Über der Wiese stieg Morgennebel auf, lag in den Senken, bis die Sonne über den Horizont stieg und ihm das weiche Leuchten verlieh, das Juna so liebte. Es wirkte, als hätte auch das herbstliche Gras heute Nacht geträumt, vielleicht von winterlicher Ruhe, vielleicht auch vom Frühling.
Stare schwatzten in der Ferne aufgeregt durcheinander. Sie sammelten sich im silberblauen Morgenhimmel zu einer eleganten schwarzen Wolke, die, noch unentschlossen über ihre Richtung, ständig die Gestalt wechselte und sich mal hierhin, mal dorthin wendete, um sich dann doch wieder in den Bäumen niederzulassen.
Juna fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Sie hatte wunderbar geschlafen. Als sie aufwachte, schien ihr, dass irgendetwas fehlte. Lange hatte sie nachgedacht, bis ihr dämmerte, was es war: das gewohnte diffuse Gemisch aus Zweifeln, Trauer und Schuldgefühlen. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass genau dies wie ein Schleier über allem gelegen hatte. Sie hatte sich längst daran gewöhnt und es kaum noch bemerkt. Erst jetzt in der reinen Luft und der Stille Hiddensees, in diesem ganzen verzauberten Licht und der blaugrünen Weite, hatte sich dieser Schleier für einen Augenblick von ihr gehoben. Gewiss nicht für immer. Hin und wieder würde er zurückkehren. Er gehörte zu ihr und ihrem Leben. Aber nun wusste sie, dass er sie an nichts mehr hindern würde. Er machte sie eher stärker.
Reine Luft und Stille hatte sie im Spreewald auch gehabt. Sie hatte sogar ein wenig Heimweh nach den dunklen Fließen, nach den Libellen, dem Blockhaus und der Biegestelle, dem Gefühl von altem Holz, das sich unter ihren Händen zu etwas Neuem formte. Nach ihrem Kajak und dem sicheren Flug der Pfeile auf die Zielscheibe. Doch sie hatte einen neuen, freien Blick benötigt, diese Leichtigkeit, die sie schon damals mit Adrian bei ihrem ersten Besuch hier gespürt hatte.
Es lag nicht nur an dem weichen Herbstnebel und den schrägen Sonnenstrahlen, die den Tau im Gras zum Funkeln brachten, nicht an den Vogelschwärmen über dem Alten Bessin und nicht an dem ständigen gedämpften Donnern des Meeresrauschens, dass dieser Ort für Juna ein magischer war. So wie er es auch für Wilhelm gewesen sein musste. Und sicher hatte es einen guten Grund gehabt, dass die Mönche, die Linnea so faszinierten, gerade diese Insel für ihr Kloster ausgewählt hatten.
Juna hatte entdeckt, dass sie ohne Mühe auf das Fensterbrett klettern und die Beine durch das offene Fenster hinaushängen konnte. Dadurch, dass das Vordach des Speiseraums darunter begann, war das völlig ungefährlich. Nun saß sie dort bequem, den Rücken gegen den Fensterrahmen gelehnt, eine Tasse Kaffee in der Hand, und genoss den Ausblick. Sie konnte nicht nur den Vitter Bodden und den ganzen Bessin von hier aus überblicken, sondern auch den Weg unten, der vorn am Haus vorbeiführte. Sie konnte die Pferdewagen beobachten, die dort passierten, und die Menschen auf den Fahrrädern. Briefträger, der Pferdeäpfelsammler, Kaufleute, Feriengäste, die früh unterwegs waren. Die meisten, die dort unten vorbeikamen, bemerkten Juna zuerst nicht, die da oben im Dach thronte, blickten dann doch irgendwann hoch und lächelten ihr überrascht zu. Sie freuten sich, dass eine Frau mit mehr weißen Haaren als braunen im Dachfenster saß, unbekümmert mit den Beinen baumelte und sichtlich genoss, gerade hier und gerade jetzt zu leben. Manche hoben grüßend die Hand, und Juna winkte zurück. Sie fühlte sich jung und unbeschwert und glücklich darüber, dass sie alt genug war, um sich wieder zu benehmen wie ein Kind. Es war ihr auf einmal völlig egal, was ihr Vater oder irgendjemand sonst von ihr dachte.
