Linnea lief in ihrem Zimmer auf und ab und wartete darauf, dass ihr Handy endlich ein Signal von sich gab. Sie hoffte nicht nur ungeduldig auf eine Nachricht von Professor Hersfeld wegen des Klosterarchivs. Noch wichtiger war ihr eine Rückmeldung von Siegfried, dem sie ihren Film über Remys Geschichtengarten geschickt hatte. Tagelang hatte sie daran herumgeschnitten und gefeilt, die passende Musik herausgesucht, die Kommentare immer wieder geändert. Hier gekürzt, dort noch etwas dazwischengeschoben. Szenen vom Anfang an das Ende gelegt und wieder rückgängig gemacht. Halbe Nächte hatte sie durchgearbeitet, bis sie endlich zufrieden war.
Heute Vormittag hatte Juna ihr den Strand gezeigt, wo jetzt der kleine Leuchtturm stand, ganz nahe an der Stelle, wo einst die Luchte der Mönche in einem Turm an der Gellenkirche gebrannt hatte. Es war windstill gewesen, das Wasser glasklar, und sie hatten tatsächlich, wie im Inselführer angegeben, einige Meter vom Ufer entfernt im Wasser die letzten Reste der steinernen Fundamente von Turm und Kirche sehen können.
Linnea war eine Gänsehaut die Arme hinauf- und dann ihren Rücken hinuntergelaufen. Es war ihr gegangen wie angesichts des Modells im Museum. Sie glaubte, eine Stimme zu hören, die ein lateinisches Gebet murmelte, und eine Gestalt zu sehen, die eine Angelrute auswarf. Sie hatte eindeutig zu viel Phantasie für eine Journalistin, die sich an Fakten zu halten hatte!
In dem Beitrag für Siegfried aber hatte sie dies peinlich genau getan, soweit es möglich war. Sie hatte von den Pflanzen berichtet und von Remys Idee. Dabei hatte sie den Schwerpunkt auf die Menschen gelegt, die hergekommen waren, eine Pflanze eingesetzt hatten, die eine Bedeutung für sie besaß, und ihre Geschichte mitgeteilt hatten. Von Naturschutz hatte sie kaum gesprochen, sie wusste ja, wie ablehnend Siegfried solchen Themen gegenüber war.
Doch als Linneas Handy endlich einen Laut von sich gab, war es weder Siegfried noch Professor Hersfeld, sondern eine Nachricht von Reon.
Liebe Linnea, heute war kein guter Tag. Ich stand wieder vor dem Meeresmuseum und habe versucht, Spenden oder Mitglieder zu gewinnen, aber ich bin von mehreren Passanten ziemlich böse angefeindet worden. In solchen Momenten frage ich mich, ob ich das Richtige tue, ob es das wert ist. Aber dann denke ich wieder daran, wie es ist, draußen auf der Ostsee einem Wal zu begegnen, und dann weiß ich wieder, wofür ich es mache. Heute aber habe ich mich damit getröstet, an dich zu denken. Da ging es mir gleich richtig gut. Hast du etwas von dem Professor gehört? Ich freue mich riesig darauf, dich in ein paar Tagen wiederzusehen. Dann werde ich dir Tonke und Claudia vom Nationalparkhaus vorstellen. Sehr nette und engagierte Leute. Vielleicht können sie dir einmal bei einem Beitrag unter die Arme greifen. Ich drücke dir heftig die Daumen, dass dein Chef deinen Film vom Geschichtengarten mag. Bis bald, dein Reon.
Er mochte sie also auch. Sie hatte es in Stralsund zwar deutlich gespürt, aber sie hatte es nicht zu glauben gewagt.
Hiddensee brachte anscheinend nicht nur Juna Glück.
Diesmal klingelte das Handy mit der Nummer von Siegfried. Endlich!
