»Linnea! Gut, dass du dich meldest«, sagte Siegfried und schluckte hörbar etwas herunter.
Linnea lächelte. Um diese Zeit aß Siegfried unweigerlich sein Camembertbrötchen. Ohne jemals dabei die Arbeit zu unterbrechen. Für einen Augenblick spürte sie heftiges Heimweh nach dem Sender. Sehnsucht nach dem vertrauten Trubel, der Hektik, den Debatten, dem Eifer unter Zeitdruck, dem mal beinahe perfekten, mal mäßigen Teamwork. Doch unten im Fließ sprang ein Fisch, silbern im Morgendunst. Die Sonne wanderte um die Hausecke und befreite das verblüffende Blau der Hortensien von den letzten Schatten der Nacht. Der Augenblick der Wehmut verflog mit dem Licht.
»Siegfried«, begann Linnea, »ich …«
»Ich wollte dich heute auch anrufen«, unterbrach er sie. »Die Versicherung zahlt! Es hat sich herausgestellt, dass der Leihwagen tatsächlich defekte Bremsen hatte. Alles kein Problem.«
»Das ist schön, aber darum geht es nicht. Hast du einen Moment Zeit?« Sie sah ihn vor sich, wie er reflexartig einen Blick auf die neue Smartwatch an seinem Handgelenk warf. Als wüsste er aufgrund der riesigen Wanduhr nicht ganz genau, wie spät es war.
»Nur ganz kurz. Was gibt es denn? Du hast doch Urlaub.«
Urlaub konnte man das eigentlich nicht nennen. Als freie Mitarbeiterin wurde Linnea ohnehin nur für das bezahlt, was sie ablieferte. Ansonsten eben nicht.
»Ich möchte einen Vorschlag machen«, sagte sie schnell. »In den Zwanziguhrnachrichten, da haben wir doch immer den Sport vor dem Wetterbericht.«
»Ja, und? Das ist so, seit ich denken kann. Ungeschriebenes Gesetz. Hat gute Gründe. Worauf willst du hinaus?« Papier knisterte im Hintergrund. Siegfried war fertig mit seinem Brötchen. Und eigentlich für heute auch mit ihr.
»Eben. Das war immer schon so. Wir wollen doch aber innovativ sein. Meinst du nicht, es wäre Zeit, mal etwas zu ändern?«
Siegfried lachte auf. »Zuschauer lieben ihre Gewohnheiten. Du willst den Leuten den Sport wegnehmen? Undenkbar! Was soll das?«
»Natürlich nicht wegnehmen! Etwas dazutun«, sagte Linnea. »Naturschutz ist ein brandaktuelles Thema. Es interessiert immer mehr Menschen. Wir haben es doch bei der Sache mit dem Architekturwettbewerb gemerkt. Das geht noch viel mehr Menschen an als der Sport, nämlich alle! Wir könnten doch eine Minute der Sendezeit von den Nachrichten abknapsen und nach dem Sport bringen, direkt vor dem Wetterbericht. Nur eine einzige Minute Sendezeit, Siegfried! Darin kann man so viel unterbringen. Wir könnten …«
»Man merkt wirklich, dass du eine Gehirnerschütterung hattest, Linnea!« Siegfried klang entgeistert. »Du weißt, ich habe dich gern, und du leistest gute Arbeit, aber das geht zu weit. Die Nachrichten zur Hauptsendezeit ändern! Was kommt als Nächstes? Basteln vor dem Fußball? Oder eine Häkelstunde?«
Linnea schluckte. Sie kannte ihn inzwischen gut genug und wusste, wann sie keine Chance hatte. »Dann dreißig Sekunden, Siegfried. Eine halbe Minute, um eine spannende Tierart vorzustellen, eine bizarre Pflanze, ein gefährdetes Gebiet. Es würde in vielen dieselben Gefühle wecken wie der Sport. Staunen, Neugier, Begeisterung! Nicht alle interessieren sich für Fußball. Warum also kann man den anderen nicht auch eine Freude machen? Das wäre bloße Gleichberechtigung. Du sagst doch immer, wir wollen alle Zuschauer abholen.«
»Bring mir solche Beiträge, und wir senden sie vielleicht im Vormittagsprogramm, da, wo Anleitungen zum Kranzflechten und Kochrezepte vorgestellt werden. Da gehört es hin. Aber doch nicht in die Hauptsendezeit. Absolut unmöglich!«
»Im Vormittagsprogramm nützt es kein bisschen. Die Menschen, die das gucken, interessieren sich sowieso schon dafür. Viele davon haben einen Garten. Aber das sind nicht die Stadtplaner, die Industriellen, die Banker, die Politiker. Da bewegen wir gar nichts!« Linnea bemühte sich, ihre Stimme ruhig und sachlich zu halten.
