Eine Idee

»Wie lange muss ich noch bleiben?«, fragte Juna die Ärztin.

Die leuchtete ihr stirnrunzelnd mit einer Taschenlampe in die Augen. »Wissen Sie, dass Sie das jetzt schon zum dritten Mal fragen?«

»Nein. Verzeihung.«

»Wir machen zur Sicherheit noch ein CT. Ich glaube, die Gehirnerschütterung war schwerer, als ich dachte. Ich möchte sichergehen, dass es keine Einblutung gibt«, sagte die Ärztin zu der Schwester.

Das CT ergab jedoch zum Glück nichts. »Wir müssten eigentlich mit der Frühmobilisation Ihres Beines beginnen. Sie sollten so bald wie möglich aufstehen. Aber unter den Umständen bleiben Sie besser noch zwei Tage liegen. Sie bekommen leichte Krankengymnastik im Bett«, beschloss die Ärztin.

Sie ging zu dem anderen Bett hinüber. »Das hier ist mein Sorgenkinderzimmer«, sagte sie zur Schwester. »Frau Joneleit, warum essen Sie nichts?«

»Habe ich doch. Gerade einen ganzen Apfel.«

»Das war aber auch schon alles. So geht das nicht. Sie haben ernsthaft Untergewicht. Wenn Sie Ihre Gehirnerschütterung und das Schleudertrauma überwunden haben und Ihre Prellungen zurückgegangen sind, würden wir Sie gern zu einer Kur schicken. Ich halte das für dringend angezeigt.«

»Na, darüber reden wir noch mal. Bitte essen Sie Ihre nächste Mahlzeit auf.«

 

Als die Ärztin gegangen war, sah Juna zu dem anderen Bett hinüber. Linnea lag da und starrte an die Decke.

»Linnea? Wollen wir nicht du sagen?«, erkundigte sich Juna vorsichtig. »Ich glaube, du bist kaum älter als mein Sohn. Außerdem ist mir zu schwindelig, um jemanden zu siezen.«

Sie wurde mit dem Hauch eines Lächelns belohnt. »Kein Problem. Beim Fernsehen duzen wir uns alle. Das bin ich gewöhnt.«

»Du bist beim Fernsehen?«

»Ja. Das heißt, als freie Mitarbeiterin. Aber sicher nicht mehr lange. Ich mache alles falsch.«

Juna richtete sich unbedacht auf und hielt rasch die Luft an, bis der plötzliche Schwindel nachließ. »Niemand macht alles falsch!«, sagte sie heftig. Allzu gut konnte sie sich an dieses Gefühl erinnern, als sie nur wenig jünger gewesen war als Linnea, und ihr Vater genau das immer wieder verkündet hatte. »Du machst alles falsch, Juna. Du musst mehr unter die Leute. Mal Party machen. Was sollen die Menschen denken, wenn du so verschlossen bist und den Mund nicht aufkriegst? Sei doch nicht so maulfaul.«

Das war, bevor sie Adrian kennenlernte. Und in ihrer ganzen Schulzeit war es auch nicht anders gewesen. Lange her, aber Juna hatte es nicht vergessen. »Lass dir das bloß nicht einreden!«

Linnea setzte sich nun auch auf und betrachtete Juna erstaunt, weil diese so heftig reagiert hatte. »Das hat mir niemand

»Das klingt, als ob du ganz normale Erfahrungen gemacht hast. Man probiert etwas aus, und dass nicht immer alles klappt, ist doch unvermeidlich. Besonders, wenn man sich zu viel vornimmt. Möchtest du mir davon erzählen? Reden hilft ja angeblich.« Juna schnitt eine Grimasse. »Das hat man mir jedenfalls immer gepredigt. Ich bin selbst nicht gut darin. Aber wenn du möchtest, können wir morgen darüber sprechen.«

»Klingt gut«, sagte Linnea. »Im Augenblick bin ich immer noch so schläfrig.«

»Geht mir genauso. Dann morgen.« Tatsächlich war Juna froh darüber. Sie war selbst ein wenig erschöpft davon, so offen auf die junge Frau zuzugehen. Sie hatte sich selbst überrascht. Aber irgendetwas an Linnea sprach sie an und weckte ihren Beschützerinstinkt. Neugierig war sie auch. Linnea und Fernsehen, das schien so gar nicht zusammenzupassen.

 

In den nächsten Tagen, während es ihnen beiden allmählich besser ging, lockte Juna Linneas Geschichte Stück für Stück aus ihr hinaus. Da sie beide nicht in Österreich zu Hause waren, bekamen sie auch beide bis auf eilige Stippvisiten von Sebastian keinen Besuch und hatten jede Menge Zeit, sich zu unterhalten.

