»Erinnerst du dich an Sofia?«, hatte Mats gefragt, als sie auf dem winzigen Balkon beim Frühstück saßen. Eigentlich war es schon zu kühl draußen, aber sie waren spät aufgestanden, und die Oktobersonne schien um diese Zeit direkt in die geschützte Nische. Mats hatte sich sogar aufgerafft, frische Brötchen zu holen. Nicht ohne Grund, wie sich jetzt herausstellte.
Linnea musste nachdenken. »Sofia … die mit dem spanischen Restaurant und den Krimidinnern?«, fiel ihr schließlich ein. Dort hatten sie im Sommer einen Beitrag gedreht. Das Essen war gut und die Krimidinner sehr unterhaltsam, weil in die Darbietungen eine Menge spanisches Temperament eingeflochten war. Sofia war die Tochter des Besitzers und die Eventmanagerin.
»Genau die.« Mats schmierte voller Energie sein Brötchen. Linnea wunderte sich oft, wie man so viel Butter essen konnte, ohne dick zu werden. »Sie geht nach Spanien. Dort lebt ihre Mutter. Sofia wird Teilhaberin im Sterne-Restaurant eines Onkels und möchte dort auch Fashion Events managen. Sie hat mich gefragt, ob ich für ein Jahr mitarbeiten möchte, als Fotograf und für die PR.« Er schob das Brötchen beiseite, lehnte sich zurück und sah Linnea in die Augen. »Weißt du, ich möchte das unbedingt machen! Ich muss mal wieder raus aus Deutschland. Und ein neues Thema wär auch cool. Modefotografie hab ich noch nie gemacht. Und dann mit dieser Landschaft dahinter! Das reizt mich echt.«
Linnea schluckte und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren, die völlig aus dem Takt geraten waren und durcheinanderpurzelten. Gerade eben war doch noch alles wie immer gewesen. Sogar das mit der Butter. Was sollten sie denn in Spanien? Warum überhaupt weg, jetzt, wo sie sich hier so gut eingearbeitet hatten? Die Sendeleitung mochte ihre Beiträge. Sie hatten viel Arbeit, und beinahe jeder einzelne Auftrag machte Linnea Freude. Sie konnte eigene Ideen einbringen. Sie hatte ein Publikum. Und Richtung Süden wollte sie schon gar nicht. Wenn sie jemals weggehen würde, dann in den Norden. Norwegen, Finnland, Grönland. Das interessierte sie. Irgendwann einmal.
Aber Mats hatte gar nicht daran gedacht, sie mitzunehmen. »Ich finde, eine Pause täte uns beiden ganz gut«, sagte er jetzt. »Du fühlst dich doch auch manchmal ein wenig eingeengt, oder?«
»Wie kommst du darauf?«, brachte Linnea heraus. Eingeengt? Nein. Eher geborgen.
»Na, du warst doch neulich mit Caro und ihrer Nadja allein fort. Und abends sitzt du am Schreibtisch, anstatt mit mir Filme zu gucken.«
»Weil ich Actionfilme nicht mag. Und weil die Recherche gemacht werden muss. Wie meinst du das, eine Pause?«
Er zuckte mit den Schultern. »Na gut, vielleicht bin ja hauptsächlich ich es, der sich eingeengt vorkommt. Ich merke, dass ich mich noch zu jung fühle für etwas so Festes! Es ist alles so eingespielt. Zu viel Routine.« Er fasste nach ihrer Hand. »Ich weiß, dass du dich beim Sender wohlfühlst. Und dass Spanien im Augenblick wahrscheinlich keine Option für dich ist. Deswegen habe ich mir gedacht, wir machen erst mal jeder das, was er möchte. Ohne Verpflichtungen. Ich hab meinen Anteil der Miete für drei Monate im Voraus bezahlt, dann hast du Zeit, dir was zu überlegen.« Seine Hand war warm. Sie mochte seine Hände. Aber er ließ ihre los und griff nach dem Käseteller. »Ich würde dich nur bitten, dass ich ein paar Kisten von mir in die Besenkammer stellen kann. Mein Zimmer kannst du natürlich untervermieten oder ein Arbeitszimmer daraus machen oder was auch immer dir gefällt.«
Sie waren nach dem ersten Jahr zusammen in die kleine Wohnung in der Heideggerstraße gezogen, weil es sich anbot und jeder mit seinem WG-Zimmer unzufrieden war. Heideggerstraße klang ein bisschen wie ihr Zuhause, dachte Linnea, die sich manchmal nach der Ruhe der Heide sehnte. Es war ihre Idee gewesen. Und die gemeinsame Wohnung hatte sich tatsächlich bald wie ein Zuhause angefühlt. Bis jetzt.
