Feuer und Wasser

Juna wünschte sich, dass es in ihrem Kopf so ruhig wäre wie in der Landschaft um sie her. Zu viele Erinnerungen, Fragen und Zweifel tobten darin herum, und über allem lag die Traurigkeit, dass sie nie wieder sehen würde, wie Wilhelm und der Nyks in diesem Garten zufrieden Rauchringe bliesen und dabei über das Leben, den besten Kaffee und ihre neueste Düngerkreation für Hortensien diskutierten.

Gegen das Chaos in ihren Gefühlen und Gedanken gab es nur ein unfehlbares Mittel. Auch dies war etwas, das ihr der Nyks beigebracht hatte, kaum dass sie groß genug dafür war. Juna schob das Kajak wieder unter die Büsche, legte ihren Holzfund zum Trocknen unter das Dach und holte ihren Bogen. Er stand immer griffbereit hinter der Tür, neben der alten Milchkanne mit den Pfeilen.

Das Ziel bestand aus einem an den Kirschbaum genagelten Strohsack, auf den mit Farbe ein tennisballgroßer schwarzer Punkt und drumherum rote und gelbe Ringe gesprüht worden waren. Juna spannte den Bogen sorgfältig, wählte einen Pfeil und suchte sich einen sicheren Stand.

Jedes Mal war ihr dabei noch immer, als ob sie die Stimme ihres Großvaters hörte. »Denk an die Bodenhaftung! Du musst die Erde spüren. Die Füße sollten ein wenig nach vorne geöffnet sein. Halte deinen Kopf gerade! Nur den Rumpf ganz leicht vorbeugen. Die Sehne des Bogens hältst du immer mit drei Fingern.

Da war der Nyks streng. Sie durfte den Pfeil nicht loslassen, bevor er zufrieden war, egal, wie müde ihr Arm wurde. »Jawohl, so ist es gut. Die Haltung ist das Wichtigste am Bogenschießen, nicht das Treffen des Ziels! Das ist genau wie im Leben.«

Den letzten Satz hatte sie damals nicht verstanden, erst als sie schon viel älter war. Nichts von alledem, was er ihr beigebracht hatte, war so leicht umzusetzen. Auch jetzt noch nicht. Doch es beglückte sie, wie klar ihr Kopf dabei wurde, wenn sie sich nur auf ihre Haltung, auf das Gefühl der gespannten Sehne, auf das kleine Geräusch konzentrierte, das der Pfeil verursachte, wenn sie ihn schließlich losließ. Auf seine saubere Flugbahn, die so befriedigend war, wenn sie stimmte. Dann wieder das Geräusch, wenn er sein Ziel traf – oder eben verfehlte. In diesem Augenblick zählte nichts anderes.

Die ersten Schüsse setzte sie weit daneben, einen in die Ligusterhecke und zwei in den Holzstapel. »Das Atmen nicht vergessen! Du musst locker bleiben«, hörte sie ihren Großvater sagen.

Sie waren ihr beide so nahe, dass sie sich unwillkürlich umdrehte. Es war das Rauschen des Windes in den Erlen gewesen, und die Stimmen nur in ihrer Erinnerung. Und doch wusste sie, dass etwas von den beiden Männern für immer in den Wänden des alten Blockhauses wohnte, in den Hortensien und dem Kirschbaum, den Holzstapeln und dem moorigen Boden, auf dem sie stand. Und dass sie Juna behüteten.

 

Sie holte tief Luft, spürte die Erde unter ihren Sohlen, hob den Ellenbogen, fixierte das Ziel mit beiden Augen und ließ nicht nur den Pfeil los, sondern auch ihre Anspannung.

Batsch! Der Pfeil steckte mit einem dumpfen Aufschlag genau am Rand des schwarzen Mittelpunkts. Den sonnengelben Ring außen hatte er nur gestreift.

»Geht doch!«, sagte Juna laut. Beim Bogenschießen wünschte sie sich die Augen einer Libelle. Wenn eine Libelle ihre Beute nämlich einmal im Visier hatte und wusste, was sie wollte, war sie zu siebenundneunzig Prozent erfolgreich. Kein Wunder. Eine Libelle besaß bis zu dreißigtausend Facettenaugen!

Juna aber wusste noch nicht einmal, was sie wollte – außer gerade jetzt die Mitte treffen. Immerhin.

Es dauerte eine Weile, bis wenigstens jeder zweite Versuch wieder saß. Die Sonne war inzwischen verschwunden, diesmal hinter grauen Wolken. Es fing an zu nieseln. Juna legte den Kopf in den Nacken und spürte die Feuchtigkeit auf dem Gesicht wie eine Berührung. Das tat nach den Tagen in der staubigen Stadtluft gut. Wenigstens eines hatte sie den Libellen voraus: Regen konnte ihr nichts anhaben. Sie mochte ihn sogar. Wenn

Juna wählte den nächsten Pfeil.