Juna hatte Ben eine Nachricht geschrieben, sobald die Buchstaben nicht mehr vor ihren Augen verschwammen. Zutiefst erschrocken hat er gefragt, ob er kommen sollte, aber Juna wusste, dass er im Spreewald nicht wegkonnte. Sein Betrieb

Linnea erzählte, wie sie arbeitete, seit Mats gegangen war und Caro aufgehört hatte.

»Und es ist wirklich technisch möglich, Fernsehbeiträge in Sendequalität nur mit dem Handy herzustellen?«, fragte Juna fasziniert. »Das kann ich mir nur schwer vorstellen. Ich kann ein paar Fotos machen und Nachrichten schreiben, aber das war es dann auch.«

»Ich zeig es dir mal. Das geht wirklich einfach«, versicherte Linnea. »Technisch bin ich richtig gut geworden. Aber …«

»Aber was? Warum bist du so unzufrieden? Und so traurig?«, fragte Juna sanft.

»Die Tiefe geht verloren. Die inhaltliche Tiefe. Früher war ich gut bei Interviews. Die anderen haben sich um die Technik gekümmert, und ich konnte auf das achten, was man nicht gleich sieht. Ich habe Leute dazu gebracht, Dinge zu erzählen, die ihnen gar nicht bewusst waren oder die sie sonst niemandem verraten hätten. So, wie du es gerade mit mir machst. Ich habe jetzt aber immerzu Angst, das Wichtigste zu übersehen und den Sinn zu verpassen. Das ist doch kein guter Journalismus.« Linnea knüllte Falten in ihre Bettdecke. »Je mehr ich mich anstrenge, desto mehr habe ich das Gefühl, es nützt alles überhaupt nichts. Wenn ich sehe, wie eine Planierraupe in einem Garten die Erde aufreißt, wie später Beton hineingefüllt wird und Mauern gebaut werden, so eng und so hoch, dass man den Himmel nicht mehr sieht, dann macht es mich traurig und ärgerlich und tut mir geradezu körperlich weh. Ich könnte die ganze Zeit heulen. Das passt überhaupt nicht zu mir!« Linnea

»Du bist überreizt«, stellte Linnea fest. »Überreizt und erschöpft, genau wie die Ärzte gesagt haben.«

»Mag sein. Und was soll ich jetzt machen?«

»Dir Zeit geben! Herausfinden, was du wirklich willst. Ich kann dich sehr gut verstehen. Ich fühle mich in der Stadt überhaupt nicht mehr wohl, obwohl ich da früher gerne gearbeitet habe, als ich noch den Sportladen hatte. Vor allem aber musst du dich erst mal um dich selbst kümmern und zur Ruhe kommen. Vielleicht ist die vorgeschlagene Kur eine gute Idee.«

»Bloß nicht! Da sitze ich mit lauter Fremden und alten Leuten in irgendeinem Klinikpark zwischen Begonien und Papierkörben und muss zuhören, wie sich andere Patienten über das schlechte Essen beschweren. Das bringt mich bestimmt nicht weiter. Ganz im Gegenteil.«

Juna musste lachen. »Das klingt wirklich nicht verlockend.«

Es klopfte an der Tür. Die Krankengymnastin kam, die Junas Bein bewegen sollte. Um sich von den Schmerzen abzulenken, die sich trotz der Behutsamkeit der Therapeutin nicht vermeiden ließen, dachte Juna über Linneas Problem nach.

 

Zwei Tage später schrieb ihr Ben eine Nachricht. Juna, wenn du wirklich in die Reha musst, bist du ja noch einige Zeit fort. Was hältst du davon, wenn wir jemanden einstellen, der sich so lange um deinen Garten und dein Haus kümmert? Ich könnte unter meinen Gästen herumfragen, ob vielleicht jemand für Kost und Logis länger im Spreewald bleiben möchte und dafür das Gießen übernimmt und was sonst noch so anfällt. Im Augenblick schaffe ich es gerade so, aber wegen der

Das war doch die Idee! Juna schob die Reste ihres Essens beiseite. Sie konnte Linnea verstehen. Der schleimige Kartoffelbrei und die künstliche Götterspeise waren wirklich nicht appetitanregend. Sie wünschte, es gäbe Oma Gertis Gurken hier. Oder den Spreewaldhecht aus Bens Restaurant.

