H ier schreibt Renate Bergmann, guten Tag.
So, das ist jetzt kein origineller Anfang für eine Geschichte, aber ich finde, die Höflichkeit gebietet es, dass man sich wenigstens kurz und knapp vorstellt, damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben, nicht wahr? Das machen die jungen Leute ja heute auch immer seltener! Ich bin zweiundachtzig Jahre alt und lebe in Berlin-Spandau.
Ich könnte Ihnen jetzt von vielen Bahnfahrten aus meinem Leben berichten, schließlich war ich bis zu meiner Pensionierung Eisenbahnerin und bin quer durchs Land gefahren mit der Kartenknipse. Aber wissen Se, ich kenne das von zu Hause: Erzählt man als alter Mensch von früher, blasen alle die Backen auf und geben sich Mühe, die Augen nicht zu verdrehen. Bei allen steigt die Angst auf, dass die Oma nun von der Zeit nach dem Krieg berichtet und dass wir damals nichts hatten. Ich kenne Sie doch!
Deshalb schreibe ich nichts von früher.
Obwohl Se da einiges verpassen, pah! Aber ich will Ihnen von einer Reise im letzten Sommer berichten.
Meine Freundin Gertrud und ich, wir unternehmen gern Ausflüge. Solange wir noch krauchen können, sagen wir immer, solange verreisen wir auch. Es müssen ja nicht die ganz großen Urlaube über mehrere Wochen sein, aber so ein Tagesausflug ist doch auch was Schönes! «Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah!», so ähnlich schrieb es schon der Dichterfürst Goethe, und das stimmt.
Gertrud ist mein Jahrgang und ebenfalls verwitwet, wenn auch nur einmal, während ich schon vier Gatten zu Grabe tragen musste. Seit letztem Jahr ist Gertrud wieder unter der Haube. Sie hat schon bald fünf Jahre mit Gunter Herbst rumscharwenzelt, da war es an der Zeit, die Verhältnisse zu ordnen. «Man muss sich nur trauen», sagte meine Mutter schon immer, und so trauten sich die beiden und der Standesbeamte sie. Trotzdem fährt Gertrud mit mir weg, an unserer Freundschaft ändert sich nichts. Gunter reist nicht mit uns, der Mann ist mehr für den Garten und seinen Fernsehsessel zu begeistern. Aber wissen Se, in unseren Jahren soll jeder auch das Recht haben, zu tun und zu lassen, wonach ihm der Sinn steht!
Also sind Gertrud und ich los, am Morgen in aller Herrgottsfrühe haben wir uns auf den Weg zum Bahnhof gemacht. Es war ordentlich was los, schließlich waren Ferien. Aber Gertrud und ich sind geübt darin, uns Sitzplätze zu organisieren. Gertrud kann so prima das Bein nachziehen, dass jedermann Mitleid kriegt. Und wenn das doch mal nicht hilft, holt sie ihr Spitzentaschentuch raus, hält es sich tupfend vor den Mund und sagt: «Renate, ich glaube, ich muss … Die Buletten waren vielleicht nicht gut.» Allerspätestens dann haben wir das Abteil für uns und freie Platzwahl. Ilse muss immer in Fahrtrichtung sitzen, sonst muss sie wirklich speien. Aber wie dem auch sei, um meine Freundin Ilse geht es gar nicht in der Geschichte.
Sie müssen schon entschuldigen, wenn ich ab und an ein bisschen abschweife. Wissen Se, je älter man wird, desto mehr Erinnerungen trägt man in sich, und wenn die rauswollen, sind sie manchmal nicht zu bremsen. Gertrud und ich sind also rein in den Zug und hatten wirklich Glück, wir haben zwei schöne Plätze erwischt. Ich ging ans Fenster, nicht weil ich die Landschaft so genau inspizieren wollte, sondern mit Rücksicht auf Gertrud. Gertrud muss ab und an mal raus, sie kriegt sonst steife Knie, wenn sie so lange sitzt. So konnte sie die Beine am Gang besser ausstrecken.
Wir saßen linksseitig, vor uns war noch ein Vierersitz, und dann kam eine Glastür, hinter der sich das Fahrradabteil befand. Sie kennen das bestimmt, diese Züge sind ja alle gleich. Dort sind die Sitze seitlich angebracht, und nicht nur Radfahrer sitzen da neben ihren Drahteseln, sondern auch Leute mit großen Koffern, mit Tretrollern oder Kinderwagen. Der Zug war schon tüchtig voll, und als er das nächste Mal hielt, stiegen noch mal etliche zu, sodass die Sitzplätze alle belegt waren. «Gut, dass wir so früh losgefahren sind», flüsterte mir Gertrud zu, «der nächste wird bestimmt noch voller. Gib mir doch mal eine Stulle, bitte!»