Die Schwalben, die auf der Dachrinne hockten, hatten keine Angst vor ihr und betrachteten sie freundlich. Juna fühlte sich beflügelt, wie eine von ihnen.
Ein wenig später setzte sie sich auf ihr Bett, nahm die Libelle aus ihrer Tasche und sah sie nachdenklich an.
»Was willst du mir sagen?«, fragte Juna laut. »Wilhelm war der Meinung, dass es einen Sinn hätte, dass du auf mich gewartet hast, dass er nie dazu kam, sich selbst um dich zu kümmern. Er sagte, es solle so sein. Aber warum?«
Die Libelle lächelte so hintergründig wie immer.
Zu Hause auf dem Libellenflugkalender würde man jetzt sehen können, dass bald nur noch die Winterlibellen unterwegs sein würden.
Und Juna selbst, unterwegs auf der Suche nach – was?
»Vielleicht lag der Sinn auch einfach nur darin, dass ich hierher zurückgekehrt bin. Vielleicht genügt das bereits. Aber was mache ich jetzt bloß mit dir?« Schließlich wickelte sie die Libelle sorgfältig wieder ein. Wenn Linnea keine Antwort auf diese Frage fand, dann wusste vielleicht Jannis Herbst eine?
Weißt du was, Adrian? Ich glaube, es ist wirklich so. Ich sollte einfach nur hierher zurückkehren. Wilhelm hat gespürt, wie gern ich das wollte und wie gut es mir hier gehen würde. Aber Linnea will mehr. Es ist rührend, wie sie sich in die Geschichte verbissen hat. Sie will ihren Chef beeindrucken, eine gute Geschichte abliefern. Aber sie brennt auch für ihre Sache. Sie will der Natur helfen, den Insekten, so wie Remy Kreyhenibbe. Und Reon hat sie nur noch mehr angefeuert. Ein wirklich netter Kerl, dieser Reon. Genau wie Jannis.
Ich bin froh, dass du so nette Freunde gefunden hast.
Jetzt klingst du beinahe wie mein Vater. Aber du hast recht. Ich freue mich auch.
Jannis ging es ähnlich wie Juna. Er fühlte sich auch auf Hiddensee wohl. Es war sein Rückzugsort gewesen, sein Paradies, sogar, als seine Frau noch lebte. Er schien es normal zu finden, dass man manchmal allein sein wollte, sich nicht immer wohlfühlte unter vielen Menschen.
»Es gibt nun mal introvertierte und extrovertierte Menschen«, hatte er gesagt. »Komplizierte Wörter für eine ganz einfache Sache. Die einen sind gern gesellig, mögen belanglose Konversation und Stimmengewirr um sich herum. Die anderen brauchen Zeit für sich, sind von Lärm und Enge rasch überfordert und von bedeutungslosem Geschwätz gelangweilt. Daran ist nicht das Geringste auszusetzen. Leider mag nur aus irgendeinem Grunde die Gesellschaft die extrovertierten Typen lieber und belohnt deren Verhalten. Eltern möchten ihre Kinder gern aufgeschlossen sehen, die Lehrer verlangen, dass man ohne Nervosität Referate vor der Klasse halten kann und bei Gruppenarbeiten immer vorneweg ist. An der Universität oder in den meisten Jobs ist es auch nicht anders. Es ist ein Idealbild, dem man entsprechen soll. Leider ist das entsetzlich einseitig.« Er hatte Juna von der Seite angesehen und ähnlich gelächelt wie die Libellen. Gelassen, amüsiert, ein wenig rätselhaft.