Für Mats anscheinend nicht. Sie hatte ihn nie gefragt, dachte sie schuldbewusst. Es gehören immer zwei dazu, wenn etwas schiefgeht. Habe ich ihn überrollt damals? So wie er mich jetzt?
»Du hast das alles schon beschlossen, oder?«, fragte sie um den Kloß in ihrem Hals herum.
Er widmete sich wieder seinem Brötchen und nickte dabei.
»Ja. Wir haben uns nie etwas versprochen, Linnea.«
Das stimmte.
»Und was ist mit deiner Schwester? Mit Oskar?«
»Sie ist nicht mehr alleinerziehend, sie hat doch jetzt einen neuen Freund. Oskar kann mich mit ihr besuchen. Außerdem bin ich nicht aus der Welt. Bestimmt komme ich ab und zu her. Dann können wir uns auch sehen und uns erzählen, wie es uns geht. Mal sehen, wie es in einem Jahr so ist. Ein Jahr ist doch gar nicht lang. Wir lassen uns alles offen, okay?«
»Ohne Verpflichtungen?«
»Genau. Ohne Verpflichtungen. Das macht alles wieder spannend.«
»Das kommt jetzt ziemlich plötzlich.« Wie konnte er jetzt einfach sein Brötchen weiteressen? Natürlich, er hatte ja schon lange über alles nachgedacht.
»Ich weiß erst seit drei Tagen von Sofias Angebot. Und dann habe ich schon mal alles Nötige organisiert, weil ich nicht den Mut fand, es dir zu sagen. Ich hab es immer wieder aufgeschoben. Sorry! Linnea, ich will dir nicht weh tun. Aber ich kann nicht anders.« Er sah so ehrlich zerknirscht aus, dass sie ihn am liebsten in den Arm genommen hätte, trotz allem. Verdammt.
»Na, dann brauchen wir ja nicht weiter darüber zu reden.« Sie schraubte übertrieben sorgfältig den Deckel auf das Honigglas, aus dem immer nur sie aß, weil Mats keinen Honig mochte. Es beruhigte sie, wenn es richtig zu war. Sie legte ihr Brötchen zurück in den Brotkorb, stand auf und lief hinaus, ohne Jacke bis auf die Straße und in den Park. Jetzt war sie es, die Abstand brauchte. Erst mal begreifen, was geschehen war.
Seine Kisten in der Besenkammer waren also alles, was von ihm bleiben würde.
Sie lief um den kleinen See herum und betrachtete die versinkenden Blätter, die unter der Wasseroberfläche undeutliche Muster formten wie Erinnerungen an den letzten Sommer. Nach einer Weile musste sie zugeben, dass Mats ihr wirklich nie etwas versprochen hatte. Sie ihm auch nicht. Vielleicht hatte von Anfang an alles allzu gut gepasst. Es war zu einfach gewesen, die aufregende Zusammenarbeit war irgendwann tatsächlich zur Routine geworden. Mats hatte recht. Aber Linnea war es gut erschienen. Weder einengend noch langweilig.
Nein, eingeengt hatte nur er sich gefühlt, und jetzt wollte er ihr das unterschieben! Müde zuckte Linnea mit den Schultern. Sie würde sich an die neue Situation gewöhnen müssen.
Mats konnte nicht wissen, wie viel Angst ihr das machte. Das alte Gefühl der Hilflosigkeit aus ihrer Kindheit stieg sofort wieder in ihr hoch. Aber Mats war nicht ihr Vater, und er war auch nicht gestorben. Und Linnea war erwachsen. Sie würde ohne ihn klarkommen. Sie war nicht so hilflos wie damals. Ganz im Gegenteil! Sie machte ihre Arbeit gut und verdiente so viel, dass sie die Wohnung eine Weile alleine würde halten können.
Es gab auch andere Kameramänner. Oder besser Frauen. Dann konnte sich ein Problem wie mit Mats gar nicht erst wiederholen.
Drei Tage später war Mats fort. Vorher wickelten sie noch ihren letzten Auftrag ab. Linnea war nicht zufrieden damit. Sie war nicht bei der Sache gewesen, hatte sich nicht konzentrieren können. Zum Glück bügelte der gutmütige Cutter die schlimmsten Fehler einfach aus.
