Die Deutsche Bahn gilt zu Recht als Symbol für alles, was in Deutschland richtig prima läuft. Das selbst ernannte «Unternehmen Zukunft» hat sogar die Antwort auf den Klimawandel gefunden. Auf der Strecke Hannover–Würzburg wurden die Schienen weiß eingefärbt, vorerst allerdings nur auf einer Länge von einem Kilometer. Man hofft, dadurch an heißen Tagen die Schienentemperatur um bis zu sieben Grad zu senken. Der eine Kilometer Gleis steht beispielhaft für einen Ausweg aus der Erderwärmung. Würde man – jetzt einfach mal groß gedacht – den ganzen Planeten weiß anpinseln, dann wären die befürchteten zwei Grad Temperaturanstieg leicht in den Griff zu bekommen. Wenn erst ganze Autobahnen in jungfräulichem Weiß erstrahlen, reflektieren sie so viel des schädlichen Sonnenlichts, dass wir wieder reinen Gewissens mit schneeweißen SUV s auf ihnen herumfahren dürften.
Durch den mutigen Feldversuch der Bahn wissen wir auch endlich, warum es überhaupt immer wärmer wird. Weil im Winter kein Schnee liegt und die Wärme reflektiert, steigt im Jahresmittel die Temperatur. Warum allerdings die schneeweiße Arktis abschmilzt, darauf hat die Deutsche Bahn bisher noch keine Antwort gefunden. Vielleicht hülfe es ein wenig, alle deutschen Hausdächer weiß überzujauchen, um die Polkappen zu retten.
So viel allerdings scheint schon jetzt sonnenklar: Trügen alle Menschen im Sommer eine weiße Mütze, ginge die Hitzköpfigkeit unter ihnen dramatisch zurück. Und würde auch der Bräutigam Weiß tragen bei der Hochzeit, näherte sich seine Lebenserwartung jener seiner Braut wieder an. Der deutsche Wald, seit Längerem größtes Sorgenkind des Klimawandels, sieht deshalb so erbärmlich aus, weil es immer weniger Vögel gibt, die ihre weißen Exkremente auf seine Blätter scheißen. Würden Bahnmitarbeiter versuchsweise einen Quadratkilometer Wald weiß überstreichen, vielleicht wäre damit der Dürresommer schon Schnee von gestern.
Die farbliche Neugestaltung des Gleiskörpers soll übrigens nicht die einzige Pinsellösung der Deutschen Bahn bleiben. An den ICE -Waggons hat man unlängst die rote Bordüre durch eine grüne ausgetauscht, um ökologischer zu erscheinen. Höhepunkt des farbenfrohen Neuanstrichs bei der Bahn wird die Umstellung der kompletten Fahrgastinformationen auf das Ampelsystem. Grün bedeutet: Richtig geraten, Sie und Ihre gewählte Zugverbindung werden innerhalb der nächsten Stunde aufeinandertreffen. Gelb heißt: Das Warten lohnt sich, demnächst kommt irgendein Zug nach irgendwo, mit etwas Glück wollen Sie auch dahin. Und Rot sagt dem Reisenden: Es fährt ein Zug nach Nirgendwo, nutzen Sie bitte den Schienenersatzverkehr mit Ihrem privaten Pkw.
Die mutigste Problemlösung für ein Problem, das es so gar nicht gibt, nennt sich «Deutschlandtakt». Links, zwo, drei, vier, dachte ich, wäre der Takt, nach dem Deutschland tickt. Ist aber nicht gemeint, sondern das Konzept eines abgestimmten Taktfahrplans bei der Deutschen Bahn. Und ich Trottel glaubte, der Fahrplan sei bisher auch schon abgestimmt gewesen. Der Fahrplan vielleicht, aber nicht der Zugverkehr. Muss man beim gleisgebundenen Pünktlichkeitsersatzverkehr umsteigen, hat man verloren. Statt aber das alte System so zu verbessern, dass der gültige Fahrplan funktioniert, wird ein ganz neuer entworfen mit Neubaustrecken, unterirdischen Bahnhöfen und digitalen Verspätungen. Es ist das alte Prinzip des Versagens: Wenn etwas nicht funktioniert, muss man mehr davon bauen.