»Genauso ist es mir auch gegangen«, sagte sie. Es war befreiend, es auszusprechen. Jannis machte es ihr so leicht. Die Begriffe extrovertiert und introvertiert waren ihr auch schon begegnet, aber da hatte das introvertiert stets wie ein Schimpfwort geklungen, von dem sie sich getroffen fühlte. Es hatte ja niemanden gegeben, mit dem sie über dieses Thema sprechen konnte. Adrian hatte immer nur gesagt: »Du bist genauso, wie ich dich haben möchte.« Und die anderen hatten sie belächelt, bemitleidet oder verurteilt. Hochnäsig sei sie oder krankhaft schüchtern.
Und nun war da Jannis. »Es gibt viele von uns«, hatte er einfach gesagt. »Ich musste beinahe so alt werden wie jetzt, um begreifen zu können, dass es völlig in Ordnung ist, introvertiert zu sein. Dass ich so sein darf. Meine Frau war das genaue Gegenteil. Sie liebte Einladungen und Geräuschkulissen. Aber das war kein Problem, weil jeder es vom anderen wusste. Deswegen hatte ich meine Wochenenden hier und sie ihre in der Stadt. Schade nur, dass unsere Gesellschaft nicht auch schon so weit ist. Immerhin, es gibt Fortschritte, auch in der Pädagogik. Man weiß und toleriert inzwischen, dass das Gehirn der Introvertierten einfach ein wenig anders arbeitet.« Er hatte die Arme weit ausgebreitet, wie um zu zeigen, dass er diese Tatsache mitsamt allen, die es betraf, willkommen hieß. »Wir nehmen mehr Details wahr, sind durch diesen Ansturm manchmal überfordert, brauchen länger, um sie zu verarbeiten. Die nächsten Generationen werden in dieser Hinsicht auf mehr Verständnis treffen. Wir aber müssen selbst dafür sorgen, dass wir uns erlauben, uns in unserer Haut wohlzufühlen. Wir haben jedes Recht dazu.«
»Schade, dass mein Vater das nicht auch so sieht«, hatte Juna gemurmelt. Jannis war stehengeblieben, hatte ganz leicht ihr Handgelenk umfasst und sie eindringlich angesehen. »Liebe Juna, das spielt überhaupt keine Rolle! Entscheidend ist, was Sie denken und fühlen. Alles andere zählt längst nicht mehr.« Er hatte sie losgelassen und gelacht. Sein Lachen klang wie Honig und Karamell und ein bisschen wie das Rollen der Wellen unten am Kliff. »Das ist das Wunderbare, wenn man über fünfzig ist. Wir müssen es niemandem mehr recht machen, keinem mehr gefallen. Wir sind frei!«
Dann war er wieder ernst geworden. »Ich weiß nicht, ob ich jemals so überzeugt zu dieser Erkenntnis gekommen wäre, wenn ich nicht diese verzauberte Insel hier gekannt hätte, so scheinbar völlig fernab der restlichen Welt. Ich glaube, an keinem anderen Ort kann man so leicht man selbst sein wie an diesem. Warum, kann ich Ihnen nicht erklären, aber so war es für mich, und ich weiß, dass viele genau deshalb hier gelandet sind.«
Ja, einen solchen Ort brauchte man.
Und weil Jannis war, wie er war, konnte sie nun so sorglos bei den Schwalben sitzen, und die Vorwürfe ihres Vaters und der vielen anderen wogen nicht mehr auf ihren Schultern. Nie wieder. Das war ihr auch erst hier deutlich geworden, wie groß dieses Gewicht noch immer gewesen war.
Linnea hatte noch immer nicht geklopft, um sie zum Frühstück abzuholen. Juna trat wieder ans Fenster. Doch sie sah nicht den Bodden und die Wiese. Sie sah den Schulhof von vor über vierzig Jahren vor sich, auf dem sie als kleines Mädchen gestanden und sich ratlos umgesehen hatte. Überall Kinder, ganze Rudel von schreienden, kreischenden, kichernden Kindern. Nackter Asphalt unter den Füßen, nirgends konnte man sich verstecken, um den Hänseleien und Püffen zu entgehen oder um einfach nur seine Ruhe zu haben. Juna fühlte sich gefangen, ausgeliefert.
