Der Frühling verging so schnell, als wäre er nur eine Libelle im Vorbeiflug gewesen. Es lag sicher daran, dass Juna so beschäftigt damit war, den Schlitten zu bauen und Ben mit den Hütten zu helfen. Das Einrichten machte ihr mehr Freude als geahnt. Es war spannend, die Möbelstücke, die sie gefertigt hatte, richtig unterzubringen und Ideen zu haben, was Wandfarben und Bilder anging. Hier noch eine Trennwand, dort ein Teppich, da ein Eckregal – eines führte zum anderen. Sie arbeitete Hand in Hand mit Ben, und beide waren mit dem Ergebnis jedes Mal hochzufrieden.
Nur was das Einsteigen in den Betrieb anging, hatte Juna sich Bedenkzeit erbeten.
»Ich glaube, ich muss erst mein Versprechen an Wilhelm einlösen, ehe ich entscheiden kann, was ich machen will«, sagte sie zu Ben, dem sie irgendwann während des Winters von der goldenen Libelle erzählt hatte.
»Das verstehe ich gut«, sagte Ben. »Von mir aus hat es Zeit. Das mit der Teilhabe war ja nur so ein Gedanke. Es besteht keine Eile.«
»Danke, Ben.«
Die Bäume waren bereits dicht belaubt und dunkelgrün. In den Kähnen drängten sich die Gäste, und es flogen bereits wieder alle Arten von Sommerlibellen. Die goldene Libelle aber lag in der Schublade und lastete auf Junas Gewissen.
Doch da war immer noch die Angelegenheit, die sie erledigen musste, bevor sie sich auf den Weg nach Hiddensee machen konnte.
Anfang Juli schließlich stand Juna mit gepacktem Rucksack in der Tür, als sie noch einmal umkehrte.
Sie hatte die Libelle nicht mitnehmen wollen, schließlich durfte sie diese nicht verlieren, bevor sie Wilhelms Auftrag ausgeführt hatte. Doch irgendetwas zwang sie dazu, noch einmal ins Haus zurückzugehen, das Versteck zu öffnen, in dem sie ihren wenigen Schmuck und wichtige Papiere aufbewahrte, und die Libelle herauszunehmen. Sie wickelte den Anhänger in Seidenpapier und steckte ihn in ihre Tasche. Sie konnte sich den starken Impuls nicht erklären. Vielleicht hatte Wilhelm etwas damit zu tun.
Ben hatte einen Hausschlüssel und würde nach dem Rechten sehen. Mit einem traurigen Lächeln fuhr sie zärtlich über den Rucksack, bevor sie ihn schulterte und sich auf den Weg zu dem Bus machte, der sie zum Bahnhof bringen würde.
»Warte!« Ben kam eilig ums Haus gelaufen. »Ich wollte dir doch noch Glück wünschen.« Er legte ihr beide Hände auf die Schultern und sah sie ernst an. »Pass auf dich auf. Du schaffst das! Ganz sicher. Ich bin in Gedanken bei dir.«
»Ich weiß.« Juna schluckte. »Danke, Ben. Es tut gut, dass du es mir zutraust.«
»Der Nyks wäre auf deiner Seite«, sagte Ben. »Er ist stolz auf dich.«
»Das würde vermutlich sogar mein Vater gut finden«, sagte Juna. »Aber ich werde ihn nicht fragen.«
»Keine Sorge. Ich verrate ihnen nicht, wo du bist.«
Sie würde sehr lange unterwegs sein, aber das war ihr gerade recht. Sie musste Mut sammeln, sich gedanklich darauf einstellen, dass sie nun tatsächlich in die Tat umsetzte, was sie seit Jahren vor sich herschob. In Calau musste sie umsteigen, dann in Leipzig, viel später in München. Von Bahnhof zu Bahnhof erschien es ihr seltsamer, dass sie unterwegs war. Die ganze Landschaft kam ihr unbekannt vor. Die Städte, die vorbeiflogen, die Namen auf den Bahnhöfen, die vielen Menschen, die ein- und ausstiegen, die Felder und Wälder und Häuser. So lange hatte sie sich im Spreewald eingeigelt, dass ihr alles fremd geworden war. Sie war froh, dass sie in der Bahn saß und der Zug die Verantwortung für sie übernahm. Sie hatte das unsinnige Gefühl, sie würde wie ein Blinder umhertasten müssen, wenn sie ausstieg.
Aber irgendwann war sie in Salzburg. Und von Salzburg war es nicht mehr weit nach Werfenweng.