Wir hatten nette Sitznachbarn gerade rüber in unserem kleinen Abteil. Ein Ehepaar in den besten Jahren. Sie haben sich nicht vorgestellt, aber zur Begrüßung genickt. Der Herr schien ein pensionierter Lehrer oder gar Professor zu sein, auf jeden Fall ein Mann von Bildung. Er las in kleinen, eng beschriebenen Büchlein ohne Bilder drin. Seine Frau las auch, aber nur Zeitungsartikel, die der Gatte ihr zuteilte. Wenn sie damit fertig war, zog sie die Mundwinkel in diese oder jene Richtung. Ihr Mann kontrollierte den Blick, und einmal hatte sie wohl die falsche Meinung, da schüttelte er jedenfalls den Kopf und nahm ihr die Zeitung weg.
Wir fuhren gar nicht weit bis zum nächsten Bahnhof, es war noch innerhalb von Berlin. Der Regionalzug hält ja mehrfach, und es kamen immer mehr Leute dazu. Kurz bevor wir hielten, glaubte ich nicht, dass noch Leute reinpassen. Aber wie es so ist, stiegen gleich mal noch vier Radfahrer mit ihren Drahteseln zu. Ich traute meinen Augen kaum, aber erst jetzt sah ich Herrn Habicht im Fahrradabteil. Der Habicht wohnt bei mir im Kiez, gleich um die Ecke. Würde die große Eiche, die angeblich noch Kaiser Wilhelm persönlich gepflanzt hat, nicht die Sicht versperren, könnte ich bis rüber zu seinem Balkon gucken. Er ist im Grunde ein anständiger Kerl, auch wenn er sich und vor allem seiner Frau im Weg rumsteht, seit er in Rente ist. Der kann damit nicht gut umgehen und sucht noch nach einer Aufgabe. Solange er gearbeitet hat – er war Busfahrer –, war alles gut, aber nun … Sie wissen ja, wie das ist, wenn die Männer auf einmal zu Hause sind und sogar im Haushalt helfen wollen. Soweit ich gehört habe, ist bei seiner Tochter jetzt was Kleines unterwegs und er wird Opa. Wie dem auch sei, ich bin keine, die sich über die Angelegenheiten anderer Menschen groß das Maul zerreißt. Heute wollte er wohl per Pedal auf Sause gehen, jedenfalls muss er mit uns zugestiegen sein. Gertrud und ich hatten ihn zunächst gar nicht bemerkt! Aber jetzt war er unüberhörbar, er rammelte den neu Zugestiegenen den Lenker seines Fahrrads in die Hüften, schimpfte, dass es so voll war, und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Gertrud hatte uns durch den Verzehr des zweiten hart gekochten Eies derweil missliebige Blicke des eben noch netten älteren Pärchens eingehandelt. Ich lächelte entschuldigend und reichte Gertrud eine Serviette.
Der Habicht frickelte ein Fahrradschloss durch sein Vorderrad und klickte es zu. Er ist sehr auf Sicherheit bedacht und kontrolliert ständig alles, und zwar sehr gründlich. Offenbar hatte er Angst, hier im Zug würde ihm jemand das Pedomobil mopsen. So ein Trottel! Gertrud und ich kicherten wie die Backfische, so amüsierten wir uns. Wo sollten die während der Fahrt denn hin mit dem Rad? In den Speisewagen?
Habicht schaute sich suchend um. Ich kenne den Blick, wissen Se, jeder, der Blutdrucktabletten einnimmt, muss immer gucken, wo er auch mal austreten kann. Es treibt. Er verschwand in Richtung Triebwagen, wohl auch, weil ihn der Drang trieb.
Mir war das gar nicht so unrecht, dass er uns nicht gesehen hatte. Er hat es nicht so mit der Etikette und spricht sehr laut, der fragt einen vor allen Leuten Sachen … Das will man nicht. Gertrud und ich wollten unter uns sein. Er hätte auch aus der Tatsache, dass wir beide uns nach unseren Stullen, der Bulette und den hart gekochten Eiern einen kleinen Korn zum Verdauen gönnten, «die beiden ollen Weiber haben im Zug gesoffen» gemacht. So einer ist das!