»Hallo, Linnea.« Sie hörte an seinem Tonfall, dass er einigermaßen guter Stimmung war. »Ich habe mir deinen Beitrag angesehen, vielen Dank dafür. Er gefällt uns recht gut. Wir möchten ihn nächste Woche im Gartenmagazin senden. Ein wenig müssen wir allerdings noch kürzen. Wir machen nur den Teil mit dem Geschichtengarten, das mit der Zeitschrift Mervins Garten und die Sache mit dem Insektenschutz lassen wir weg. Aber der Teil mit dem Platz für wachsende Geschichten ist gut, das berührt die Menschen. Ich gehe davon aus, dass du einverstanden bist. Mehr Sendezeit haben wir sowieso nicht. Wir mussten deswegen schon einen anderen Beitrag nach hinten schieben.«
Linnea seufzte innerlich, aber sie hatte nichts anderes erwartet. Hauptsache, er sendete überhaupt etwas von ihr. Nicht, dass sie irgendwann ganz raus war aus dem Geschäft. Juna würde sie nicht ewig bezahlen. Sie brauchte auch das Geld. Remy würde es auf jeden Fall freuen, wenn noch mehr Leute wenigstens von ihrem Garten erfahren würden und sich etwas darunter vorstellen konnten.
»Ja, einverstanden. Vielen Dank, Siegfried.«
»Wie geht es dir eigentlich? Kommst du bald wieder nach Berlin? Ich könnte dich hier schon gebrauchen. Es gibt jede Menge Theaterpremieren, und in Charlottenburg wurde ein neues Einkaufszentrum eröffnet. Zwei von den jungen MoJos sind krank, und einer ist nach Südamerika gegangen. Alle wollen nur noch das Besondere machen. Für die tägliche Arbeit ist kaum noch einer da. Auf dich konnte ich mich wenigstens verlassen. Bist du nicht inzwischen genug am Meer herumgeturnt? Ihr jungen Hüpfer erholt euch doch fix.«
Das war gut. Er vermisste sie. Sie würde wieder für ihn arbeiten können. Aber es klang nicht so, als würde sie ihm in nächster Zeit ihre Neugierige Minute vor dem Wetterbericht aufschwatzen können. Linnea dachte an den toten Wal und an das verhasste Gefühl von Hilflosigkeit, als sie ihn gefunden hatte. Sie musste sich etwas einfallen lassen.
»Ich komme wieder, wenn ich hier fertig bin, Siegfried. Du weißt doch, ich habe einen Job als Assistentin angenommen. Wenn ich die Recherchen beendet habe und meine Auftraggeberin mich freigibt, dann komme ich wieder. So war es ausgemacht.«
»Ja, ja, ist schon gut. Pass auf dich auf, Mädchen, und iss ordentlich. Bis bald. Ich schicke dir noch den genauen Sendetermin.«
Das Telefonat hatte Lineas Stimmung noch weiter angehoben. Jetzt musste sich nur noch der Professor melden.
Da fiel ihr ein, dass sie Reon noch gar nicht geantwortet hatte.
Lieber Reon, ich freue mich auch sehr auf dich. Es tut mir leid, dass du so einen bedrückenden Tag hattest. Ich habe mich auch schon gefragt, ob es sich lohnt, was du auf dich nimmst. Wäre es vielleicht besser, du würdest dich auf die Forschung und die Veröffentlichung eurer Ergebnisse konzentrieren? Hast du nicht lange genug um Spenden gekämpft? Das muss doch viel Kraft kosten. Ich schicke dir in Gedanken welche.
Seine Antwort kam prompt.
Das mit dem Veröffentlichen ist wohl eher dein Ressort. Meine Stärke ist es nicht. Aber auch, wenn ich oft zweifele, es lohnt sich, was wir tun, Linnea! Nicht heute oder morgen, aber irgendwann. Tausend kleine Schritte – wir müssen sie machen. Es wird nicht von allein geschehen, dass wir besser mit der Umwelt umgehen, aber ich glaube daran, dass wir es lernen werden, alle zusammen. Ich glaube an die Menschen. Sie müssen es nur verstehen, und das dauert. Weißt du, wenn wir an das Mittelalter denken, dann betrachten wir mit einer Mischung aus Ekel, Verwunderung und Mitleid, wie sich damals offene Gräben voller Abfall und Fäkalien durch die Straßen zogen und man nicht wusste, dass die Ratten die Pest verbreiten. Ich denke, dass man irgendwann in der Zukunft auf unsere heutige Zeit ähnlich blicken wird. Voller mitleidigem Entsetzen, dass wir Kohle verbrannt, Autos mit Benzin gefüllt und in Städten eine Luft geatmet haben, die die Wäsche schwarz färbte, wenn man sie in den Garten hing.