Sie hatte sich an den Rand gedrückt, dort, wo wie eine Käfigwand der hohe Zaun hinter dem Fußballtor und den Mülltonnen stand, und entdeckt, dass es hier einen Streifen Grün gab. Hinter einer Stelle, die dicht von Brennnesseln zugewuchert war, gab es unter einem Busch, wo ein paar Äste abgestorben waren, einen Hohlraum. Wenn sie sich ganz vorsichtig an den Brennnesseln vorbeidrückte, konnte Juna in diese Höhle kriechen und hatte so ein schützendes Dach über sich.
Die kleine grüne Höhle, für die sich sonst niemand interessierte und von der anscheinend keines der anderen Kinder wusste, wurde ihr Paradies. Hier konnte sie sich entziehen, die Pausen auf ihre Art verbringen. Hier träumte sie vor sich hin, sprach lautlos mit ihren unsichtbaren Freunden, mit Drachen, Delphinen oder Fohlen, einmal sogar mit einer richtigen lebendigen Maus, die sie mit Kekskrümeln fütterte. Unter einem Stein wohnte eine Kröte mit goldenen Augen. Hier dachte sie sich Aufsätze aus, für die sie später eine Eins bekam, die ihre Fünf in mündlich aufwog.
In der grünen Geborgenheit tankte sie die Kraft, die sie brauchte, wenn man sie wieder einmal zwang, nach vorne an die Tafel zu gehen, wo ihr schlecht wurde vor Angst, wo ihre Knie zitterten und ihre Stimme versagte, bis man sie auslachte und der Lehrer sie tadelte. Die Kröte würde sie niemals auslachen, und die Maus auch nicht. Der Busch war im Frühling hellgrün und im Herbst golden. Im Sommer trug er sogar manchmal Blüten. Nur im Winter wurde es schwierig. Es sei denn, es hatte geschneit, und er wurde zum Iglu.
Ein solches Paradies hatte sie nach so langer Zeit nun wieder entdeckt, hier auf Hiddensee. Natürlich war auch der Spreewald so eines. Juna liebte ihr Zuhause. Doch sie hatte es nie selbst gewählt. Sie war hineingewachsen, weil es ihrem Großvater gehört hatte und nun ihr. Hiddensee und sie aber hatten einander gefunden. Dieser Ort sprach sie in ihrem tiefsten Inneren an, weil sie hier am meisten sie selbst sein konnte.
»Manchen Menschen tut es gut, wenn sie jede Woche in großer Gesellschaft den neuesten Tanz üben können. Anderen tut es gut, wenn sie allein in ihrem Garten fünfzig Sorten Purpurglöckchen beim Wachsen zusehen können«, hatte Jannis gesagt. »Das ist wunderbar so. Es ist nur schade, dass wir Menschen immer so streng miteinander sind und von jedem erwarten, dass er das Gleiche mag wie wir. Warum nur?«
Sie würde mit ihrem Vater reden, beschloss Juna. Sie würde es versuchen, bis es endlich richtig gelang, zum ersten Mal seit Jahren. Vielleicht war sie nun endlich so weit, dass sie es ihm so erklären konnte, dass er es verstand. Wenn ja, würde sie sich bei Jannis dafür bedanken.