Als sie zum fünften Mal hintereinander die Mitte getroffen hatte, ging es ihr besser. Jetzt tat ihr zwar der Arm weh, dafür hatte sich ihr Kopf geklärt. Ihr Handy vibrierte in der Hosentasche. Sie sah nach. Eine Nachricht von Kris.

 

Ich habe wieder einen Auftrag für dich, Mama. Erinnerst du dich an das Vogelhaus, das ich meinem Kollegen zur Hochzeit geschenkt habe, bevor er zurück nach North Dakota ging? Das hat dort voll eingeschlagen! Seine Nachbarn wollen beide auch eines. Kannst du das machen? Ich hab den Preis ein bisschen höhergeschraubt, das hat sie aber nicht abgeschreckt. Ich dachte, das lenkt dich auch ein bisschen ab. Tut mir wirklich leid mit Wilhelm. Liebe Grüße aus der Sonne, Kris.

 

Juna freute sich. Die Arbeit würde sie tatsächlich ablenken. Ihr kleines Unternehmen kam immer besser in Schwung! Vor allem, seit Kris ihr die Website erstellt hatte.

Als sie damit angefangen hatte, Vogelhäuser aus den Holzvorräten ihres Großvaters zu bauen, mit Reetdach und einem handgemachten Ständer aus Wurzelholz, war es nur ein Hobby gewesen. Das erste Exemplar hatte sie in ihren eigenen Garten gestellt, eines hatte sie Wilhelm geschenkt, eines Ben. Dann fing es an. Wilhelms Nachbar wollte auch eines. Der eine oder andere Tourist, der im Kahn vorüberfuhr und die Häuser in Bens oder Junas Garten sah, fragte nach, ob er eines bestellen könnte.

Sie entwarf verschiedene Modelle. Einige baute sie wie die traditionellen Blockhäuser, indem sie Miniaturbalken aus dem

Das war auch nötig gewesen, von irgendetwas musste sie schließlich leben, seit sie sich hier »so hoffnungslos vergraben« hatte, wie ihr Vater sich auszudrücken pflegte. Seit dem Tod des Großvaters waren ja dessen Rente und das Pflegegeld weggefallen. Aber dass auch den Amerikanern die Futterhäuschen aus dem deutschen Venedig, wie sie es nannten, gefallen würden und sie nicht einmal die Versandkosten scheuten, damit hätte Juna niemals gerechnet.

Sorgsam wischte sie die Feuchtigkeit vom Bogen und hakte die Sehne wieder aus. (»Stelle deinen Bogen niemals gespannt weg, sonst verliert das Holz seine Elastizität! Es muss sich ausruhen. Das gilt für Menschen übrigens auch.«) Der Bogen war aus derselben Esche geschnitzt, aus der der Großvater die »Rudel« hergestellt hatte, die langen Stangen, mit denen man einen Spreewaldkahn vorwärts stakte. Das Holz war leicht, und das musste es auch sein. Ein Rudel war bis zu vier Meter lang, denn so tief waren die Fließe an den tiefsten Stellen.

 

Später sah sie sich in der Werkstatt ihres Großvaters um, die er dort eingerichtet hatte, wo früher einmal ein Stall gewesen war. Die Werkzeuge hatte er teilweise schon von seinem Vater geerbt. Es war alles immer noch so anheimelnd und vertraut! Hier hatte Juna ihre ersten Schritte gemacht, nachdem sie sich an den Beinen der Hobelbank hochgezogen hatte. Später spielte sie mit den Bauklötzen, die der Nyks ihr aus Resten

Dem Großvater hatte es nichts ausgemacht, dass seine Enkelin am liebsten zuhörte, anstatt selbst zu reden. Er stellte nicht andauernd Fragen, wie es denn in der Schule lief, verlangte nie, dass sie berichtete, was sie gerade dachte. Anders als ihre Eltern fand er Juna völlig in Ordnung, so wie sie war. Ihre Eltern und auch ihre Lehrer waren da ganz anders. Sie machten sich ständig Sorgen, weil Juna manchmal nicht die Worte fand, um all die vielen Fragen der Erwachsenen zu beantworten. Wenn sie Hausaufgaben machte oder eine Klassenarbeit schrieb, dann flossen die Worte wie von selbst aus ihrem Kopf auf das Papier, und sie hatte fast immer eine gute Note. Doch wenn sie an die Tafel oder auch nur eine Antwort geben musste, starrte sie die Lehrer mit großen Augen an und suchte vergeblich nach Worten. Sie waren in solchen Momenten einfach nicht da, saßen unerreichbar irgendwo tief in ihr wie die Schilfwurzeln in der dunklen Erde des Spreewalds.