Ich glaube fest daran, dass wir uns ändern können. Wir Menschen sind so lern- und anpassungsfähig. Wir müssen nur endlich damit anfangen, das als Stärke zu sehen und uns nicht von der kleinlichen Angst vor Veränderung lähmen lassen. Da lohnt sich jeder winzige Schritt, den du und ich dazu beitragen können.
Hilfe, war das eine Predigt? Als Mönch wäre ich auch mit dem Abt aneinandergeraten, oder? Du sagtest ja, manche Mönche wurden Pfarrer, als das Kloster aufgelöst wurde. Ich kann mir direkt vorstellen, wie dein Bruder Timmo von der Kanzel herunter gewettert hat. Wenn ich damals gelebt hätte, wäre es mir sicher ähnlich gegangen.
Linnea sah auf die drei Smileys dahinter und sah vor sich, wie Reons Augen blitzen und er sich in Feuer schrieb.
Ich habe mich verliebt, dachte sie, und es ist ganz anders als jemals vorher. Ob das gut ist? Sie war glücklich und verwirrt und ängstlich, alles auf einmal.
Um sich abzulenken, schrieb sie noch einmal eine kurze Mail an den Professor, wie wichtig ihr die Sache war und wie sehr sie auf eine Antwort hoffte, und dass sie auch bereit wäre, nach Lübeck zu kommen und das Archiv persönlich zu durchsuchen, wenn er keine Zeit hätte.
Reon hat recht, dachte sie. Ich muss etwas tun, etwas ändern. Ich muss viel mehr Beiträge in die Öffentlichkeit bringen, aber eben so, dass sie die Menschen berühren, nicht belehren. Alles andere nützt nichts. Was Remy mit ihrer Zeitschrift gelungen ist, das muss mir auch gelingen. Ich werde einen Weg finden. Wenn Reon kommt, spreche ich mit ihm darüber. Er hat so gute Ideen.
Linnea stellte sich Bruder Timmo ähnlich vor wie Reon. Voller Begeisterung, mit funkelnden Augen und überzeugenden Worten. Eine Begeisterung, die dreihundert Jahre später noch auf den Pfarrer von Wittow abgefärbt hatte.
Es musste ja Schriften gegeben haben, entweder von Bruder Timmo oder über ihn. Woher sonst hatte der Pfarrer Kosegarten von ihm gewusst?
Nach einer unruhigen Nacht erwachte Linnea davon, dass ihr die Sonne direkt durch das Fenster auf die Nase schien. Sie setzte sich auf, versuchte, den wirren Inhalt ihrer Träume aus ihrem Kopf zu verbannen, und betrachtete staunend, wie die aufgehende Sonne die Herbstfarben in den Bäumen aufglühen ließ. Das Licht verlieh dem Gold und Rot und den Bronzetönen beinahe eine weitere Dimension. Die beleuchteten Flächen hoben sich von jenen im Schatten so sehr ab, dass die Landschaft wie eine Skulptur wirkte. Der Bodden im Hintergrund mit dem Morgennebel und der Silhouette eines Fischkutters, der daraus auftauchte, wirkte dagegen wie eine Szene aus ihren Träumen. Der Leuchtturm und gestrandete Schiffe hatten eine Rolle darin gespielt.
Noch im Schlafanzug tappte Linnea zu ihrem Laptop und öffnete ihn. Endlich! Eine Mail von Professor Hersfeld. Eine mit Anhang.