Ob sie Linnea vertrauen konnte? Es war Juna immer schwergefallen, anderen Menschen zu vertrauen. Über Linnea wusste sie fast gar nichts. Doch von irgendeinem unter Bens Gästen würde sie noch weniger wissen, obwohl sie seiner Menschenkenntnis eine Menge zutraute.

Würde sie es fertigbringen, eine Fremde in ihr Heim zu lassen, ihr den Schlüssel und den Garten anzuvertrauen?

 

Der Nyks würde es tun. Er hatte immer allen eine Chance gegeben, war vertrauensvoll auf jeden zugegangen. Er wurzelte so tief in seinem Land, dass er vor nichts Angst hatte.

Juna dachte an die Witwenblume, die nach einer zögerlichen Phase, in der sie die ersten Wurzeln ausstreckte, angefangen hatte zu wachsen und zu blühen und jetzt zu jenen Pflanzen gehörte, die auf ihrem Grundstück am allerbesten gediehen. Sie dachte daran, wie sie damals im Gartencenter davorgestanden und das Schild gelesen hatte. Schädlingsresistent, widerstandsfähig, gedeiht auf den meisten Böden gut. Verträgt sich mit zahlreichen anderen Arten.

Verträgt sich mit anderen. Na gut. Einen Versuch war die Sache mit Linnea wert.

Was spricht denn dagegen? Es bietet sich an und ist eine richtig gute Idee.

Ich könnte es Ben überlassen. Ich kenne Linnea ja kaum.

Warum sollte dein Instinkt schlechter sein als Bens? Das Leben ist immer ein Risiko. Was könnte denn im schlimmsten Fall passieren?

Sie könnte den Hausschlüssel verlieren. Den Herd anlassen. Den Garten nicht richtig gießen.

Ist das alles? Vielleicht vertrocknet irgendwo eine Pflanze, die sie übersieht. Vielleicht ist sie unzuverlässig. Aber glaubst du, dass sie die Pflanzen ausreißt? Dein Holz verkauft? Das bisschen Schmuck stiehlt, das in deiner Schublade liegt?

Nein. Unsinn.

Siehst du. Der Nyks würde nicht zögern. Wilhelm auch nicht.

Ich weiß.

Warum dann du?

Ich weiß nicht.

Doch. Sie wusste es. So oft hatte Adrian mit ihr den Nyks besucht. Dort hatten sie ungestörte Zeit miteinander verbracht. Juna hatte Angst um die Erinnerungen! Als ob eine Fremde, wenn sie dort wohnte, diese aus dem alten Blockhaus auf der Dolzke-Insel verscheuchen könnte. Die glücklichen Tage, die sie dort mit Adrian verbracht hatte. Jede kostbare Minute, die irgendwo in den alten Balken haftete, in der fruchtbaren Erde. Das Haus war der einzige Ort, der noch wirklich zu Junas Leben mit Adrian gehörte, seit sie das Geschäft aufgegeben hatte. Aber der Ort hatte so viel zu geben, auch anderen.

Es geht um mein Zuhause.

Pflanzen vermehren sich wieder.

Aber ich hänge an jeder einzelnen. Ich habe sie wachsen sehen.

Du musst lernen loszulassen, Juna.

Läuft denn alles darauf hinaus?

Ja. Irgendwann immer. Es macht auch frei.

Drüben wälzte sich Linnea unruhig in ihrem Bett.

Juna schluckte, räusperte sich.

»Linnea«, sagte sie, »vielleicht solltest du einmal aus der Stadt heraus und dich mit der Natur beschäftigen, deren Wert du den Menschen so gern vermitteln möchtest. Wenn du etwas mit Leidenschaft an andere vermitteln willst, musst du es gründlich kennen. Außerdem würde es dir die Gelegenheit geben, dich auszuruhen. Nicht in einer Kurklinik, sondern in einem richtigen Biotop. Was meinst du?«

»Das klingt nicht falsch. Aber wo sollte das sein? Ich hab kein Geld für ein Hotel in irgendeinem Naturschutzgebiet. Und außerdem muss ich bald wieder arbeiten.«

»Ich möchte dir gern erzählen, wo ich wohne.«

Juna sprach von dem ruhigen dunklen Strömen in den Fließen, von den Vögeln in der Dämmerung und dem Springen der Fische, vom verschlafenen Schnattern der Enten, von den Kähnen, die so lautlos über das Wasser glitten und von der Sumpfzypresse und den anderen Bäumen, die über dem Wasser grüne Tunnel bildeten. Von den Wiesen und den Gärten am Ufer und den Blockhäusern. Und natürlich von den Libellen.