»Entschuldige, Fred«, sagte Linnea. »Nächstes Mal wird wieder besser. Danke, dass du uns gerettet hast.«
»Schon gut, Mädchen«, sagte er väterlich. Fred war so breit wie hoch, hatte eine Glatze mit einem weißen Haarkranz und strahlte stets eine unerschütterliche Ruhe aus. In diesem Augenblick hätte sich Linnea ihm am liebsten an den Hals geworfen und sich an seiner gewaltigen Schulter ausgeheult. Anscheinend hatte er das in ihrem Gesicht gesehen, denn er klopfte ihr auf den Rücken. »Geht alles vorbei, Mädchen«, sagte er. »Mach dir nich so’n Kopp. Das isses nich wert. Wirste merken, wenn du erst mal so alt bist wie ich.«
Linnea schnäuzte sich. »Danke, Fred.«
Mats umarmte sie zum Abschied.
»Ist es wegen Sofia?«, hatte sie ihn gefragt.
»Nein. Sofia hat einen Verlobten, er hat auch hier gearbeitet und kommt mit nach Spanien. Sicher werde ich die Hochzeitsfotos machen. Nein, Linnea, es ist die Freiheit, in die ich verliebt bin! Das kann sich wieder ändern. Ich habe gerade keine Ahnung, wie es mit mir weitergehen wird, und genau das gefällt mir. Sehr. Eine Fahrt ins Blaue, sozusagen. Da sind wir zwei eben verschieden. Du musst immer alles so schrecklich genau planen.«
»Das stimmt. Es gibt mir Sicherheit. Ich brauch das so.« Sie wusste selbst, dass das ihrem Motto widersprach, immer in der Gegenwart zu leben. Linnea musste schon wieder die Tränen herunterschlucken. Sie wollte nicht, dass Mats merkte, wie weh es ihr tat, dass er ging.
»Manchmal dauert es einfach länger, bis man mitbekommt, wie unterschiedlich man denkt. Ich wünsche dir alles Glück, Linnea! Wenn du mich brauchst, sag Bescheid. Wir bleiben doch in Kontakt, oder? Es war eine richtig gute Zeit, meinst du nicht?«
Sie nickte. »Doch. Das war es.«
»Und jetzt gehen wir neue Wege. Entwickeln uns weiter. Du wirst noch Großes erreichen. Mehr als ich.« Er lächelte sie an. »Wahrscheinlich wäre ich nur ein Klotz an deinem Ehrgeiz.«
»Ich bin ehrgeizig?« Jetzt war sie verblüfft.
»Vielleicht auch nur akribisch. Jedenfalls traue ich dir eine Menge zu. Mach’s gut, Linnea. Bis bald.«
Und dann schloss sich die Wohnungstür hinter ihm mit demselben Klick wie jeden Morgen zuvor. Dieses vertraute Klick hatte zu Linneas Tagen gehört wie Sonnenauf- und Sonnenuntergang. Es klang immer anders, wenn Mats die Tür schloss, als wenn sie es selbst tat. Es brodelte eben grundsätzlich mehr Ungeduld in ihm. Vielleicht war dieses etwas zu laute Klick schon längst die Ankündigung seiner Abenteuerlust gewesen. Sie hatte es nur nicht gehört.
»Wir werden Mats nicht ersetzen«, sagte der Chef vom Dienst zu Linnea. »Wir brauchen die Mittel woanders. Für den Augenblick werden wir dir immer den Kameramann an die Hand geben, der gerade frei ist. Ich bin mir sicher, das ist kein Problem für dich.«
»Na klar. Ich bin ja flexibel.« Jene Zeit vor drei Jahren schien ihr ewig her zu sein. Inzwischen gehörte sie dazu. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass man sich beim Fernsehen meist duzte. Das war nett, aber es wurden auch alle ein wenig austauschbar dadurch. Freunde, Kollegen, irgendwer, der gerade da war. Am Ende zählte sowieso nur das Ergebnis.
Die ersten Beiträge, die sie ohne Mats drehte, liefen leidlich. Immerhin war da noch Caro, die wusste, wie Linnea alles haben wollte. Die Kulissen, die Beleuchtung, das Mikrophon. Und Fred war auch noch da, der versuchte, den Beiträgen am Ende den alten Glanz zu verpassen.
Doch es war, als hätte Mats eine Auflösung in Gang gesetzt. Fred würde in zwei Monaten in den Ruhestand gehen, wofür Mats natürlich nichts konnte.
Dann lud Caro Linnea nach der Arbeit in die Pizzeria ein. Linnea war dankbar dafür. Sie hatte meistens keine Lust, für sich allein etwas zu kochen, und die dunklen Herbstabende waren lang und irgendwie kalt, egal, wie viele Kerzen sie anzündete.