Sehr geehrte Frau Joneleit,
wie ich Sie verstanden habe, suchen Sie nach Informationen über die Mönche, die Anfang des 16. Jahrhunderts im Kloster Hiddensee gelebt haben. Vor allem fragten Sie nach Porträts und nach weiteren Informationen über eventuelle wertvolle Besitztümer des Klosters in Zusammenhang mit dem angeblichen vergrabenen Schatz. Nun, die besagten Apostelfiguren hat es nach meiner Kenntnis nie gegeben. Bei dieser Sage handelt es sich gewiss um eine reine Legende. Ich konnte jedoch für Sie einige Bildnismedaillons kopieren, die ich in einer alten Schrift gefunden habe. Sie sagten ja, es ginge Ihnen hauptsächlich darum, sich das Leben eines solchen Mönchs vorstellen zu können. Und sie fragten nach einem gewissen Bruder Timmo, der einst den Pfarrer von Wittow inspiriert haben soll. In dieser Hinsicht haben Sie Glück. Als die Klosterbibliothek aufgelöst wurde und die enthaltenen Schriften auf Universitäten und andere Klöster verteilt wurden, waren darunter auch persönliche Aufzeichnungen einiger der Mönche. Die Kirche hatte wenig Interesse daran, und so fanden sie sich später in einer Universitätsbibliothek wieder. Ich weiß, dass einer meiner Studenten einen Teil dieser Aufzeichnungen vor Jahren aus dem Lateinischen übersetzt und in ein modernes Deutsch übertragen hat. Er betrachtete es als Übung im Rahmen seines Lateinstudiums. Er hatte Caesar und die punischen Kriege satt und war auf der Suche nach einem unbekannten lateinischen Text. Es ist schon einige Zeit her, und ich habe keine Kenntnis darüber, wo die Originale dieser Tage untergebracht sind, aber ich kann Ihnen die Adresse des Studenten geben. Vielleicht stellt er Ihnen die Texte zur Verfügung.
Ich hoffe, ich konnte Ihnen zumindest mit den Bildnissen weiterhelfen und wünsche Ihnen viel Erfolg für Ihre weiteren Recherchen.
Mit freundlichen Grüßen,
H. Hersfeld
Ungeduldig klickte Linnea auf den Anhang.
Die Bildnismedaillons waren verblüffend fein und ausdrucksstark gezeichnet. Linnea blickte lange darauf, weil sie über die Jahrhunderte hinweg immer noch so lebendig wirkten. Bruder Archibald, Bruder Theobald, Bruder David, Bruder Berthold, Bruder Hieronymus. Linnea schloss die Augen und gab den Menschen, die in ihrer Vorstellung durch den Kreuzgang gewandelt waren, endlich ihre Gesichter. Erst nach einer Weile öffnete sie die Augen wieder und bemerkte, dass sie noch nicht ganz nach unten gescrollt hatte.
Und da war er. An zweitletzter Stelle vor einem Bruder Jeremias sah sie sein Gesicht.
Sie sah dreimal hin, um sich zu vergewissern. Verschnörkelt, jedoch deutlich lesbar stand da Bruder Timmo, Anno Domini 1536. Das Jahr, in dem das Kloster aufgelöst wurde. Ob er so nachdenklich blickte, weil er das schon gewusst hatte, oder war das immer so gewesen? Sein Ausdruck erschien ihr klug und gütig, doch auch irgendwie ungeduldig. Sein Kinn und seine Nase wirkten energisch, und sein Blick war, wie sie es sich vorgestellt hatte, voller Lebendigkeit, wachen Interesses, Begeisterung für das Leben – so wie Reons. Er trug einen Bart und eine Halbglatze, das Habit der Zisterziensermönche und um den Hals das übliche Kreuz, welches auch die Mönche auf den anderen Bildnissen in der einen oder anderen schlichten Form trugen.
Doch halt!
Träumte sie noch?
Linnea vergrößerte das Bild. Die Auflösung war nicht gut, es wurde zu unscharf dadurch. Sie stellte die Größe wieder zurück und kniff die Augen zusammen.
Beinahe hätte sie das Klopfen nicht gehört.