»Die Nachrichten sollen auch nichts bewegen. Die Nachrichten sollen informieren. Mehr nicht.«
»Aber genau das will ich ja!«, widersprach Linnea verzweifelt. »Informieren über Dinge, die den Zuschauern unbekannt bleiben, weil sie sie gar nicht erst zur Kenntnis nehmen. An der Stelle müssten sie das aber, ob sie wollen oder nicht. Alle, die sich nicht die Bohne für Fußball interessieren, sind doch auch gezwungen, sich die Tore des Tages anzusehen, ehe sie erfahren, wie das Wetter wird.«
»Nein, Linnea! Mein letztes Wort. Das stelle ich noch nicht mal in der Redaktionssitzung zur Diskussion. Ich würde mich ja lächerlich machen! Wie gesagt, bring mir gute Beiträge, wie du sie gerade vorgeschlagen hast, und wir finden eventuell irgendeinen Platz im Programm. Aber ganz bestimmt nicht zur besten Sendezeit. Und jetzt muss ich los! Ich wünsche weiter gute Genesung. Lass dir bloß Zeit! Bis dann.«
Geknickt stellte Linnea sich vor, wie er die Tüte zusammenknüllte, aufsprang und sich seinen Tagesgeschäften widmete, ohne an ihre Idee auch nur einen einzigen Gedanken zu verschwenden.
Zwischen Kranzflechten und Kochrezepten! Nein, dafür würde sie ihm keine Beiträge liefern. Sie kochte gerne und machte manchmal Handarbeiten, aber das war nicht ihr Ziel.
Lustlos trank sie ihren kalt gewordenen Kaffee. Dabei fiel ihr Blick auf ein Tagpfauenauge, das auf einer Kugeldistel saß. Geduldig entrollte es seinen langen Rüssel und versenkte ihn in einer der zahllosen winzigen Blüten, nur um festzustellen, dass kein Nektar mehr darin war. Rollte ihn wieder auf und versuchte es an der nächsten. Linnea beobachtete ihn gespannt. Erst beim neunten Versuch wurde er fündig. Aber es schien sich gelohnt zu haben.
Ich mache es genau wie er. Ich gebe auch nicht so schnell auf, dachte Linnea. Um sich abzulenken, rief sie Juna an. »Wie geht es dir?«
»Erstaunlich gut«, sagte Juna. »Das mit dem Laufen wird immer besser. Ich fühle mich wohler, als ich dachte. Sie sind unaufdringlich nett hier, und es gibt sogar einen See, an dem ich sitzen kann. Wasser hilft mir immer. Und du? Du klingst verärgert. Oder traurig? Ich hoffe, du fühlst dich im Spreewald wohl. Ich habe schon überlegt, ob du dort nicht vielleicht viel zu einsam bist. Nur weil ich es mag, muss es noch lange nicht für dich gut sein.«
»Nicht die Spur. Juna, ich bin dir so dankbar. Das ist ein Paradies hier. Ich genieße jede Minute! Verärgert bin ich nur, weil mein Chef Siegfried gerade eine Idee von mir abgelehnt hat, ohne überhaupt darüber nachzudenken.«
»War sie gut?«
»Ja. Gut und wichtig, finde ich.«
»Dann bleib dran. Weißt du, was mir immer hilft, wenn ich meine Gedanken sortieren will und das Gefühl habe, nicht voranzukommen? Bogenschießen. Schau mal im Flur hinter der Tür.« Sie gab Linnea noch einige Tipps, bevor sie das Gespräch beendete.
Bogenschießen! Linnea runzelte die Stirn. Außer ihrer täglichen Joggingrunde hatte sie keinen anderen Sport gemacht. Dafür hatte sie gar keine Muße gehabt. Aus purer Neugier sah sie nach, nahm den Bogen in die Hand und betrachtete ihn. Ein Versuch konnte nicht schaden, jetzt hatte sie ja reichlich Zeit.
