Linnea war so nervös, dass sie sich nicht entscheiden konnte, welches ihrer unzähligen Haargummis für diesen wichtigen Tag geeignet war. Schließlich entschied sie sich für ein schlichtes schwarzes mit grünen dünnen Streifen. Schwarz für die Professionalität, grün für die Hoffnung.
Was würde sie nur machen, wenn ihr erster Beitrag als MoJo nicht genommen wurde? Weitermachen wie bisher, also heute mit irgendeinem Kameramann arbeiten und morgen mit einem anderen, die alle nicht verstanden, was sie meinte? Oder sollte sie versuchen, bei einem anderen Sender unterzukommen? Sie hatte schon großes Glück gehabt, dass man ihr hier eine Chance geboten hatte. Es war unwahrscheinlich, dass so etwas noch einmal passierte, auch wenn sie jetzt mehr Berufserfahrung nachweisen konnte.
Sie vertrödelte so viel Zeit mit ihren Überlegungen, dass sie sich beinahe verspätete. Hastig zog sie eine Jacke über und warf noch einen letzten Blick auf das Titelbild einer Zeitschrift, das sie sich vor einiger Zeit eingerahmt über ihren Schreibtisch gehängt hatte. Mervins Garten stand da, und darunter war ein Ausschnitt von feinen Intarsien in gealtertem Holz zu sehen. Eine Darstellung zweier Libellen, die auf einem Schilfblatt saßen. Linnea konnte sich nie daran sattsehen. Das Bild strahlte eine solche Heiterkeit, Leichtigkeit und Ruhe aus, eine zeitlose Perfektion. Erstens waren es die so meisterhaft abgebildeten Geschöpfe selbst, die sie faszinierten. Als Kind in der Heide hatte sie oft Libellen gesehen und gern beobachtet. Sie hießen sogar Heidelibellen, mit einem roten Körper, der in der Sonne leuchtete. Seit Linnea von zu Hause fort war, hatte sie nur noch sehr selten eine Libelle zu Gesicht bekommen.
Das zweite, was sie an dem Bild faszinierte, war die feine Arbeit des Tischlers oder vielmehr Künstlers. Genauso berührend wollte auch sie eines Tages arbeiten können, nur eben mit ihren Beiträgen, mit Worten und bewegten Bildern. Genau so sollten die Details stimmen und sich zu einer Form zusammenfügen, die so perfekt war, die leicht wirkte und schlicht und dennoch eine solche Aussagekraft hatte.
Diese Libellen waren ihr Vorbild, und auch derjenige, der ihr Abbild im Holz auf diese Art geschaffen hatte. Und nicht nur das. Die noch relativ junge Zeitschrift Mervins Garten war Linnea ebenso ein Ansporn. Seit ihr ein Exemplar in die Hände gefallen war, hatte sie keine einzige Ausgabe versäumt. Eine junge Journalistin namens Remona Kreyhenibbe hatte das Blatt gegründet, mit wenig Berufserfahrung, einfach nur, weil sie es sich in den Kopf gesetzt hatte. Aus purer Überzeugung. Die Zeitschrift fand nun immer mehr Leser, und nicht nur das …
Die alte Uhr im Flur schlug. Mats hatte sie ihr geschenkt, als sie sie auf dem Flohmarkt entdeckt hatten. Nun war Mats fort, aber die Uhr mahnte noch immer halbstündlich die Zeit an. Linnea sauste erschrocken die Treppe hinunter und erwischte gerade noch den Bus.
Siegfried sah sie über seine Brille hinweg an. »Setz dich, Linnea.«
Sie schob sich auf die Kante des Stuhls. Er klang so ernst! Aber dann lächelte er. »Nicht schlecht für den Anfang. Gar nicht schlecht! Ich habe dir einen Termin mit Fred gemacht. Der wird dir ein paar Tipps geben. Ihr könnt zusammen noch ein paar Stellen glattbügeln. Lerne von ihm!«
»Das heißt, ihr sendet den Beitrag nicht?« Linnea schluckte.