Caro schob die Peperoni auf ihren Teller hin und her. »Hör mal, Linnea, bei dir ist doch jetzt Mats’ Zimmer frei. Würdest du es … ich meine, suchst du nicht vielleicht neue Mitbewohner?«
Mats’ Zimmer war leer. Sehr leer. »Warum fragst du? Kennst du jemanden, der was sucht?« Linnea aß mit Appetit. Endlich mal etwas Warmes im Bauch. Sie musste sich zusammenreißen und auch zu Hause wieder richtig essen. Vielleicht wäre ein Mitbewohner da hilfreich, von der Miete ganz abgesehen.
»Ja, Nadja und ich. Das Zimmer ist groß genug für zwei. Wir brauchen nicht viel. Die Sache ist die, wir müssen sparen. Ich möchte es machen wie Mats, Linnea. Ich hab mir das gut überlegt.«
Linnea verschluckte sich beinahe an einer Olive. »Du willst nach Spanien gehen?«
»Quatsch, dann bräuchte ich ja hier kein Zimmer. Nein, es ist der Job. Die Arbeit macht mich nicht glücklich. Wir schicken Bilder in die Welt, aber das bewegt nichts.« Vor Eifer gestikulierte Caro mit ihrem Baguette. Ein Stück Basilikum flog auf die weiße Tischdecke. »Ich möchte etwas Handfestes machen, etwas, wo ich die Ergebnisse sofort sehe und abends zufrieden ins Bett kann. Ich möchte in die Pflege gehen! Da werden Kräfte verzweifelt gesucht. Da wird man gebraucht. Die Umschulung bekomme ich bezahlt. Und Nadja macht mit. Ihr geht es genauso. Aber das bedeutet, dass wir Miete einsparen müssen. Unsere Wohnung war sowieso zu groß, seit die anderen beiden aus der WG ausgezogen sind. Was sagst du?«
Linnea sagte erst mal nichts. Mit Caro und Nadja zusammenwohnen, ja, das konnte sie sich gut vorstellen. Sogar sehr gut. Aber dies war auf jeden Fall das komplette Ende ihres Teams. Die Kontrolle entglitt ihr noch mehr. Das konnte so nicht weitergehen. Sie musste auch etwas anders machen, genau wie Caro und Mats. »Linnea?«
Sie schrak aus ihren Gedanken auf. »Klar, Caro. Ich würde mich freuen. Das wird bestimmt richtig nett.«
»Tut mir leid, Linnea. Aber ich muss das machen.«
»Das habe ich kürzlich schon mal gehört«, murmelte Linnea.
»Ich koche auch«, versprach Caro. »Und Nadja macht einen super Zwiebelkuchen.«
Linnea musste lachen. Trotz allem. »Dann kann ja nichts schiefgehen. Solange es Nadjas Zwiebelkuchen gibt.«
»Ich finde, Herbst ohne Zwiebelkuchen mit Federweißem geht gar nicht. Wollen wir noch ins Kino?«
Linnea schüttelte den Kopf. »Ein andermal. Ich möchte einen Spaziergang machen. Ich muss nachdenken.«
Die Lichter der Stadt spiegelten sich in der Havel. Am Ufer putzte sich eine Ente die Flügel, und der Wind trug eine Feder fort. Sie leuchtete kurz im Licht der Gaslaternen auf. Eine kleine Feder, hell und fein und leicht vor den schweren Silhouetten der Häuser, der Stadt aus Stein und Beton und Asphalt.
Gegensätze. Eindrucksvolle Bilder. »Ich glaube das nicht!«, sagte Linnea zu der Ente. »Für Caro fühlt es sich vielleicht so an, aber ich glaube nicht, dass unsere Arbeit keine Wirkung hat. Dass sie nicht wichtig ist.« Sie dachte an ihre Kindheit, an die Heide. Dort war ihr zum ersten Mal klar geworden, wie wichtig Bilder waren. Sie hatte die Broschüren studiert, mit denen die Region Werbung machte, die Touristen anlocken sollte. Violett blühende Heide, sandige Wege, Heidschnucken und Honig, Schäfer und Pferdewagen. Postkartenidylle. Das waren aber nicht die wirklich bedeutenden Bilder, fand Linnea. Eindrucksvoll war der Nebel im Herbst zwischen den Wacholderbüschen. Eindrucksvoll waren die Spinnweben auf der Glockenheide, wenn sie die Feuchtigkeit fingen und die Sonne darauf glitzerte. Eindrucksvoll war die Weite des Winters, weiße Flächen mit wenigen bizarren dunklen Unterbrechungen. Eindrucksvoll die verwitterte Wand einer Scheune, die seit Generationen in Gebrauch war. Man musste die Bilder unter der Oberfläche hervorholen wie ein Archäologe seine Ausgrabungen unter unzähligen Erdschichten. Und damit nicht genug, man musste sie auch richtig verpacken. Eine Geschichte wurde nur gut, wenn man sie gut erzählte, auch ohne Worte. Wenn man die Motive und das Publikum zueinander brachte, so dass sie sich berührten, egal, wie weit die Entfernung zwischen ihnen war.