Juna hätte das nichts ausgemacht, wenn nur die Sorgen ihrer Eltern und die Vorwürfe der Lehrer nicht so schwer auf ihr gelastet hätten. In den Pausen blieb sie lieber allein. Das Geschrei der anderen Kinder auf dem Hof erschien ihr unerträglich laut. Außerdem brauchte sie Zeit, um über die vielen Dinge

 

Nur in den Ferien bei ihrem Großvater, da war alles anders. Er hatte überhaupt nichts an ihr auszusetzen. Natürlich verlangten auch er und Oma Gerti, dass sie ihre Schuhe abstreifte, sich die Hände vor dem Essen wusch, den Nachtisch erst hinterher aß und höflich guten Tag sagte, wenn sie einen Bekannten trafen. Ansonsten aber durfte sie sein, wie sie wollte. Wenn sie lieber mit einem Buch in der Ecke saß, anstatt auf ein Dorffest zu gehen, dann störte den Nyks das nicht im Geringsten.

»Der eine mag es so, der andere so«, sagte er. »Die Menschen sind so verschieden wie die Libellen. Bei denen wundert das auch keinen. Sie sind alle schön, jede auf ihre Art. Es wäre doch sehr langweilig, wenn sie alle gleich wären.«

»Aber die Lehrer sagen …«, begann Juna.

Der Nyks wischte die Lehrer mit einer Handbewegung weg.

»Hörst du ihnen zu, wenn sie dir etwas beibringen?«, fragte er.

Juna nickte.

»Dann ist alles gut. Mach dir keine Gedanken.«

»Vielleicht haben sie noch nie die Libellen gesehen«, sagte Juna.

»Das kann sehr gut sein. Reichst du mir bitte mal den Hobel dort?« Damit war die Sache für ihn erledigt. Und darum war

Oma Gerti war nicht anders gewesen, als sie noch lebte. Juna durfte ihr beim Gurkeneinlegen helfen und dabei, die Gläser mit dem Kahn zu den Kunden zu bringen. Und weder den beliebten Gurken noch Oma Gerti machte es etwas aus, wenn zu den Gewürzen nicht allzu viele Worte von Juna hinzukamen.

Was ihr noch gefiel, war, dass man in der Werkstatt mit den Händen tätig war. Mit ihren Händen hatte sie noch nie Probleme gehabt. Die arbeiteten gut mit ihrem Kopf zusammen. Dazu brauchte man nicht reden. Der Nyks hatte große, geschickte Hände gehabt, und Juna liebte es, ihm zuzusehen, wenn er aus einem Stapel langer Bretter mit all seiner Erfahrung und seinem Instinkt genau die richtigen auswählte. Sie stammten von hundertfünfzig Jahre alten Kiefern aus der Schorfheide. Es war ein feierlicher Prozess, bei dem man ihn niemals unterbrechen durfte.

Dann legte er die Bretter auf zwei Böcke und schnitt sie mit der Handkreissäge in Form. Juna konnte von dem Duft frischer Holzspäne kaum genug bekommen. An den Enden wurden die Bretter schmaler geschnitten. Dann klammerte er sie dort mit einer großen Schraubzwinge zusammen. Mit einem Handhobel, den er »Raubank« nannte, wurden die Kanten geglättet. »Da darfst du nicht schlampen, sonst wird der Kahn niemals dicht«, warnte er und zeigte ihr, wie man mit der Innenseite des Handgelenks erfühlen konnte, wo noch winzige Unebenheiten waren. »Dort, wo du auch deinen Herzschlag spürst«, erklärte er ihr.

Mit nassen Tüchern befeuchtete der Nyks nun das Holz und legte sie dann schützend über die Kanten. Dann wurde das vorher aufgeschichtete Biegefeuer angezündet. Die Flammen knisterten gewaltig, ihre Hitze breitete sich rasch aus. Juna durfte nicht zu nahe herangehen, aber sie blickte fasziniert in das gleißende Lodern, in dem so viele Farben hüpften.

Damit die Bretter nicht verbrannten, wurden sie immer wieder mit Wasser benetzt. Dazu benutzte der Nyks eine riesige Handspritze, die aussah wie die Spritzen beim Arzt, nur eben viel größer. Ben hatte ihr von Indianern und Medizinmännern erzählt. Juna wusste nicht genau, was ein Medizinmann war, außer dass er Macht hatte. Aber der Nyks sah jetzt bestimmt aus wie einer, fand sie.