»Das habe ich nicht gesagt. Wenn ihr fertig seid, senden wir. Er gefällt mir sogar sehr gut. Das Thema ist tatsächlich brandaktuell! Vor allem der Pädagogikteil. Wenn du in dieser Richtung weiterarbeitest und deine Fähigkeiten nach und nach verbesserst, bin ich zuversichtlich, dass du das mit dem Mobilen Journalismus packst. Ich würde mich freuen.«
Am liebsten hätte sie ihn umarmt. Stattdessen nahm sie den Zettel mit dem Termin entgegen, den er über den Tisch schob. »Vielen Dank, Siegfried. Das bedeutet mir eine Menge.«
»Du wirst es ziemlich sicher noch bereuen. Wenn du nicht mehr im Team arbeitest und man nicht drei Personen koordinieren muss, kann ich dich viel einfacher hierhin und dorthin schicken, wie es mir gefällt. Du wirst dich noch wundern.« Aber er zwinkerte ihr zu.
In sich hinein jubelnd, verließ Linnea das Büro. Sie hatte es geschafft! Vorerst. Sicher war beim Fernsehen nichts, schon gar nicht für freie Mitarbeiter. Aber der Anfang war gemacht.
Drei Tage später war sie fix und fertig. Fred hatte sie gleich noch zu zwei weiteren Sitzungen zitiert. Es war, als ob er ihr alles beibringen wollte, was er über Schnitt wusste, bevor er aufhörte. Das in die moderne mobile Technik zu übertragen, war nicht einfach. Aber Linnea wusste, dass seine Ratschläge Gold wert waren. Am Ende waren sie alle zufrieden, Siegfried, Fred, sie selbst und alle anderen in der Redaktion. Linnea musste zugeben, dass ihr Beitrag durch den kundigen Schliff und kluge Kürzungen wesentlich besser geworden war und dass sie jetzt genauer wusste, worauf es ankam.
Ihre neue Karriere konnte beginnen. Jetzt hing alles nur noch von ihr selbst ab.
Mit der großen Freiheit war es erst mal nicht so weit her. Sie war zwar nicht mehr von Mats und Caro oder deren Vertretern abhängig, aber Siegfried bat sie gleich mehrfach nacheinander um Beiträge, die sonst niemand machen wollte. Etwas mit Kriminalität im Park, dem Test eines neuen Autos und Beschwerden über einen fehlenden Zebrastreifen.
Sie wollte nicht ablehnen, schließlich war es eine gute Gelegenheit, ihre Fähigkeiten zu trainieren.
Drei Wochen später klingelte ihr Handy, als der Wind gerade im Begriff war, die Wäsche vom Balkon zu wehen, die sie dort aufgehängt hatte.
»Mist!«, schimpfte sie.
»Linnea?«, fragte eine Stimme am anderen Ende, die ihr nur vage bekannt vorkam. »Sind Sie das?«
»Entschuldigung. Ja, am Apparat.«
»Linnea, Sie werden es nicht glauben, aber die Jury hat sich für meinen Entwurf entschieden! Ich glaube, das habe ich Ihnen zu verdanken!«
Gregor Cammeyer! Der Architekt!
»Wirklich? Oh, ganz herzlichen Glückwunsch! Aber das liegt wohl kaum an meinem Beitrag. Ihre Idee hat die Jury überzeugt.«
»Ach was. Eine gute Idee allein genügt nie. Ob absichtlich oder nicht, Sie haben mit Ihren Worten und Bildern in der Öffentlichkeit die richtigen Knöpfe gedrückt. Linnea, Sie glauben gar nicht, wie glücklich ich bin! Bitte, ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Meine Familie veranstaltet heute Nachmittag eine kleine Feier mit Freunden. Würden Sie kommen?«
Linnea sagte zu, notierte die Adresse, sammelte ihre Wäsche auf und begriff erst allmählich, was gerade passiert war. Zum ersten Mal hatte sie mit einem eigenen Beitrag wirklich etwas bewegt. Die Freude kroch langsam in ihr hoch. Das war es doch, was sie gewollt hatte! Sie war auf dem richtigen Weg.
Das Gefühl, dass in ein paar Jahren Schulkinder in einer begrünten Schule lernen würden, in der sie täglich mit Pflanzen umgehen konnten, und dass Linnea ein klein wenig dabei mitgeholfen hatte – das war ein bisschen wie ein Sonnenaufgang am Strand.
Als sie den Garten der Cammeyers betrat, wusste sie, woher Gregor seine Freude an Pflanzen hatte. Selbst jetzt, Ende November, blühten noch Dahlien und Schmuckkörbchen, Astern und Eisenhut, sogar ein paar Löwenmäulchen. Es hatte noch keinen Nachtfrost gegeben. An den Zäunen hingen gestreifte und gefleckte Zierkürbisse in Gelb, Grün und Orange. Eine Horde Kinder bewarf sich kichernd mit Laub. Gregor stand an einem rauchenden Grill, und es roch nach Schaschlikspießen, Punsch und Maronen.