Die Berge wirkten noch gewaltiger als in ihrer Erinnerung, die sie so lange verdrängt hatte. Schmerzlich schön glühten die Felsen rot im Abendlicht, als wollten sie es Juna besonders schwermachen. Als sie schließlich ankam, war es schon dunkel und Juna so erschöpft, dass sie die freundliche Begrüßung der Wirtin mechanisch erwiderte, in ihrem kleinen Zimmer mit dem Balkon nur ihren Schlafanzug aus dem Rucksack zerrte und ins Bett fiel. Sie war so lange Zug gefahren, dass das Rattern nicht aufzuhören schien. Ihr Rücken schmerzte, und es dauerte dann doch, bis sie einschlief. Ihr letzter Gedanke war, dass sie ihr Vorhaben nicht gleich morgen in Angriff nehmen würde. Sie musste ja sowieso erst einen Termin machen. Und ankommen. Zu sich kommen. Mut sammeln.
Sie fühlte sich nicht mutig. Im Halbschlaf griff sie nach der Libelle auf ihrem Nachttisch und schloss ihre Hand darum. Das schwere Metall lag seltsam tröstlich darin. Als sie später träumte, war es kein Angsttraum, sondern vom Flug einer Libelle, deren Flügel in der Morgensonne glänzten wie Gold.
Leider löste sich der Traum schließlich in einem sonnigen Morgen auf, und als Juna die Augen öffnete, sah sie als Erstes die felsigen Gipfel vor ihrem Fenster. Diesmal nicht rötlich wie am Vorabend, sondern beinahe silbern an diesem hellen, neuen Sommertag. Ganz oben glitzerten Schneefelder. Wolken lagen wie Kragen um die steinernen Nadeln, die in den Himmel zeigten.
Die grünen Wiesen darunter riefen nach ihr, und doch hätte Juna sich am liebsten wieder umgedreht, in ihre Decke gewickelt und die Augen vor der Welt verschlossen. Langsam zog sie sich an und ging zum Frühstück hinunter. Der Almkäse schmeckte so unvergleichlich, wie sie ihn in Erinnerung hatte, und doch brachte sie nur wenig herunter.
»Mit der frischen Luft kommt der Appetit rasch wieder«, versicherte ihr die Wirtin mit einem breiten Lächeln.
»Bestimmt. Danke.«
»Soll ich Ihnen einen schönen Wanderweg empfehlen?«
Juna hatte mit Absicht eine Pension gewählt, wo man sie nicht kannte. Erinnerungen und ein mitfühlendes Gespräch hätte sie jetzt nicht ertragen.
»Danke, ich kenne mich aus. Ich weiß schon, wo ich hinwill.«
Wollte sie wirklich? Nein, aber nun hatte sie es sich vorgenommen. Jetzt war sie hier, es gab kein Zurück.
Ihr Handy piepte. Eine Nachricht von Ben. »Du schaffst das!«
In den letzten fünf Jahren hatte sich nicht viel verändert. Hier war ein Haus gestrichen worden, dort eines hinzugekommen. Vielleicht gab es ein oder zwei Hotels mehr. Auch einen neuen Sessellift. Doch die steinernen Gesichter der Gipfel waren dieselben, die Silhouetten der Bergrücken, der Duft der Wiesen, die Geranien an den Balkons. Juna folgte dem vertrauten Weg, den sie noch niemals allein gegangen war. Einmal vermeinte sie, Schritte neben sich auf dem Kies knirschen zu hören, blickte unwillkürlich zur Seite und wies sich selbst still zurecht.
An dem Abzweig zur Flugschule blieb sie stehen, zögerte, dann ging sie stattdessen geradeaus. Es war noch zeitig am Morgen. Sebastian würde zu Hause sein. Vielleicht. Früher jedenfalls hatte er gern die Nachmittagsdienste übernommen, damit er sich vormittags um das Vieh auf seinem Hof kümmern konnte.
Juna setzte einen Schritt vor den anderen. Die Anstrengung, bergauf zu laufen, hatte ihr schon immer gutgetan. So entstand ein Rhythmus beim Laufen, der anders war, als wenn man geradeaus ging. Es forderte eine andere Kraft und Konzentration, fegte alle Gedanken aus dem Kopf und machte ihn rein und leer und offen für die Eindrücke ringsumher, die den Himmel so nahebrachten. Ihr Blick kletterte schneller als ihre Füße, ging hoch zu den letzten Bäumen und den Felsen und noch weiter.
Dann sah sie den ersten Gleitschirm. Knallrot war er, und der Mensch, der unten daran hing und ihn führte, so winzig, dass Juna ihn nur als einen Punkt erkennen konnte. Gemächlich schraubte er sich mit der Thermik in die Höhe, die an der warmen Felswand aufstieg. Daneben tauchte jetzt ein weiterer auf, grün und gelb diesmal.