Die schienengebundene Mobilität ist eine Erfindung aus dem 19. Jahrhundert, könnte also sein, dass dieses System an seinem natürlichen Ende angelangt ist und man sich besser von dem ganzen Eisengelumpe verabschiedet – solange der Schrottpreis noch so hoch ist. Die DB ist defizitär, will noch mehr Milliarden verbraten und frustet jeden, der bibbernd auf dem Bahnsteig steht. Schluss damit. Die Schienen werden abgebaut und gehen an den Schrotthändler, die Bahnhöfe werden Wohnungen, das Schotterbett wird asphaltiert, nur die Oberleitungen bleiben bestehen. Auf den geteerten ehemaligen Bahntrassen fahren Lkw mit Stromabnehmern, und die Autobahnen sind reserviert für Autos, wie ja das Wort «Autobahn» uns immer schon verhießen hatte. Keine Staus, keine kaputten Brücken, keine zugeparkten Rasthöfe. Lkws können autonom gelenkt werden, der Trucker kann sich in Ruhe seine Tütensuppe aufwärmen und fährt keinen Pkw vor ihm zu Klump.
Es ist eine radikale Verkehrswende mit menschlichem Antlitz. Das Allerschönste daran aber ist, wir haben uns von der alten Mobilitätsmumie aus dem 19. Jahrhundert befreit. Nur ein paar Nebenstrecken bleiben bestehen für Dampfloksonderfahrten als Erinnerung an eine Zeit, da die Eisenbahn noch Freude und Staunen verbreitet hat.
Ein wahrlich wegweisender Vorschlag, der keine Chance auf Verwirklichung hat, denn unsere Eisenbahn ist gar kein kaltes Stück Infrastruktur, sondern «pure Emotion», hätte man beim Fußball gesagt. Da wird völlig befreit von der geringsten Denksportübung seit Jahrzehnten etwa folgender Glaubenssatz deklamiert: «Güter gehören auf die Bahn.» Ach was! Die Stückgutabfertigung ist dort schon längst Geschichte, also diese Güter schon mal nicht. Massengüter etwa? Deren Zugbildung findet zum Beispiel auf dem riesigen Rangierbahnhof Maschen südlich von Hamburg statt, auf zweihundertvierzig Hektar und dreihundert Kilometern Gleisen werden hier Güterzüge für ganz Europa zusammengestellt – sogar irgendwie digital dabei beobachtet. Praktisch läuft das dann aber so ab: DB -Cargo-Mitarbeiter krabbeln zwischen den Waggons herum, kuppeln die Güterwagen zusammen und verschrauben die Bremsleitungen miteinander. Während beim Lastwagenverkehr demnächst autonome Lkw durch Europa brummen, ist beim Schienengüterverkehr der Kupplungsvorgang der Waggons wie vor über hundert Jahren Handarbeit. Neuerdings sollen sich beim «Unternehmen Paläozän» allerdings automatische Kupplungen in einer Probephase befinden. Nur zur Erinnerung: Der Hersteller Ringfeder aus Krefeld hat für die Eisenbahn bereits 1923 ein System des automatischen selbstschließenden Kupplungsvorgangs zum Patent angemeldet.
Das andere «Zukunftssystem» ist die Schnellumschlaganlage «DB MegaHub Lehrte», dort werden Container mit Kranbrücken – natürlich voll digital – von einem Zug auf einen anderen umgeladen, ohne dass die orangenen Männchen zwischen den Waggons rumkriechen müssen. Dadurch sollen «250000 Lastwagenfahrten jährlich eingespart werden», heißt es in der DB -Jubelpresse. Das klingt prima, aber wie viel zusätzliche Güterzüge bedeutet das und wo sollen die herfahren? Schon jetzt ist das Schienennetz der DB überlastet und die Blockdichte, das heißt Abfolge der einzelnen Züge, kaum zu erhöhen. In Deutschland fahren anders etwa als in Frankreich Hochgeschwindigkeitspersonenzüge auf demselben Gleiskörper wie der Güterverkehr. Die Folge sind Unpünktlichkeit bei den einen und Verlegung des Güterverkehrs in die Nacht. Wer in einem Talkessel wohnt, durch den des Nachts die Waggons mit der Schallschutztechnik aus dem 19. Jahrhundert rumpeln, der wird sich kaum mehr Güter auf die Bahn wünschen.
Sicherlich, vom Prinzip her ist die Bahn weniger umweltbelastend als der Lkw-Verkehr, allerdings schert sich die Realität nicht viel ums Prinzip. Weder kommt der Bahnstrom nur aus erneuerbaren Energien, noch erschöpft sich der ökologische Fußabdruck der Eisenbahn allein im zurückgelegten Tonnagetransportkilometer. Ganz abgesehen davon haben auch immer weniger Firmen überhaupt einen Gleisanschluss, die erste und die letzte Meile fährt immer der Lkw, das heißt zweimal Güterumschlag, und den gibt’s auch nicht für einen Gotteslohn.