Natürlich schoss sie daneben. Immer wieder. Alles andere wäre ja auch erstaunlich gewesen. Aber ihr gefiel das Geräusch, das der Pfeil machte, wenn sie die gespannte Sehne losließ. Sie mochte es, nur mit einer kleinen Handbewegung einen Pfeil auf eine schnelle, zielstrebige Reise schicken zu können. Auch wenn er sein Ziel verfehlte, war doch seine Flugbahn schön. Der ganze Bewegungsablauf hatte etwas sehr Beruhigendes.
Linnea war schließlich so darauf konzentriert, dass sie Siegfried völlig vergaß, und ihren Ärger auch. Dafür nahm sie immer bewusster die Geräusche des Waldes wahr, eine Vogelstimme, den Wind in trockenen Herbstblättern, das Plätschern, wenn hinter der Ligusterhecke ein Kahn vorüberfuhr oder eine Ente landete. Sie roch die feuchte Erde, die so angenehm unter ihren Füßen federte, reife Äpfel und Räucherfisch.
Irgendwann fing sie an zu treffen. Nicht in die Mitte des Ziels, aber immerhin den Rand. Linnea vergaß die Zeit, weil ihr Kopf ganz klar wurde und sie völlig eins war mit sich und den Pfeilen. Bis eine Stimme sie zusammenfahren ließ und der Pfeil in den Apfelbaum flog. Sie hatte Ben nicht einmal kommen hören.
»Bravo, das sieht aus, als würdest du es öfter tun«, sagte er. Er trug eine zugedeckte Schüssel. »Hallo, Linnea.«
»Hallo, Ben. Nein, tatsächlich habe ich es vorher noch nie gemacht.«
Linnea ließ den Bogen sinken und merkte erst jetzt, dass ihre Schulter von der ungewohnten Anstrengung schmerzte und ihr Zeigefinger eine Blase aufwies.
»Ich kam gerade sowieso vorbei«, sagte er. »Da dachte ich, du könntest vielleicht das hier gebrauchen. Gestern gab es bei mir gefüllte Schmorgurken. Es ist so viel übrig, dass ich aus dem Rest einen Salat gemacht habe. Klingt merkwürdig, schmeckt aber gut.«
»Ich finde, es klingt lecker.« Linnea bemerkte, dass sie wieder Appetit hatte.
»Du siehst auch schon besser aus«, sagte Ben und musterte sie. »Die Ruhe und die Spreewaldluft haben noch jedem geholfen. Juna meinte zwar, ich solle ein Auge auf dich haben, aber ich glaube, du kommst ganz gut klar.«
»Genau. Ich bin schon groß. Ich kann alleine auf mich aufpassen.« Linnea lächelte ihn an. »Sag Bescheid, wenn ich dir auch einmal helfen kann. Ich habe auch schon gekellnert. Falls du einen Engpass in deinem Gasthaus hast.«
»Danke. Vielleicht komme ich darauf zurück. Einen schönen Tag dir!«
Als er fort war, räumte Linnea den Bogen und die Pfeile auf und schnupperte in die Schüssel. Es roch wirklich lecker. Aber eigentlich war es noch zu früh zum Mittagessen. Sie wanderte durch den Garten und setzte sich unten auf den Steg. Ein großer Kahn glitt vorüber, besetzt mit mehr als dreißig Gästen an Tischen voller Getränke. Alle winkten Linnea zu und grüßten fröhlich. Linnea winkte zurück. Sie staunte, wie gelöst Menschen aussehen konnten, die so dicht gedrängt in einem hölzernen Kahn saßen.
Da fiel ihr Junas Kajak ein. Sie sprang auf, suchte im langen Gras die Spitze des Gefährts, zog es unter den Hortensienbüschen hervor und drehte es um. Ein glänzender Käfer, der darin gesessen hatte, ergriff die Flucht. Es war ein einfaches, leichtes Boot. Linnea war schon öfter in Potsdam gepaddelt. Mit Oskar und Mats.
Sie holte das Paddel aus dem Flur, steckte die Salatschüssel, eine Gabel und eine Flasche Wasser in eine Tüte, legte alles ins Boot und kletterte vorsichtig hinein. Es war ganz schön kippelig, doch sie fand ihr Gleichgewicht und stieß sich ab.
Die Strömung war so sanft, dass man sie kaum wahrnahm. Im Sommer fließt hier alles langsamer, hatte der Fährmann gesagt. Doch nun wurde es Herbst. Alles würde wieder schneller werden. Linnea hatte selbst auch das Gefühl, in Bewegung zu kommen. Vor ein paar Wochen noch hatte sie auf ihre Zukunft gestarrt wie das sprichwörtliche Kaninchen auf die Schlange, hatte nicht weitergewusst und sich kaum zu rühren gewagt. Jetzt spürte sie wieder Zuversicht, mit jedem Paddelschlag, den sie tat. Die Strömung unterstützte sie, schob sie vorwärts.