Jeder Mensch sollte einen Ort finden, der genau zu ihm passt, dachte Juna. Man muss nicht unbedingt dort leben, aber es ist gut, wenn man ihn kennt. Am liebsten würde ich diese Insel anderen zeigen, die sie vielleicht auch glücklich machen würde. Ich würde ihnen erzählen, was Jannis mir da oben am Kliff mit so viel Überzeugung gesagt hat. Damit auch sie erfahren, dass nichts falsch an ihnen ist. Jetzt verstehe ich Linnea, die mit Bildern die Öffentlichkeit erreichen möchte. Manchmal hat man einfach etwas zu sagen. Dafür sind Bilder gut. Jeder kann sie so verstehen, wie es ihm am meisten hilft. Und so einen grünen, schützenden Platz zum Ausruhen, wie ich ihn unter dem Busch hatte, den sollte es auch für Erwachsene geben. Am besten in einem Garten. Einem Garten, in den man sich zurückziehen und eine Zeitlang ausruhen kann …
Junas Magen knurrte schon wieder. Sie freute sich auf das Frühstück. Wo blieb nur Linnea? Wahrscheinlich war es all dieses Nachdenken, was ihr so einen ungewöhnlichen Appetit machte.
Wie gut, dass sie den alten Weg gegangen war. Ihr war so viel klar geworden dort oben. Sie hatte immer geahnt, dass er ihr noch etwas zu geben hatte.
Es war nicht der Weg, es war Jannis.
Ja, aber ich wäre ihm hier gar nicht begegnet, wenn ich da oben nicht lang gegangen wäre.
Du magst ihn sehr, oder?
Er ruht so in sich. Gleichzeitig ist er voller Energie. Das ist ansteckend. Und wir haben einiges gemeinsam.
So wie wir.
Ja. Nur anderes. Ich vermisse dich so sehr, Adrian!
Ein neuer Tag wartet auf dich.
Oft kann ich immer noch nicht glauben, dass das geht. Ein neuer Tag ohne dich.
Aber du lebst trotzdem. Du machst es immer besser. Ich bin stolz auf dich. Du machst etwas Gutes aus deiner Zukunft.
Wäre das denn richtig ohne dich?
Es ist das einzig Richtige. Sonst ist es ein Verrat an all unseren guten gemeinsamen Tagen. Sagte ich das nicht schon? Glaub es mir bitte endlich. Du hast mir doch früher auch geglaubt. Mach etwas aus den wunderbaren Erfahrungen und Erlebnissen, die wir zusammen hatten. Du kannst es.
Ich habe auf einmal den Wunsch, etwas zu teilen. So wie Linnea es tut.
Wirst du jetzt gesellig?
Vielleicht, aber auf meine Art.
Das ist gut. Dann tu es. Was hindert dich daran?
Ich selbst.
Nicht mehr. Das ist vorbei. Du hast schon so viel geschafft. Du bist stärker als je zuvor.
Meine Idee ist noch nicht ausgereift.
Lass ihr Zeit. Lass dir Zeit. Es ist wie mit einer Pflanze in deinem Garten. Sie wächst von allein, wenn du ihr Raum gibst. Das Wichtigste ist, dass du den Ort gefunden hast, wo sie wachsen kann.
Ich glaube, ich habe ihn schon immer gekannt, seit wir beide hier waren.
Damals war nicht die richtige Zeit dafür. Nun ist es anders.
»Entschuldige, dass ich so spät bin. Ich war völlig versunken in meine Recherchen.« Linnea lud sich ihren Teller am Frühstücksbuffet ebenso voll wie Juna. »Ich habe über das Leben in den Zisterzienserklostern gelesen. Wusstest du, dass die Mönche eine Regel hatten, dass sie jeden Tag bestimmte Zeiten mit Lesen verbringen mussten? Das tägliche Lesen war eine ganz wichtige Ergänzung zu den Stundengebeten, die auch Pflicht waren. Kannst du dich an das Modell vom Kloster erinnern? Da gab es eine große Abteikirche mit einem Kreuzgang. Der Kreuzgang bildet eine Art Hof, und in der Mitte ist ein Garten. Und stell dir vor, dort haben die Mönche hauptsächlich gelesen. Es war für sie der beste Ort dafür. Der Kreuzgarten war vor allem ein Lesegarten! Am Kreuzgang lag auch ein großer Bücherschrank, den man Armarium nannte. Ein Bibliothekar gab den Mönchen die Bücher. Für die lesenden Mönche gab es Sitzbänke. Der Kreuzgang war ja überdacht, so dass man auch bei Regen dort sitzen konnte oder wenn man Schatten suchte. Sie hatten dort mehr Licht und bessere Luft als in den kalten dunklen Räumen im Kloster, wo es ja nur Kerzen und Öllampen gab. Ich kann mir das richtig lebendig vorstellen, du auch?«
»Das klingt schön.« Auch Juna hatte sofort ein Bild vor Augen. Der Kreuzgang, darin ein Rechteck grünen Rasens, wo es einen Brunnen gab und ein einziger Rosenbusch wuchs. Die Rose, die später Frau Hiller aus dem Hotelgarten gerettet hatte. Wer wusste schon, wo sie vorher gediehen war?