Die Eisenbahn schlängelte sich durch die brandenburgische Landschaft, und schon bald bewunderten wir Kiefernwälder. Kurz darauf sahen wir Spargelfelder, und damit hat es sich auch schon mit den Dingen, für die Brandenburg bekannt ist, jedenfalls, wenn man mal von der Spreewaldgurke absieht. Gleich sollte der nächste Halt kommen, und ich bemerkte, wie sich zwei Frauen, die sich bis hierhin angeregt unterhalten hatten, zum Aussteigen fertig machten. Zwei hübsche, jungsche Dinger – lassen Se die Mitte fünfzig gewesen sein.
Na ja, jung!, werden Sie jetzt denken, aber glauben Se mir: Wenn man über achtzig ist, erscheint einem das jung!
Jedenfalls nickten die sich zu, zuckelten ihre Nicki-Hemdchen über den Knickerbockerhosen zurecht, zogen sich die Rucksäcke auf den Rücken und gingen ins Fahrradabteil. Dann habe ich eine Sekunde nicht aufgepasst, aber es wurde sehr schnell sehr laut, und es gab ein großes Geschrei und ein Handgemenge. Eine der beiden hatte wohl entdeckt, dass ihre Fahrräder angeschlossen waren und sie die nicht losbekamen!
«Habicht», schoss es mir durch den Kopf, und ich guckte zu Gertrud rüber und bedeutete ihr, dass wir beide jetzt einfach ganz stille sein würden.
Eine der beiden Damen – so eine mit schräch geschnittenen Haaren und nur einem Ohrring, wissen Se?, so eine Zähe, Verbissene, zerrte an dem Fahrrad rum. So drahtige Frauen haben ja oft unglaublich viel Kraft, selbst wenn sie noch so klein sind. Meine Tochter, die Tiertherapeutin ist und die nicht mal Fisch isst, hat auch schon mal zwei Schafböcke auseinandergezogen, mit denen sie falsch meditiert hatte. Statt sich zu entspannen, sind die Viecher aufeinander los, und Kirsten, die eine kleine, drahtige Person ist, hat sie mit einer Kraft, die ihr niemand zugetraut hatte, auseinandergezerrt. Die Schrächfrisierte war auch so eine. Sie war stark, aber auch sie schaffte nicht, das Habicht’sche Fahrradschloss, Sicherheitsstufe 11, zu knacken. Die Kette hörte man bis in unser Abteil klimpern, und es klang schwer und massiv wie die, mit der mein Opa Strelemann unsere Ochsen früher vorm Pflug führte.
Der Zug hielt, einige stiegen aus, andere stiegen ein, und unsere beiden Ausflüglerinnen mussten bleiben. Sie hatten das ganze Abteil in Aufruhr gebracht, und alle diskutierten laut und ohne viel Ahnung. Es ging zu wie beim Fäßbock, sage ich Ihnen! Alle riefen durcheinander, und es wurden Bemerkungen gemacht, die witzig sein sollten, es aber nicht waren. Weit und breit war keine Spur von Günter Habicht.
«Der ist bestimmt austreten, Renate!», flüsterte mir Gertrud zu.
«Meinst du? Hier im Zug?»
«Männer sind da doch nicht so zimperlich. Und der setzt sich bestimmt auch nicht hin!»
Ich nickte ihr beipflichtend zu und hoffte, dass sie das Thema nicht noch weiter … Es reichte so. Wir hatten einen Eindruck.
Derweil beäugten die neu hinzugestiegenen Fahrgäste irritiert die Szene und trauten sich gar nicht, ihre Fahrräder loszulassen. Zwei junge Männer behielten die Helme auf, denn die Drahtige mit dem schiefen Haarschnitt wuchtete noch immer an den angeschlossenen Rädern rum. Die Herren hatten offenbar Angst, verletzt zu werden.
«Schadenersatz! … Wer das war, den werden wir verklagen! … Nötigung! … Wo ist denn überhaupt ein Schaffner?» All solche Sachen hörte man immer wieder. Ich wollte erst einwerfen, dass es schon lange nicht mehr «Schaffner», sondern «Zugbegleiter» heißt, aber ich biss mir auf die Lippen.
Derweil erreichten wir den nächsten Bahnhof. Hier hätten die beiden Ausflüglerinnen aussteigen und den Zug in die Gegenrichtung nehmen können, aber Habicht war noch immer nicht wieder aufgetaucht. Die anderen wussten auch gar nicht, nach wem sie fahnden sollten! Sie hatten eine ungefähre Ahnung, dass «ein Allmann mit Tennissocken, Hawaiihemd und Sandalen» – so wurde er beschrieben – der Verursacher des Missgeschicks gewesen sein könnte.