Juna sah ein Foto von zarten Intarsien in Holz. »Das ist wunderschön. Ja, genau solche! Was ist das für ein Bild?«

»Das Titelblatt einer Zeitschrift. Mervins Garten. Kennst du sie nicht? Du musst unbedingt eine Ausgabe lesen! Das Titelbild ist von einem Schrank abfotografiert, den jemand mal geschreinert hat, der ein ähnliches Anliegen hatte wie ich. Er hat einen besonderen Garten gebaut, eine Zuflucht für Insekten. Das war noch in der DDR. Natürlich wurde der auch irgendwann plattgemacht. Aber es gibt Leute, die den Garten wieder aufgebaut haben. Das sind die, die diese Zeitschrift herausgeben. Sie sind so eine Art Vorbild für mich.«

»Das klingt wunderbar. Also, Linnea, hör mal! Was meinst du zu der folgenden Idee: Während ich einige Wochen in die Reha muss, brauche ich jemanden, der auf mein Haus aufpasst und meinen Garten versorgt. Wie wäre es, du würdest das machen? Du hättest dort Ruhe und könntest dich auskurieren und dabei so viele Libellen beobachten, wie du möchtest. Mir bedeutet mein Garten viel, und ich brauche jemanden, der gut für die Pflanzen sorgt. Du würdest umsonst dort wohnen, und ich zahle dir ein kleines Gehalt obendrauf. Dafür versprichst du mir, dass du vernünftig isst und vielleicht ein bisschen Sport treibst, gut zu meinen Pflanzen bist und dich ansonsten gründlich erholst.«

Juna dachte an den Nyks und wie er ihr eingeschärft hatte, die Sehne des Bogens immer auszuhaken, damit sich das Holz entspannen konnte. Linnea wirkte so angespannt wie ein Bogen, bei dem man das vergessen hatte.

»Du würdest mir wirklich dein Haus anvertrauen?« Linnea klang erstaunt. »Du kennst mich doch gar nicht.«

»Ja.« Juna war überrascht, wie fest ihre Stimme auf einmal klang. »Das würde ich. Außerdem lernen wir uns ja gerade kennen. Du hast mir ja schon einiges von dir erzählt.«

»Danke, Juna. Erzählst du mir noch ein bisschen von dort? Es klingt so schön. Beinahe wie eine Geschichte.«

Für Juna war es immer noch neu und anstrengend, so viel zu reden, aber sie erzählte von den Winterlibellen und der Blauflügelprachtjungfer und dem Libellenflugkalender. Bis sie sah, dass Linnea mit einem Lächeln in den Mundwinkeln eingeschlafen war.

 

Juna hätte auch gern geschlafen, aber sie war hellwach. Um ihre Gedanken zu ordnen, dachte sie wieder an das Bogenschießen. Sie stellte sich vor, sie stünde jetzt auf der weichen Erde im Garten, die Schultern gerade, den Kopf auch. Sich die Flugbahn vorstellen, das Ziel ins Auge fassen, erspüren. Loslassen, auch hier. Fliegen lassen. Auf einer geraden, sauberen Bahn.

Und sie selbst? In den nächsten Tagen würde sie wieder laufen lernen, gegen die Schmerzen kämpfen, die von Tag zu Tag besser wurden. Dann ein paar Wochen irgendwo verbringen, in einer Rehaklinik, unter Fremden an einem unbekannten Ort, ohne Verantwortung außer der, wieder beweglich zu werden. Und dann? Was war denn jetzt ihr Ziel?

Sie hatte den Gleitschirmflug so lange vor sich hergeschoben, weil er der endgültige Abschied von ihrem Leben mit

Du hast doch ein Ziel, Juna. Hiddensee!

Ja. Das Versprechen. Sie musste so schnell wie möglich gesund werden und es einlösen. Doch was kam danach?

Denk nicht so weit, Juna. Du wolltest immer nach Hiddensee. Hier geht es nicht nur um Wilhelm. Es tut mir leid, dass ich nie mehr mit dir auf die Insel zurückgekehrt bin. Jetzt bist du frei. Fahr hin. Ich schenke dir Hiddensee! Besuch den Leuchtturm! Er wird dir den Weg zeigen. Dafür sind Leuchttürme da. Du hast ein Ziel, Juna. Wie der Pfeil. Mach es wie der Pfeil!