Doch Schluss mit dem Gebarme über die Illusionen beim Warenverkehr auf der Schiene. Die Schnittstelle der allermeisten Menschen mit unserer Eisenbahn ist der Personenverkehr, und da sieht’s leider auch nicht besser aus.
Es beginnt schon mit dem Empfangsgebäude. In der Fläche verrotten die zum Teil sogar denkmalgeschützten Bahnhöfe, falls sie nicht schon längst durch ein Wartehäuschen aus Faserzement ersetzt wurden. In den Metropolen wurden aus den Kathedralen der Gründerzeit «rauchfreie Einkaufsbahnhöfe», Shoppingmalls mit Gleisanschluss. Hier findet ein schlecht Ernährter alles, was er zum täglichen Leben braucht. Daneben offerieren Shops alle Arten überflüssigen Tands, in denen man beim besten Willen keinen Reisebedarf erkennen kann. Der einzig seriöse Laden ist die Bahnhofsbuchhandlung mit einer beeindruckenden Auswahl an Magazinen und internationaler Presse. Ansonsten ködert der Einkaufsbahnhof mit seiner Schnellfraßgastronomie vorwiegend zwielichtige Gestalten mit Tagesfreizeit. Mindestens die Hälfte der Menschen im Gebäude wollen gar nicht verreisen, sondern lungern nur herum oder nutzen den Bahnhof als Durchgang auf dem Heimweg. Fahrkartenschalter gibt es schon lange nicht mehr, dafür ein «Reisezentrum», in dem nur zwei von zehn Schaltern besetzt sind. Tickets kann man theoretisch auch am Automaten erwerben, bringt man die Geduld auf, sich durch die Menü-Abfrage zu kämpfen mit Punkten wie «Supersparpreis mit Fahrradkarte zweiter Klasse gültig nicht in ICE während der Tagesrandzeiten, drücken Sie auf JA », und da hat man schon vergessen, wohin die Reise überhaupt gehen soll.
Ist man dem Gewimmel entronnen und hat den zugigen Perron erreicht, fallen einem zuerst die gelb abgekreideten Quadrate ins Auge, dort darf man rauchen. Bei den örtlichen Windverhältnissen ein ehrgeiziges Unterfangen, zum Schutz vorm Passivrauchen. Was nun folgt, ist nicht etwa die planmäßige Einfahrt des avisierten Verkehrsmittels, sondern unterschiedliche Laufschriften auf der Anzeigetafel. Standardmäßig erscheint «Voraussichtlich 5 Minuten Verspätung», was sich sukzessive in Fünferschritten erhöht. Vorsicht bei folgender Durchsage: «Die Einfahrt des Zuges verzögert sich um dreißig Minuten.» Wer denkt, er könne die Zwischenzeit für einen Kaffee nutzen, hat womöglich mit Zitronen gehandelt. Kehrt er nach neunundzwanzig Minuten an Gleis 14 zurück, hört er vom DB -Lurch, dass der ICE «nahezu planmäßig» vor zwanzig Minuten abgefahren sei. Ätsch! Es hieß ja auch «Einfahrt» und nicht «Abfahrt», davon hätte man den «technischen Aufenthalt» abziehen müssen, und schwuppdiwupp sei man wieder fast im Plan.
Über die blumige Entschuldigungsprosa, mit der die DB ihre Unzuverlässigkeit umgarnt, ist schon viel geschrieben worden, und sie wäre eines eigenen Lexikons wert. «Aufgrund eines Problems mit einer Signalanlage entfällt der Zughalt in Hamm – bitte benutzen Sie für Ihren Ausstieg einen anderen Bahnhof.» Ach so, ich hatte auch nicht vor, in Hamm aus dem fahrenden Zug zu springen, andererseits wüsste ich gern, wie ich denn auf andere Weise den auf meinem Ticket vermerkten Zielbahnhof erreiche. «Tssänkju for schuusing Deutsche Bahn!» Ja, danke auch! «Eine Durchsage für alle Reisenden in Richtung Hannover: Im ICE sind die Zugtoiletten ausgefallen, der Zug hält deshalb außerplanmäßig an jedem zweiten Bahnhof für einen Toilettengang im Bahnhofsgebäude. Alle Anschlusszüge in Hannover können leider nicht erreicht werden.» Das klingt absurd, wurde aber selbst erlebt.
Mit einem nostalgischen Rückblick auf den rückwärtigen Service möchte ich meinen kleinen Exkurs rund um unsere Eisenbahn beschließen.