Die beiden Damen zogen nunmehr in Betracht, das kleine Scheibchen, hinter dem sich der Knopf für die Notbremse des Zuges befindet, mit dem Hämmerchen einzuschlagen und den Zug zum Halten zu bringen. Die mit der roten Bluse hatte noch Hemmungen, aber die zähe Kleine war bereit zuzuschlagen.
Gerade im letzten Moment, bevor sie den Nothammer ergreifen konnte, kam Habicht in das Fahrradabteil geschlendert. Er zuppelte sich noch den Gürtel zurecht. Gertrud hatte scheinbar richtig mit ihrer Vermutung gelegen – der war austreten gewesen.
Den Damen blieb kurz die Sprache weg, aber nur für einen ganz kurzen Augenblick. Denn kaum beugte sich Günter Habicht über sein Fahrradschloss, ging ein lautes Gekeife los.
«WAS DENKEN SIE SICH EIGENTLICH ?! Machen Sie schleunigst unsere Fahrräder los!»
«Bitte? Ihre Fahrräder? Was brüllen Sie mich eigentlich so an, lassen Se mich erst mal in Ruhe MEIN Fahrrad losmachen, ich will beim übernächsten Halt raus!»
Der Habicht kriegte gar nicht mit, was los war. Das ist bei dem aber oft so, das hat nichts zu sagen.
«Wir wären auch gern ausgestiegen!», konterte die mit der roten Bluse, die irgendwie ängstlich und nicht so forsch war wie die mit dem verrutschten Pagenkopf.
«Na, machen Sie doch! Das müssen Sie bei mir nicht anmelden, wir leben in einem freien Land.»
Die Schrägfrisierte rang nach Luft und plusterte sich auf. Auch bei ihrer Freundin mit der roten Bluse war es nun mit der Contenance vorbei, und beide brüllten durcheinander.
Habicht machte in aller Seelenruhe sein Fahrrad los und ließ das Geschimpfe über sich ergehen. Er ist seit bald dreißig Jahren mit seiner Brigitte verheiratet, der kennt das nicht anders.
«Schadensersatz!», höre ich wieder, «der ganze Urlaubstag versaut!», «das werden wir anzeigen! Annerose, lass dir die Personalien geben!» Lauter solche wirklich unschönen Sachen wurden in einer Lautstärke gebrüllt, dass Gertrud und ich wirklich nicht lauschen mussten, wir bekamen trotzdem alles mit.
Eine junge Frau, die bisher nur still in der Ecke saß, mischte sich auf einmal ein. Es war so ein Knödelmädchen, wissen Se. Die trug einen Witwe-Bolte-Knoten auf dem Kopf. Das scheint das Erkennungszeichen der Frauen ihrer Generation zu sein. Die sind blitzgescheit und studieren was ganz Wichtiges mit Medien oder Erziehung und haben eine tadellose Figur. Die zeigen sie auch sehr gern, indem sie bauchfreie Hemdchen tragen. Die ernähren sich sehr gesund und trinken statt Milch Wasser mit püriertem Hafer. Meist fahren sie mit einem Herrenfahrrad umher und diskutieren ständig über Dinge, die ihnen viel bedeuten, die aber für den Fortbestand der Welt eher nebensächlich sind. Die wissen komisches Zeug, aber nichts von dem, worauf es im Leben ankommt: Sie können keine Servietten falten, wissen nicht, wie man Tischtücher stärkt, und wenn es darum geht, einen Karpfen zu schlachten, tun sie sich auch schwer!
Nun jedenfalls stand sie auf und sagte: «Nun wollen wir uns doch erst mal alle beruhigen!»
Sie selbst war sehr ruhig, so entspannt wie meine Tochter, wenn sie eine halbe Stunde auf ihrer Yogamatte ihre innere Mitte mit der Welt in Einklang gebracht hat. Die Knödelträgerin hier war ganz in ihrer Mitte, und es klang ein bisschen nach Frau Schlode, der Kindergärtnerin, als sie sagte: «Wie schön, dass Sie alle heute hier sind.»
Alle guckten sie nur irritiert und manche auch ein bisschen mitleidsvoll an. Es wollte sich niemand so richtig freuen, was vielleicht auch daran lag, dass die Klimapuste ausgefallen war. Es ging jetzt schon auf Mittag, und nicht nur die Sonne, sondern auch die erhitzte Diskussion hatte alle zum Schwitzen gebracht. Es wollte auch niemand mit ihr meditieren und «gemeinsam bei entspanntem Gesang nach einer Lösung suchen».