»Juna?« Linnea war wieder wach. Mit großen Augen sah sie zu Juna herüber. »Ich habe von der Winterlibelle geträumt. Sie hatte gefrorene Flügel. Genauso fühle ich mich auch.«

»Manchmal haben die Libellen morgens Tautropfen auf den Flügeln. Dann können sie nicht fliegen, aber es sieht wunderschön aus. Sie trocknen in der Sonne, und dann fliegen sie, als wäre nichts gewesen«, sagte Juna. »Das kannst du auch. Du brauchst nur Zeit.«

»Juna? Ich weiß noch weniger über dich als du von mir. Bist du auch allein?«

»Ich bin Witwe.« Vielleicht half es ja, das Wort einfach auszusprechen. Vielleicht würde sie sich dann endlich daran gewöhnen, dachte Juna. Aber es tat so weh. Es war ein scheußlich

»Oh, das tut mir leid.« Linnea klang erschrocken.

»Es ist schon Jahre her.«

»Wie hältst du das aus – dass dein Partner einfach nicht mehr da ist?«

»Ich pflanze immer mehr Blumen in meinen Garten, obwohl er längst voll ist, und jede hilft ein klein wenig.«

»Ich finde es toll, wie du das schaffst«, sagte Linnea. »Nach der Trennung von Mats habe ich mich verrannt. Hab mir selbst leidgetan. Das trübt den Blick. Du bist stark.«

»Bin ich nicht. Ich habe mich jahrelang im Spreewald verkrochen und ewig gebraucht, bis ich mich endlich zu dieser Reise entschließen konnte.«

»Warum hast du sie gemacht?«

»Um loslassen zu können, und um wiederzufinden. Um einen Lebensabschnitt zu beenden und Mut für den neuen zu suchen.«

Juna erzählte, wie Adrian gestorben war, wie sie mit Sebastian noch einmal fliegen wollte und wie sie dann beim Wandern abgestürzt war. Sie erzählte nichts von der Trauer, von dem Schmerz, der trotz alledem auch jetzt noch unter ihrer Haut pochte wie ein zweites Herz und von dem sie wusste, dass er für immer bleiben würde. Doch jetzt war es in Ordnung, dass er blieb. Es war ein Teil von ihr geworden und bestimmt auch der Grund, dass Adrian ihr wieder nahe war und sie mit ihm sprechen konnte.

»Vielleicht musstest du stürzen«, sagte Linnea nachdenklich. »So ein Moment zwischen zwei Lebensabschnitten, so ein Wendepunkt, das ist doch wie ein Berggipfel, wo es auf der

Juna musste lachen. »Es wäre schon schön, wenn es ohne Gips gegangen wäre.«

»Na ja, vielleicht hättest du es nicht ganz so wörtlich nehmen müssen. Aber dass man bei so was ausrutscht und auf die Nase fällt, erscheint mir ziemlich plausibel. Ist mir ja auch gelungen.« Linnea schnitt eine Grimasse und tastete nach der Manschette um ihren Hals. »Hoffentlich werde ich dieses Ding bald los.«

»Hast du dir mein Angebot überlegt?« Auf einmal konnte Juna kaum erwarten, dass etwas geschah. Dass sie Lösungen fand und nach Hiddensee kam. Vielleicht war es leichter im Herbst als im Frühling. Mit Adrian war sie im Frühling dort gewesen. Der Herbst war anders. Und sie mochte den Herbst. Vielleicht war es für dieses Jahr doch noch nicht zu spät, wenn sie sich in der Reha anstrengte! Sie war mal sehr ehrgeizig gewesen, vor einer halben Ewigkeit. Das wollte sie wiederfinden, diese Fähigkeit, und auf ihre Beweglichkeit richten.

Ich kann immer noch kämpfen, Adrian.

Ich weiß, Schatz. Beweis es dir.

»Ja, habe ich«, sagte Linnea. »Seit der Libelle im Traum kann ich nur noch an das denken, was du beschrieben hast. An die Fließe und die Seerosen und alles, was dort lebt. Und jetzt möchte ich auch unbedingt deinen Garten sehen. Ich würde das sehr gerne machen, Juna, ich muss nur mit meinem Chef sprechen. Ich weiß nicht, ob es geht. Vielleicht muss ich zurück.«

»Der braucht dich gesund und nicht in deiner jetzigen

»Jetzt gleich?« Linnea sah skeptisch aus.

»Ja. Jetzt gleich. Manche Dinge muss man einfach sofort machen. Sonst macht man sie nie.«

Halte dich selbst daran! Man weiß nie, wie viel Zeit man hat.

Ja, Adrian. Ab jetzt wieder.