So leuchtend wie die Farben vor dem blauen Himmel schoss der Nachklang eines langverlorenen Glücksgefühls an die Oberfläche ihrer Erinnerungen. Hier hatte sie ihren ersten Tandemflug gemacht. Den würde sie niemals vergessen. Sie war geflogen wie Ikarus, den sie sich in Kindertagen vorgestellt hatte, und die Sonne schien zum Greifen nahe. Geflogen, langsamer als die Libellen, aber doch im selben Himmel und in demselben Licht. Sie hatte sich so leicht wie diese gefühlt und enger verwandt mit ihnen als je zuvor. Doch was später geschehen war, hatte das Licht verlöschen lassen. Das Gefühl war nie wieder greifbar geworden, der Gedanke daran nur von Entsetzen begleitet.
Doch tief in ihr war die Sehnsucht danach geblieben. Trotz allem.
Sebastians Hof hatte sich nicht verändert. Juna wagte sich durch das offene Tor, hörte eine Ziege meckern und ein Schaf blöken. Dann sah sie ihn. Er kam gerade aus dem Hühnerstall, einen Korb in der Hand. Älter war er geworden, der Bart länger, doch sie erkannte ihn und seine Frau Erica, die ihm mit einem Eimer Futter folgte, sofort.
»Guten Tag, was kann ich für Sie …«, begann diese, doch dann blieben beide stehen. »Juna!«
Juna trat einen Schritt näher. »Hallo, Erica. Sebastian.«
Sebastian zögerte, dann nahm er sie herzlich in die Arme. Erica drückte Juna noch länger, und Juna, die sich seltsam gelähmt fühlte, sah Tränen in den Augen der anderen. »Wie schön, dich zu sehen«, sagte Erica. »Wir haben dir geschrieben, aber …«
»Ich habe nicht geantwortet. Ich weiß. Ich konnte nicht. Es tut mir leid.« Juna blickte zu Boden. Sebastian legte ihr einen Arm um die Schulter. »Komm. Setzen wir uns.«
»Ich mach Kaffee.« Erica verschwand in der Küche. Sebastian schob Juna sanft auf eine Holzbank. »Wie geht es dir?«
»Gut. Meistens. Inzwischen.«
»Manchmal kann ich es immer noch nicht glauben, dass er nicht mehr da ist.« Sebastian klemmte seine großen Hände zwischen die Knie. »Manchmal denke ich, er muss doch gleich landen, mit den anderen zusammen, die ich täglich herunterkommen sehe. Und dann wieder erscheint es mir wie gestern, dass er … Ich weiß noch genau, dieser verfluchte Tag. Und wie ich dich anrufen musste. Ich verstehe bis heute nicht, warum er nicht von der Flugschule aus gestartet ist wie sonst. Warum er allein auf jenem Hang unterwegs war, von dem noch nie einer gestartet ist. Ich verstehe das alles nicht. Eine Woche zuvor waren wir alle noch so glücklich.«
»Ja«, sagte Juna leise. »Das waren wir.« Das schien eine endlose Ewigkeit her, ein halbes Leben, auf jeden Fall länger als fünf Jahre. Und gleichzeitig war es, wie Sebastian gesagt hatte: wie gestern. Besonders jetzt, da sie hier saß und den Bergen ins Gesicht sah. Für sie hatten die Berge immer Gesichter gehabt. Die grauen Felsen da oben, hier ein Vorsprung wie eine Nase, dort Risse wie Augenbrauen. Wenn die Sonne nur ein klein wenig wanderte und der Schattenwurf sich änderte, wechselten sie den Ausdruck. Juna hatte ständig davon geträumt, in den Tagen nach Sebastians Anruf damals, und die Gesichter hatten plötzlich alle höhnisch geblickt. Hatten alle Menschen ausgelacht, die so winzig und verletzlich waren und es trotzdem wagten, sich an dünnem Stoff über die gewaltigen Gipfel zu erheben, denen Zeit nichts bedeutete und der Mensch schon gar nicht.
»Ich bin so froh, dich zu sehen«, sagte Erica, als sie wieder herauskam und den Kaffee auf den Tisch stellte. Dankbar trank Juna einen Schluck. Trotz der warmen Sonne war ihr kalt. Der heiße Kaffee löste ihre innerliche Erstarrung ein wenig.
»Wir haben uns lange Sorgen um dich gemacht, und dann einfach gehofft, dass du irgendwann einmal hier auftauchst.«
»Tut mir leid«, wiederholte Juna.