Die aufgebrachten Damen, die durch Günter Habichts Ankettung unfreiwillig zur Weiterfahrt gezwungen waren, gerieten vollends aus ihrer Mitte, als der Zugbegleiter auftauchte und ihre Fahrscheine sehen wollte. Sie waren ja nun schon zwei Stationen weiter gefahren, als sie gelöst hatten!
Wir bekamen – fast muss ich «leider» sagen – die Auflösung des ganzen Tohuwabohus nicht mit, denn Gertrud und ich mussten aussteigen. Wir waren in Bad Hasselstein angekommen und hatten unser Ziel erreicht. Wir gingen auch nicht durch das Fahrradabteil zur Tür, sondern machten lieber ein paar Schritte mehr und wählten den anderen Ausgang.
Ach, was hatten wir für einen schönen Tag im kleinen Kurstädtchen! Wir bummelten durch den Park, besichtigten das Schloss und lernten einen zauberhaften älteren Herrn kennen, der noch gut zu Fuß war, volles Haar und eigene Zähne hatte und der uns zu Kaffee und Eierschecke einlud. Es war ein schöner Tag, wir hatten ja auch Glück mit dem Wetter. Zur Sicherheit hatte ich natürlich einen Schirm eingesteckt, aber den brauchten wir nicht. «Wenn Engel reisen …», heißt es doch so nett, nicht wahr? Die Sonne begleitete uns den ganzen Tag.
Am späten Nachmittag brachte uns der pensionierte Museumsleiter zum Bahnsteig, und wir reisten zurück nach Berlin. Gertrud und ich sind nun keine Klettergämsen mehr mit unseren über achtzig Jahren, aber wir stiegen doch lieber hoch in die zweite Etage. Wir hatten nicht recht Lust, wieder so dicht am Fahrradabteil zu sitzen.
Wir waren rechtzeitig zum Abendbrot zurück in Spandau. Der Zug war halbwegs pünktlich und kam auch nur zwei Gleise neben dem geplanten an, da konnte man nicht meckern.
Ein paar Tage danach, als ich meine Einkäufe erledigte – mir war die Butter ausgegangen, denken Se nur! –, stand ich an der Kasse von Frau Habicht. Ich stelle mich immer am liebsten bei Frau Habicht an, wenn ich die Wahl habe. Die ist zackig, kann alleine die Bonrolle wechseln, vertippt sich nicht so oft und weiß auch die Nummer für Bio-Gurken. Und sie hat trotzdem immer Zeit für einen kleinen Plausch. Ihr Mann hätte Gertrud und mich neulich im Zug gesehen, meinte sie und brachte mich ein bisschen in Verlegenheit.
«Ach, er ist mir gar nicht aufgefallen. War er auch in Bad Hasselstein?»
«Nee, der war weiter nach Kasselhausen. Wenn Sie ihn nicht gesehen haben, haben Sie bestimmt auch gar nicht mitgekriegt, was da los war? Günter hat einen Diebstahl verhindert!», sagte sie sehr stolz und machte sich ein Stückchen größer hinter ihrer Kasse.
«Sagen Sie bloß. Einen Diebstahl verhindert?»
«Jawoll! Zwei Frauen wollten sich fremde Fahrräder schnappen und einfach damit aussteigen, und wenn Günter die nicht gehindert hätte, wären die weg gewesen. Die Besitzer hatten sie im Fahrradabteil abgestellt und hatten sich weiter hinten hingesetzt, die haben das gar nicht mitgekriegt. Sie haben die zwei Betrügerinnen mit der Bahnpolizei aus dem Zug geholt!»
Ach, du liebe Zeit! Der olle Zausel hatte die Geschichte aber zu Hause ganz anders berichtet, als sie sich zugetragen hatte! Eine regelrechte Räuberpistole hatte er daraus gemacht!
Ich biss mir auf die Lippen und sagte Frau Habicht nichts. Sollte der doch zu Hause erzählen, was er wollte, es ging mich nichts an. Ich holte zwei Stück Eierschecke vom Bäcker und ging zu Gertrud. Wir lachten, bis wir die Brillen abnehmen und uns die Augen trocken tupfen mussten.
«Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben», heißt es so schön, und wir planten bei Kaffee und Kuchen gleich unseren nächsten Ausflug. Zu Hause sitzen und auf den Tod warten können wir schließlich noch früh genug!