Es dauerte ungefähr eine Stunde, während ihr Großvater das Feuer und die Bretter ganz genau bewachen und immer rechtzeitig mit der Spritze taktieren musste. Qualm und Wasserdampf hüllten die Szene ein. Wasserflecken und Ruß malten Muster auf seine Arbeitshose. Es zischte, als wären unsichtbare Drachen beteiligt, und auch das Holz gab gedämpfte Geräusche von sich. Juna konnte sich nicht sattsehen daran, wie der Dampf in dem bunten Licht Gespenster in die Luft sandte, die der Wind in einem langsamen Tanz auf die Fließe hinaustrug.

Ein Medizinmann war ganz bestimmt eine Art Zauberer.

 

Durch den Dampf und die Hitze wurde das Holz so weich, dass man es verformen konnte. Die Stützen am einen Ende wurden immer wieder durch kleinere ausgetauscht. So bog sich das Holz durch sein eigenes Gewicht. Die Schwerkraft war ein weiterer unsichtbarer Zauber, den der Nyks sich zum Gehilfen machte. Das Feuer leckte mit glühenden Zungen an den Brettern, die vor Feuchtigkeit glänzten und immer mehr Dampf am Dach vorbei in den Himmel trieben, bis der Großvater die Flammen schließlich löschte.

 

Über Nacht kühlten die Seitenbretter ab und trockneten im Nachtwind unter den Sternen. Mit der Bandsäge schnitt der Großvater dann auch die Zwischenbretter zurecht, mit denen der Kahn stabilisiert wurde. An diesen wurden die Seitenbretter nun angelehnt, und man konnte schon erkennen, wie das Boot einmal aussehen würde. An den Spitzen wurden die Seitenbretter dann mit zwei Stricken zusammengebunden. Mit angehaltenem Atem sah Juna zu, wie sich die Enden nur durch die Kraft des Großvaters aufeinander zubewegten und sich seine Muskeln unter dem Hemd dabei anspannten.

Nun sägte er die Bodenbretter. Mit einer Fräse, die ein ganz eigenes, heiseres Lied sang, bekamen sie an der einen Seite eine Nut und an der anderen eine Feder, so dass man sie später ineinanderstecken konnte. Wenn das Holz dann im Wasser aufquoll, wurden die Fugen dicht.

»Reich mir mal die Nägel, bitte!« Der Großvater sagte immer bitte, obwohl Juna nur ein Kind war. Sie freute sich jedes Mal

 

Nach alledem folgte der große Moment, in dem der Kahn umgedreht wurde, damit er nicht mehr mit dem Boden zuoberst lag. Es war wie eine Geburt. Weil er ungefähr zweihundertfünfzig Kilo wog, mussten die Nachbarn oder Freunde mit anpacken, und dann wurde gefeiert.

Fertig war er noch immer nicht. So einen Kahn zu bauen dauerte zwei Wochen. Es war etwas Großes, ein Ereignis.

Das innere Brett, das man den »Konz« nannte, und die Sitzbretter mussten jetzt auch noch montiert werden. Der Konz war sehr wichtig. Früher hatte man in dem Kasten, der an einem Ende des Bootes durch ihn entstand, die gefangenen Fische aufbewahrt. Man konnte ihn mit Wasser fluten, ohne dass der Kahn sank.

Endlich brachte man das Boot auf dem Karren nach draußen. Dort wurde es angestrichen.

»Vorsichtig!«, sagte der Großvater beim Transport. »Behandele einen Kahn immer mit Respekt und pflege ihn! Ein gutes Boot hat eine Seele.«

»Ja«, sagte Juna dann voller Verständnis, »es kann nur nicht reden.«

Der Nyks lächelte. »Genau.«

Endlich konnte man ihn ausprobieren! Juna durfte mit dem Großvater die erste Fahrt machen, so viele Tage, nachdem er die ersten Bretter ausgewählt hatte. »Für etwas Gutes braucht man Geduld und Zeit«, sagte der Großvater. »Und für einen guten Kahn außerdem Feuer und Wasser. Das eine geht nie ohne das andere. Es ist wie mit Herz und Verstand. Das eine muss brennen, das andere kühlen. Mit beidem zusammen kannst du die richtige Form finden, ohne dass etwas bricht oder verbrennt. Das erkennst du an nichts anderem so deutlich wie an einem Spreewaldkahn.«

Nur dass dies mit dem Holz irgendwie deutlich einfacher war als bei so manch anderem. Juna musste jetzt, mit dreiundfünfzig Jahren, noch einmal ganz neu herausfinden, wofür sie brannte.