»Nein, ich möchte nichts anderes machen!«, erklärte Linnea der Ente, die ein leises Schnattern von sich gab und im Dunkeln verschwand. Linnea fröstelte, steckte die Hände tiefer in die Taschen und ging weiter, auf eine Brücke zu.
Vielleicht sollte sie ein paar Wochen nach Hause fahren, Urlaub machen. Ihre Mutter würde sich freuen. Aber gebraucht wurde sie dort nicht. Ihre Mutter litt zwar an Parkinson, und Alessa war schon vor Jahren gestorben. Aber es hatte sich ein Rentnerehepaar gefunden, das eine neue Aufgabe suchte und voller Tatendrang war. Glücklich, der Stadt zu entkommen, waren sie in der Pension Heidelerche eingezogen und hatten den Betrieb fast ganz übernommen. Linnea musste sich weder um ihre Mutter noch um die Pension sorgen. Trotzdem, ein wenig Heimweh hatte sie schon. Aber Wegrennen war keine Lösung. Stattdessen zog sie ihr Handy aus der Tasche und schrieb ihrer Mutter eine WhatsApp. Liebe Grüße, Mama, ich hoffe, es geht dir gut. Ich freue mich schon auf Weihnachten.
Es dauerte keine Minute, da kam die Antwort. »Ich auch! Auf Weihnachten und dich. Eine dicke Umarmung aus der Heide, deine Mama.« Linnea zögerte, dann schrieb sie eine zweite Nachricht. An ihre Freundin Valerie, die genau wie Mats auch schon einmal ihr Leben völlig umgekrempelt hatte. Mutig, so was, eigentlich. Wenn Mats ihr nicht so fehlen würde, würde sie ihn noch mehr dafür bewundern. »Gerade ist alles Mist«, schrieb sie an Valerie. Dann lief sie weiter, stellte sich in den Schatten der Brücke. Hier war es stockdunkel, aber die Rundung der Brückenwölbung bot einen stimmungsvollen Rahmen für die Lichter der Stadt und die bunten Flecken, die sich im Wasser spiegelten. Linnea machte ein Foto. Im selben Augenblick vibrierte das Handy. Du kannst jederzeit herkommen. Auf Amrum gibt es auch Heide, und das Meer hat Antworten auf alle Fragen, schrieb Valerie.
Der Gedanke war verlockend, doch Linnea wollte sich nicht verkriechen. Sie wollte die Kontrolle über ihr Leben wiederhaben!
Sie schickte das Bild, das sie gerade gemacht hatte, an Valerie und schrieb einen Gruß dazu. Dann betrachtete sie das Foto noch eine Weile. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Backsteinmauer und kopierte das Bild in eine App, probierte damit herum. Legte einen Filter darüber, veränderte den Kontrast. Erst als die Kälte durch ihre Jacke in ihren Rücken sickerte, ging sie nach Hause.
Am nächsten Morgen stand sie also auf dem Bahnhof und ließ die erste Bahn vorüberfahren, ehe sie den Mut fand, einzusteigen. Sollte sie doch zu Valerie nach Amrum? Einfach eine andere Bahn nehmen? Alles fühlte sich so falsch an, ohne Mats. Aber kneifen kam nicht in Frage. Sie wusste doch, was sie wollte. Was er konnte, konnte sie auch.
Im Sender ging sie zu Siegfried, dem Chef vom Dienst, und baute sich vor ihm auf. »Das mit den wechselnden Kameramännern passt nicht zu meiner Arbeitsweise«, sagte sie ihm. »Ich habe es versucht, aber ich komme nicht damit zurecht.«
»Ich weiß nicht, was ich da im Augenblick machen kann, Linnea. Caro hört auch auf. Ich kann dir jetzt kein ständiges Team zuweisen. Möchtest du Urlaub nehmen?«, fragte er.
Es klang fast hoffnungsvoll. Er muss mehr einsparen, als er zugibt, dachte Linnea. Das kam ihr jetzt gerade sogar entgegen.
»Ich habe einen anderen Vorschlag«, sagte sie. »Ich steige um auf MoJo.«