»Zu schade, dass es das Kloster nicht mehr gibt«, sagte Linnea mit vollem Mund. »Ich würde mich so gern sofort im Kreuzgang auf eine Bank setzen und lesen. Ich glaube, da würde man wunderbar zur Ruhe kommen und hätte die besten Gedanken. Unser Bruder Timmo hat dort bestimmt sehr gern gesessen.«
»Das Mönchsleben war garantiert nicht so romantisch, wie du dir das vorstellst. Es war extrem beschwerlich«, wandte Juna ein.
»Ich weiß. Es war ein entbehrungsreiches Leben, und die Mönche haben auch hart gearbeitet. Da Bruder Timmo so naturbegeistert war, nehme ich an, dass er vielleicht für den Gemüsegarten eingeteilt war. Es gab auch einen Wandelgarten. Ich wette, er hatte reichlich zu tun. Es lebten ungefähr dreißig Mönche dort. Sie waren übrigens auch dafür zuständig, das Plündern gestrandeter Schiffe zu verhindern. Das Kloster hatte das Strandrecht. Und sie mussten die Seewege sichern, deswegen waren sie für das Leuchtfeuer verantwortlich.«
»Und hast du etwas über den Goldschatz vom Kloster herausgefunden? Ist dir irgendwo eine Libelle begegnet?«
»Nein.« Linnea goss Kaffee nach. »Ich habe nur gelesen, dass es dem Kloster eine Zeitlang wirtschaftlich sehr gut ging. Sie haben mit dem Gemüseanbau und vor allem mit dem Fischfang viel erwirtschaftet, und sie hatten Anteile an einer Salzgewinnungsanlage. Es wurde notiert, dass es eine Menge Wertsachen wie goldene Leuchter, Monstranzen, Kelche und Schreine gab. Es existiert ein altes Verzeichnis von einem Goldschmied, der solche Dinge für die Klöster herstellte. Außerdem denke ich, wenn sie Strandrecht hatten, dann werden sie sicherlich das eine oder andere, was sich auf den gestrandeten Schiffen fand, an sich genommen haben. Auch ein Mönch ist schließlich kein Heiliger. Aber diese Marmelade ist göttlich.« Linnea nahm sich noch ein Brötchen.
»Sanddorn und Quitte. Ja, lecker. Aber dass irgendetwas von den Besitztümern des Klosters vergraben wurde, darauf hast du keinen Hinweis gefunden, oder?«
»Nur die alte Sage mit den nie gefundenen Apostelfiguren. Nein, die Sachen wurden wohl alle auf andere Klöster oder Kirchen verteilt. Und die Bücher an Bibliotheken und Universitäten. Ich habe aber heute vor dem Frühstück noch schnell einem Professor geschrieben, der sich besonders mit dem Hiddenseer Kloster befasst und anscheinend ein Archiv aufgebaut hat. Ich bin sehr gespannt, ob er mir antwortet. Wenn nicht, muss ich hartnäckig sein und notfalls zu ihm hinfahren.«
»Da bin ich gespannt.« Juna traute Linneas Hartnäckigkeit eine Menge zu. Vielleicht würden sie der Libelle doch noch auf die Spur kommen. Irgendetwas sagte ihr, dass das wichtig war für das Samenkorn der Idee, die in ihr reifte.