sehr waren Fragen verboten. Seine kurze Ansprache verriet mindestens, dass er nicht aus der Nobel-Hotellerie zu den Sonderzügen gekommen war. «Denkt dran, die Säcke reisen nicht, die werden transportiert», gab er uns jedes Mal mit. Verbunden mit dem rasiermesserscharfen Hinweis, wir mögen ihm «ja nicht mit irgendeinem Scheiß auf die Eier gehen».

Was hieß: Wir waren auf uns selbst gestellt. Oder mit Nachfragen bei ihm augenblicklich in der Hölle.

Einmal musste ich einen Kollegen zu Zimmermann begleiten, weil sich der andere Betreuer so sehr fürchtete. In seinem Wagen war auf der Strecke nach Koblenz ein betagter Reisender gestorben. Zimmermann, der bereits so getankt hatte, dass seine Pupillen in Alkohol zu schwimmen schienen, pampte uns an: «Packt den in Alufolie ein. Nächsten Bahnhof schmeißen wir ihn raus.»

Immerhin bestellte er dann doch einen Rettungswagen an den nächsten Halt.

Eine nervensägende Omi wünschte sich wegen ihrer Durchfallerkrankung eine eigene Toilette. «Ich kann Ihnen ein bisschen Zyankali geben», beschied Zimmermann der zum Glück schlecht hörenden Reisenden. Sein Blick sagte überdies «Na warte, Freundchen» in Richtung des Betreuers, der ihm die Frau mit ihrem Sonderwunsch nicht vom Hals gehalten hatte.

Doch, das Stift Melk in Niederösterreich war in der Morgensonne auch durch das Fenster unserer Liegewagen schön anzusehen. Leider haben Männer allzu gerne ihren mitreisenden Familien erklärt, es würde sich um Schloss Neuschwanstein handeln. Diese Männer stellten auch immer, wirklich immer, die Frage, ob ich das denn hauptberuflich mache. Dieses Deckenfalten, Kaffeebringen, Liegen-auf-und-wieder-Zuklappen. Warum habe ich niemals geantwortet, diese Tätigkeit, kombiniert mit meiner leichten Reiseübelkeit, sei genau die Erfüllung meines Karrieretraums? Haben Sie was Besseres für mich?, hätte ich fragen sollen. Oder sagen: Nein, ich leide schrecklich und habe Heimweh, darf ich zum Trost Ihre Frau/Freundin/Tochter küssen?

Auch sehr einträglich, unser Geschäft mit der Lust. Meistens waren es Männer, die mit Tropfenglas-Sonnenbrille zur Welt gekommen waren, die mit einem Fünfzig-Mark-Schein wedelten und erklärten, sie müssten mit ihrer Frau/Freundin wirklich allein sein. Den Geldschein nahm niemand sofort. Jeder von uns tat so, als wäre das wirklich nicht einfach. Als müsste man den Reiseleiter fragen gehen. Konnte der Angebermann ja nicht wissen, wie ausgeschlossen das war. Wollte ich mich nicht von Zimmermann in einem ruhigen Winkel des Zuges selbst sadistisch demütigen lassen. Auch wenn es wirklich schwierig war: Die fünfzig Mark fanden immer den allerbesten Weg, also den in unsere Brieftasche. Zumal in die von anderen Passagieren freiquartierten Abteile auch gerne der schlimme Sekt bestellt wurde, dessen schamloser Preis sich so prima zu einem üppigen Trinkgeld aufrunden ließ.

Eine ganz besonders schlimme Fahrt stand aus Venedig bevor. In den Abteilen war es so heiß, wie es eben ist, wenn ein Zugwaggon im italienischen Sommer mehr als zwölf Stunden in der prallen Sonne steht. Die Klimaanlage war nicht ausgefallen. Denn es gab ohnehin keine. Zudem offenbarte sich in meinem Wagen wieder das Problem, das die Waggons gelegentlich altersbedingt hatten. Mein Wagen konnte das Wasser nicht mehr halten. Lose gewordene Seilzüge öffneten alle Schleusen, kein Tank blieb dicht. Ich verschloss also die Toiletten und die Waschräume. Versuchte, die Entrüstung durch Selbstmitleid abzuwettern. Mir sei doch schließlich auch warm. Sagte nur nicht dazu, wie oft ich mich, in der für uns gesicherten Toilette im Nachbarwagen, abkühlen ging.

Plötzlich hieß es, einer Frau müsse geholfen werden. Nicht gut, dachte ich. Wahrscheinlich eine Rentnerin, schlimmstenfalls gestorben, wieder Alufolie. Und das bei der Hitze.

Es war ein Mückenstich, der schwoll. Über einem schönen jungen Knöchel und einem schönen jungen Fuß. Gehörte alles zu der schönen jungen Frau, die sich überaus freute, als ich ihr den Stich mit Mineralwasserwickeln kühlte. Sie war ab sofort in meinem Sinne intensivpflichtig. Ich überließ alle anderen Gäste ihrem Schicksal. Ließ sie allein ihre Liegen aufklappen, auch wenn das schon wieder verboten war. Ich zog einen zweiten Bezug über das Kopfkissen, damit die schöne Gestochene nicht auch noch auf irgendeine Weise mit dem Kisseninneren in Berührung kam. Warnte sie vor den fürchterlichen Decken, auf denen wir nicht einmal ihren nackten Fuß abstützen sollten. Wir redeten sanft und leise. Ich wurde nur mit Blicken laut, wenn einer von den anderen Reisenden kam und ein «leckeres Bier» wollte, statt sich endlich hinzulegen und die Klappe zu halten. Es war alles so angenehm mit ihr, meiner verletzten Kundin, für die ich «Dienstleistung» endlich mal großschreiben konnte.

Wahrscheinlich hätte sie mir sogar ihre Adresse gegeben. Nur hätte ich danach fragen müssen. Dazu hätte mich aber die Schönheit auf der Schiene nicht so unverhofft treffen dürfen. Selbstverständlich habe ich später noch an sie gedacht. Wie es wäre, mit ihr eine wunderschöne Flugreise zu machen.