»Linnea! Wie schön, dass Sie gekommen sind. Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen? Das ist Nathalie.«
Nathalie hatte ein so strahlendes Lächeln, dass Linnea ganz warm ums Herz wurde. Die Kinder verwickelten sie in ein Ballspiel, die anderen Gäste stellten interessierte Fragen über ihre Tätigkeit, und es wurde so viel gelacht, dass sie jetzt erst merkte, wie sehr ihr das gefehlt hatte. Am Ende des Abends duzte sie sich nicht nur mit Gregor und Nathalie, sie hatten auch einen Termin für morgen ausgemacht. Gregor wollte etwas mit ihr besprechen.
Am nächsten Tag regnete es. Linnea saß mit Gregor und Nathalie vor einem prasselnden Kaminfeuer, kraulte die Katze und hörte sich erstaunt seinen Vorschlag an.
»Ich dachte, wir könnten vielleicht längerfristig zusammenarbeiten«, sagte er. »Diese Sache mit der Fassadenbegrünung wird immer wichtiger für das Stadtklima. Eine bewachsene Fassade macht eine Menge aus! Du ahnst nicht, wie viel. Sie isoliert nicht nur die Hauswand, hält im Sommer kühl und im Winter warm und spart dadurch Öl, Gas oder Kohle. Sie verbessert auch das Mikroklima und bindet Feinstaub. Die Pflanzen schützen zudem die Fassaden vor direkter UV-Einstrahlung, Schlagregen und Schmutzablagerungen. Bei alter Bausubstanz wird das Erdreich durch den Wasserentzug der Pflanzen trocken gehalten.« Er gestikulierte zur Begleitung seiner Erläuterungen wie ein Dirigent. »Das alles sollte die Bauherren interessieren. Und für die Menschen, die darin wohnen, müsste außer der Senkung der Heizkosten interessant sein, dass das Grün ein wunderbarer Lärmschutz ist und das Lebensgefühl hebt, besonders wenn es blüht. Außerdem schafft das zusätzlichen Lebensraum für Insekten und Vögel, was bitter nötig ist!« Gregor hatte sich zunehmend in Feuer geredet. »In Asien wird das bereits mit Riesenerfolg in vielen Wohn- und Bürogebäuden praktiziert. Bei uns kann sich leider kaum jemand dazu entschließen.«
»Beruhige dich, Gregor. Deshalb hast du ja Linnea eingeladen«. Nathalie zwinkerte Linnea zu.
»Genau. Hier kommst du ins Spiel, Linnea. Ich dachte, du könntest das Thema vielleicht mehr ins öffentliche Interesse rücken. Vielleicht können wir dafür sorgen, dass der Ruf nach Fassadenbegrünung in der Bevölkerung entsteht und die Politiker gezwungen werden, zuzuhören.«
»Das Interesse an so etwas ist leider normalerweise sehr gering«, gab Linnea zu bedenken. »Es war eben ein hochdotierter Wettbewerb. Das Gebäude wird an einem Platz stehen, der vielen wichtig ist. Das hat schon ein paar Leute neugierig gemacht. Aber viele leugnen den Klimawandel oder interessieren sich zumindest nicht dafür. Sie haben ganz andere Probleme. Zu hohe Mieten, zu wenig Wohnraum. Sie möchten lieber einfach mehr bezahlbare Wohnungen gebaut haben, als dass man sich mit Raum für Grün befasst. Ist ja auch verständlich.«
»Ich weiß. Aber wir müssen gar nicht so weit denken. Man muss nicht an den Klimawandel glauben, um zu merken, dass es im Sommer in der Stadt einfach zu heiß ist. Da spielt es keine Rolle, ob das vor fünfzig oder hundert Jahren auch schon so war oder nicht. Wer in einer Mietwohnung bei beinahe vierzig Grad sitzt, der hätte auch nichts dagegen, wenn die bewachsene Fassade seine Wohnung ein paar Grad kühler halten würde. Meinst du nicht, du könntest das den Zuschauern näherbringen? Einen Versuch wäre es doch wert.«
»Sicher«, sagte Linnea. »Mich musst du nicht überzeugen. Ich würde das riesig gern machen. Aber ich weiß nicht, ob der Sender das auch so sieht.«