»Dir muss nichts leidtun«, versicherte Sebastian. »Wir verstehen das. Er war nicht der erste Freund und nicht der letzte, den wir verloren haben. Oft frage ich mich auch, ob es das wert ist. Aber immer, wenn ich oben bin, sehe ich es wieder anders. Mein Gott, es gibt so viel weniger Unfälle beim Fliegen als im Straßenverkehr!«
»Hast du einen Termin für mich frei? Vielleicht morgen?«, fragte Juna mit allem Mut, den sie aufbringen konnte.
Sebastian sah sie überrascht an. »Du willst mit mir fliegen?«
»Ich muss es! Noch einmal. Ich muss einfach.«
Du schaffst das. Diesmal war es keine Nachricht von Ben. Diesmal war es seine Stimme. Ganz tief in ihr, oder kam sie von woanders? Ein Echo, über Jahre umhergeirrt in den felsigen Wänden?
Die Berge schwiegen.
»Aber, Juna …«, begann Erica und brach dann ab. »Doch. Ich kann es verstehen.«
»Ich auch. Natürlich, Juna. Heute, morgen, übermorgen. Wann immer du bereit bist! Ich sage jedem anderen Flugschüler dafür ab.« Sebastian zog einen Kalender aus seiner Hosentasche. »Das Wetter scheint diese Woche über gut zu bleiben.«
Du findest mich unter den Wolken. Genau an der Stelle, an der du sie gerade berührst. Immer. Dort werde ich immer sein.
Das hatte er einmal zu ihr gesagt, kurz nach einem Flug.
Adrian.
Er war nie Tandem mit ihr geflogen. »Das ist wie eine Operation. Der Chirurg darf keine Familienangehörigen operieren«, hatte er erklärt. »Ich wäre zu abgelenkt. Ich kann die Verantwortung für dich nicht übernehmen. Ich liebe dich zu sehr und würde einen Fehler machen.«
Also war sie mit Sebastian zusammen geflogen. Sebastian war einmal Adrians eigener Fluglehrer gewesen. Bei ihm hatte er den Schein gemacht. So wichtig war Juna das Fliegen nicht, dass sie auch den Schein machen wollte. Ein gelegentlicher Tandemflug genügte ihr. Sie hatte es ja nur auf Adrians Drängen hin ausprobiert. Wegen ihres alten Traumes und um Adrian besser zu verstehen.
Also flog sie Tandem, und Adrian flog allein. Sie waren stets kurz nacheinander gelandet, hatten jedes Mal wieder die Euphorie in den Augen des anderen gesehen, sich geküsst und gar nicht gewusst, ob sie wirklich schon auf dem Boden waren.
Immer wieder, Jahr für Jahr, waren sie hierhergekommen. Manchmal waren sie auch an anderen Orten geflogen, aber hier war es am besten.
Du findest mich unter den Wolken.
»Morgen. Heute noch nicht, aber morgen«, sagte Juna entschlossen.
»Gut, dann trage ich dich für zehn Uhr ein, in Ordnung?«
»Danke, Sebastian.« Juna stand auf. »Dann sehen wir uns morgen um zehn in der Flugschule.«
»Willst du nicht noch bleiben?«, fragte Erica. »Du kannst mit uns zu Mittag essen.«
Juna schüttelte den Kopf. »Danke, Erica. Aber es gibt einen Spaziergang, den ich machen möchte.«
In der Pension bat sie die Wirtin um ein Lunchpaket und machte sich auf den Weg, den sie so oft mit Adrian gegangen war, wenn sie den Flug hinter sich hatten. Sie waren dann noch so voller Adrenalin vom Flugerlebnis, dass der Weg sich nicht anfühlte wie aus Erde und Steinen. Sie gingen wie auf Wolken.
Oben ahnte man noch einen letzten Hauch von Frühling. Je höher sie stieg, desto frischer und hellgrüner wurde das Gras. Der Hang war ein bunter Teppich aus Bergwiesenblumen. Juna fand tatsächlich die geschützte Ecke wieder, an die sie sich erinnerte, eine Nische in einer Felsengruppe, und darin mehr blühende Kräuter als sonst irgendwo am gesamten Berg. Sie ließ sich rücklings ins Gras sinken. Es duftete nach Thymian, Kamille und Klee. Sonnenlicht fing sich in einer Pusteblume. Noch während Juna sie betrachtete, fegte ein Windstoß um den Felsen und trug die Samen ins Tal. Juna schloss die Augen und atmete tief ein. Der Duft von Klee und der Glanz auf der Pusteblume trugen sie zurück in einen anderen Frühling, an einem anderen Ort. Vielleicht hatte sie Adrian schon beinahe wiedergefunden, obwohl sie die Wolken noch gar nicht berührt hatte. Er lag doch neben ihr! Sie konnte seine Wärme spüren. Er war hier, ganz bestimmt, so wie er immer bei ihr gewesen war, seit …