In einer Welt, die so Wundervolles zu bieten hatte wie diese Landschaft hier, konnte nichts ganz vergeblich sein. Es herrschte völlige Stille. Rechts und links vom Boot tupften die Seerosenblätter mit den weißen und gelben Blüten das spiegelglatte Wasser. Auf manchen Halmen, die sich vom Ufer herabbeugten, saßen drei oder vier der kleineren Libellen nebeneinander. Die größeren sammelten sich in den Sonnenflecken auf den Blättern und Ästen im Wasser. Unter der Oberfläche trafen sich dort auch die Fische, als wären diese Sonnenflecken eine andere Art Futter für die Seele. Wie die Fische wohl empfanden, da unten in den kühlen, dämmrigen Tiefen? Dachten sie wirklich nur an Fressen und Fortpflanzung, oder zog das Licht sie auch aus anderen Gründen an, aus Lebensfreude, aus Sehnsucht nach Helligkeit und Wärme?
Obwohl der Herbst sich mittlerweile bemerkbar machte und immer wieder rote und goldgelbe Blätter auf Linnea niederrieselten, um dann gemächlich auf der Wasseroberfläche davonzutreiben, waren noch immer einzelne Vogelstimmen zu hören. Linnea hatte gründlich recherchiert, wie es ihre Angewohnheit war. Der Spreewald gehörte zu den Regionen mit den meisten Singvögeln in Deutschland. Es gab über hundert Arten hier, die die rar gewordenen Auenlandschaften zum Überleben benötigten.
Auch über die Libellen hatte Linnea nachgelesen. Manche von ihnen flogen Tausende Kilometer weit. Das war ihnen möglich, weil sie so schlanke, lange Körper hatten und dabei so große Flügel. So konnten sie sich vom Wind tragen lassen und verbrauchten nur wenig Energie. Dabei benutzten sie ihren beweglichen Kopf als Steuerruder. Das sollte Siegfried eigentlich gefallen, dachte Linnea. Immer mit dem Kopf steuern. Nicht mit den Gefühlen. Dieses erstaunliche Insekt war obendrein fähig, jeden Flügel einzeln auszurichten, in einer Sekunde dreißigmal damit zu schlagen und dabei jedes Mal über die Richtung zu entscheiden. Das müsste man können …
Fast hätte Linnea den vollbesetzten Kahn übersehen, der ihr entgegenkam. Hastig steuerte sie an den Rand, damit es keinen Zusammenstoß gab. Der Fährmann lächelte ihr zu. Er war es wahrscheinlich gewöhnt, Dilettanten auszuweichen.
Das Kajak umrundete eine Biegung. Hier war die Spree breiter und noch ruhiger. Linnea starrte fasziniert auf die zweite Welt, die durch die Spiegelung von Himmel und Bäumen unter der Wasseroberfläche erschien. Hier stand alles auf dem Kopf, war noch erstaunlicher in der Farbe und gaukelte eine zauberhafte Tiefe vor, in die sie am liebsten eingetaucht wäre.
Sie vergaß die Zeit völlig und ließ sich treiben. Ein langvergessenes Gefühl machte sich in ihr breit, das sie nicht einordnen konnte, bis ihr aufging, dass sie einfach glücklich war. Wunschlos glücklich, für den Augenblick. Hier fühle ich mich wohl, dachte sie. Was hatte ich eigentlich in der Stadt zu suchen? Ich bin doch ein Heidekind gewesen. Das hier bin ich! Himmel, Erde, Brummen und Summen von geflügelten Wesen, Wildkräuter, Vögel, und ich dazwischen.
Sie kostete es aus, bis ihr Magen knurrte und ihr Bens Salat einfiel. Sie suchte sich eine kleine Bucht zwischen Seerosen, band das Kajak an einem überhängenden Baum fest und genoss ihr Picknick. Dann studierte sie die Wasserkarte, die bei dem Paddel gelegen hatte. Sie hatte nämlich nicht die leiseste Ahnung mehr, wo in diesem Irrgarten aus Wasserläufen sie sich befand. Eine leise Panik machte sich in ihr breit, bis ihr einfiel, dass sie vorhin eine Art Straßenschild gesehen hatte, nur dass es im Wasser stand. Sie würde einfach bis zur nächsten Abzweigung fahren und hoffen, dass es dort auch eines gab. Dann wurde sie vielleicht auch aus der Karte schlau.