Wenn der Reisende aus Seelze oder Peine kommend zum ersten Mal mit dem Hauptbahnhof Hannover’schen Boden betrat, umwehte ihn sofort der verruchte Brodem der Metropole. «Hier», dachte er, «hat Fritze Haarmann sein Mittagessen angesprochen.» «HAM HAM », dräute aus der finstersten Ecke des Gebäudes eine Reklametafel und gemahnte an den berühmten Anthropophagen von der Leine. Durchmaß der Reisende die große Wandelhalle unter den Gleisen, stieß er immer wieder auf Schächte, die den Blick freigaben in die Unterwelt des Bahnhofs. Drunten in der Passerelle wimmelten die lichtscheuen Morlocks hin und her, verkauften Käseecken oder Heroin – je nach Tageszeit.
Eine Etage höher atmete der riesige Schlund Menschen ein und aus: Pendler aus dem Deister stolperten schlaftrunken ihren Minijobs entgegen, Fahrschüler schubsten sich zum Ausgang. Dazwischen immer wieder Braunschweiger, Kalmücken, finster dreinblickende Leute aus der Börde und bepackte Mütterchen aus den südlichen Mittelgebirgen. Der Hauptbahnhof Hannover verwirbelte sie alle zu einem bunten Völkergemisch. Hier, so erschien es dem staunenden Reisenden, ist der westliche Endpunkt der Transsibirischen Eisenbahn.
Bestärkt wurde der Reisende in dieser Auffassung, wenn er männlich war und ihn eine volle Blase peinigte. Vergeblich suchte der Blick nach den schon damals DB -üblichen «Reisefrischcentern» oder «Mac Pinkel» und blieb schließlich haften an der guten alten Vignette, die den Mann mit den gespreizten Beinen zeigt. Hier in Hannover arbeitete eine der letzten großen Herrentoiletten dieser Republik.
Da gab es keine Schranke, die den Notdürftigen mit der fiebrigen Suche nach einer passenden Münze belästigte, da stand – wie es sich gehört – eine Blechschachtel auf einem wackligen Stuhl. Das Herzstück der Anlage war eine Krypta, die allein dem Urin geweiht war. Er bestimmte die Kopfnote des Geruchs, unterfüttert lediglich von einer olfaktorischen Basis hellgrüner Chemiedüfte. Schritt der Urineur dann zum Eigentlichen, erwartete ihn eine Wand weißer Porzellanmenhire, die in nüchterner Strenge von einer längst versunkenen Kultur dort aufgestellt wurden. Da behinderte keine verschämte Sichtblende den Blick aufs schründige Genital des Nachbarn. Wer hier blankzog, konnte nichts verbergen. Da wurde auch nicht in stetem Drang nach fortschreitender Individualisierung unserer Gesellschaft in solipsistische Becken gepinkelt, nix da: Alle strullten in dieselbe Rinne. Hier galt der König nicht mehr als der Bettler. Und alle, die da ihr Wasser abschlugen, taten dies in dem Gefühl, an einem gemeinsamen Projekt beteiligt zu sein. Facharbeiter oder Bankier, Arbeitsloser oder Punk, ihrer aller Harn vereinigte sich am Boden zum großen gelben Fluss, zum Jangtsekiang, der die weiße Halle im Norden durchströmte.
Für rückwärtige Bedürfnisse standen im selben Raum zahllose Einzelkabinen bereit. Hier konnte der müde Wanderer einen Moment von der Hast der Metropole ausspannen. Den Zugang zu den Séparées regelte auch hier keine kalte Automatik, sondern auf Anfrage schloss der Wärter eine der Zellen auf. Gegen ein geringes Entgelt erhielt man von ihm auch Handtuch und Seife und wurde in den Gebrauch des Waschbeckens unterwiesen. Es war vor allem dieses Fachpersonal, das den Zauber der ganzen Anlage ausmachte: hutzelige Männer in den besten Jahren, die vor nichts Angst hatten, hauptsächlich nicht vorm Lungenkrebs. Sie saßen da und rauchten und husteten und rauchten. Bisweilen öffneten sie eine Zelle oder feudelten durchs Revier, doch dann saßen sie wieder da und rauchten und husteten und rauchten.
Manchmal stellte sich auch Besuch ein: andere rauchende Männer, die in der Eingangsschleuse des Sanktuariums Bierdosen ausschlabberten. Praktischerweise war der Toilettenanlage ein Kiosk angegliedert, der die wichtigen Dinge des Lebens an Ort und Stelle feilbot. Doch irgendwann war die vollste Blase leer, und der Reisende musste die verzauberte Stätte zurücklassen. Voller Wehmut blickte er auf die rauchenden Männer und ahnte, dass auch dieser mystische Ort schon bald wie in anderen Städten auch von einer antiseptischen Anlage hinweggefegt würde. Mit der alten Herrentoilette verlor Hannover eines seiner großen Denkmäler.