Sie paddelte weiter, Schlag für Schlag. Aus ihrer Glückseligkeit wurde unvermittelte Melancholie. Plötzlich tat es ihr leid um die Sommer, die sie in der Stadt zwischen Häuserschluchten verschwendet hatte. Dafür aber schmerzte der Gedanke an Mats zum ersten Mal nicht mehr. War sie überhaupt in Mats verliebt gewesen oder eher in das Bild von dem Kronleuchter am Kinderwagen? In die Sehnsucht, das Leben zu etwas Verrücktem und Besonderem zu machen, Dinge aus ihrem Kontext zu nehmen und sie ganz neu zu betrachten? Eine Zeitlang hatte sie gedacht, Mats stünde genau dafür. Aber vielleicht war das einfach nur ihre eigene Sehnsucht gewesen? Vielleicht konnte sie das alles auch allein, wenn sie es nur diesmal richtig anging.
Möglicherweise war ja die Gehirnerschütterung doch für etwas gut gewesen – vielleicht hatte sie auch in Linneas Seele etwas gelockert, das sich festgefahren hatte.
Das Fließ wurde jetzt immer enger. Linnea hoffte inständig, dass sie nicht an eine Schleuse kommen würde. Mit dem Kahnfährmann waren sie durch mehrere Schleusen gefahren. Sie hatte ihn bewundert, wie geschickt er hindurch navigiert war. An den Schleusen gab es Schleusenwärter, die die Schleuse ehrenamtlich bedienten. Wenn man dann durchfuhr, hingen kleine Plastikeimer an den Wänden, in die man einen Obolus legte. Sie traute sich aber nicht zu, mit dem Kajak hineinzufahren, obwohl es wahrscheinlich ganz einfach war.
Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie stattdessen endlich eines jener geschnitzten Schilder, die die Namen der Fließe trugen, und stellte fest, dass sie sich tatsächlich auf der Moorigen Tschummi befand. Als Juna davon erzählt hatte, hatte Linnea nicht glauben können, dass es diesen Namen wirklich gab. Sie ließ das Paddel sinken und studierte die Karte. Abbiegen ins Eschenfließ, dann in die Dobrola, dann die Quodda. Dann hatte sie die Wahl zwischen der Jabona oder – tatsächlich, dem Suez-Kanal. Wer hätte gedacht, dass es den hier auch gab?
Nun war es überraschend leicht, den Weg nach Hause zu finden. Am Ende konnte sie das Paddel kaum noch heben, und ihre Jeans war von dem tropfenden Wasser durch und durch nass geworden, doch Linnea war voller Zufriedenheit. Auf einmal schien alles möglich. Sie dachte an das Bild von den Libellen auf dem Titelblatt von Mervins Garten und dass es ihr vorkam, als wäre sie an diesem Nachmittag mitten darin gewesen.
Und da kam ihr eine Idee.
Remona Kreyhenibbe hatte ganz allein ihre Zeitschrift ins Leben gerufen. Ja, sie hatte sich Helfer und Verbündete gesucht, aber sie hatte die Idee gehabt und den Mut und hatte es einfach getan.
Warum sollte Linnea so etwas nicht auch tun können? Warum sollte sie diese Minute, die Siegfried ihr nicht geben wollte, nicht einfach selbst starten? Sie würde ihren eigenen YouTube-Kanal ins Leben rufen! Dadurch hatte sie zwar noch keine Sendeminute zur besten Tageszeit. Aber vielleicht konnte sie nach und nach Abonnenten finden. Ein kleines Publikum war besser, als es gar nicht zu versuchen. Wenn sie genügend Follower hatte, konnte sie am Ende Siegfried doch noch überzeugen …
Mit vor Erschöpfung weichen Knien stieg sie aus dem Kajak und zog es an Land. Eine Libelle, die sich am Ende des Steges im letzten Abendlicht gewärmt hatte, schwirrte auf und stand einen Augenblick in der Luft, direkt vor Linneas Gesicht. Linnea erwiderte unwillkürlich ihr Lächeln.
»Ich kann von euch lernen«, sagte sie laut. »Ausdauer, Geduld, genau hinsehen, notfalls präzise Haken schlagen und das Ziel nicht aus den Augen verlieren.«
Und dabei nicht vergessen, sich über den Glanz auf den Flügeln zu freuen, setzte sie im Stillen hinzu.