»Linnea? Alles in Ordnung? Willst du heute nicht frühstücken?«
»Komm rein, Juna, ich muss dir unbedingt etwas zeigen! Ich wollte dich gerade rufen, damit du mir sagst, ob ich halluziniere. Der Professor hat ein Porträt von Bruder Timmo geschickt. Sieh es dir ganz genau an.«
Juna beugte sich über Linneas Schulter. »Das ist Bruder Timmo? Interessant. Er sieht sympathisch aus. Ein bisschen wie Reon, wenn man ihn sich jünger vorstellt und ohne Bart, findest du nicht?«
»Das meine ich nicht. Sieh dir das Kreuz um seinen Hals an! Oder nein, sieh dir erst die Kreuze der anderen Mönche an, und dann Bruder Timmos.«
Junas Blick wanderte von einem Bild zum anderen und dann wieder zu Bruder Timmos. »Das kann doch nicht sein! Das ist …«
»Richtig. Das ist überhaupt kein Kreuz. Es sieht nur auf den ersten Blick so aus. Die Größe stimmt, und die Form natürlich auch beinahe. Aber es ist kein Kreuz, es ist …«
»Eine Libelle.«
»Es ist deine Libelle.«
»Bist du sicher? Es sieht tatsächlich so aus. Aber es könnte ja mehrere davon gegeben haben.«
»Nein.« Linnea vergrößerte das Bild noch einmal. »Ich weiß, jetzt ist es unscharf, aber die Kante kann man noch erkennen. Sieh dir den rechten unteren Flügel an. Da ist eine kleine Scharte. Die ist mir bei deiner Libelle auch aufgefallen. Ich dachte, sie käme wahrscheinlich daher, dass die Libelle ja vergraben worden ist, vielleicht in Hast. Aber anscheinend war sie schon vorher beschädigt. Es sieht ganz natürlich aus und fällt nicht weiter auf.«
»Ich habe schon oft Libellen gesehen, deren Flügel ebenso beschädigt waren, vom Angriff eines Vogels zum Beispiel«, sagte Juna langsam. »Linnea, das ist ja …«
»Verrückt, ja. Und auch wieder nicht. Die Libelle wurde in der Keramik vergraben, die einst zum Kloster gehörte. Das Kloster wurde aufgelöst. Die Mönche mussten fortgehen. Wäre es da nicht ganz verständlich, wenn sie etwas zurückließen, so wie es Wilhelm getan hat, als er gehen musste? Dein Wilhelm tat es, um später einen Nachweis liefern zu können, aber ich glaube, dass er es auch tat, um eine Spur zu hinterlassen, eine bleibende Verbindung zu haben. Stell dir einmal vor, du müsstest den Spreewald verlassen. Würdest du nicht auch irgendetwas in deinem Garten vergraben, nur um zu wissen, dass es dort ist? Wie eine Wurzel sozusagen?«
Juna setzte sich aufs Fensterbrett und nickte langsam. »Doch. Wahrscheinlich. Du hast recht.«
»Etwas, das dir wichtig ist. Bruder Timmo trug die Libelle anstelle eines Kreuzes. Sie muss ihm etwas bedeutet haben. Und als er ging, hat er sie vergraben. Ich habe nachgesehen, das Grundstück, auf dem Wilhelms Hotel stand, gehörte einst zu den Ländereien des Klosters. Vielleicht war dort ein Feld, auf dem Bruder Timmo gearbeitet hat.«
»Ich staune nur, dass er die Libelle tragen durfte«, überlegte Juna. »Ich meine, das Habit war vorgeschrieben. Es gab klare Regeln, bis heute, soweit ich weiß. Und Schmuck und so etwas durften die Mönche nicht besitzen. Sie sollten doch enthaltsam und einfach leben.«
»Ja. Schon seltsam. Darüber werden wir wohl nichts herausfinden. Immerhin, der Professor hat mir eine Adresse gegeben. Es kann sein, dass ich mit Glück noch an Aufzeichnungen von Bruder Timmo selbst komme. Wäre das nicht unfassbar spannend?«
Juna lächelte. »Bruder Timmo hat es dir wirklich angetan. Für mich genügt es schon, nun zu wissen dass die Libelle aus dem Kloster kam. Sie ist also wirklich alt und es gibt keine Familie, die wir noch suchen können, der sie gehören könnte. Wilhelms Frage wäre damit beantwortet. Was mache ich jetzt damit? Meinst du, sie gehört rechtlich noch den Zisterzienserklöstern? Eines davon ist sicher der Rechtsnachfolger vom Kloster Hiddensee.«
Linnea schüttelte den Kopf. »Es ist eine Libelle, kein Kreuz. Es muss etwas Privates gewesen sein. Wenn Bruder Timmo sie hier vergraben hat, dann wollte er bestimmt, dass sie hierbleibt.«
»Ich werde es mit Jannis besprechen. Ich muss ihm ja sowieso erzählen, was wir herausgefunden haben. Ich meine, was du herausgefunden hast. Danke, Linnea! Das war hervorragende Arbeit. Ich wusste, dass du es kannst.«
»Das war gar nicht mehr so schwierig, nachdem wir die Kachel im Heimatmuseum entdeckt haben. Ich werde dieses Porträt in meinen Film einbauen und dann an den ehemaligen Studenten schreiben. Ich muss unbedingt an die Aufzeichnungen kommen! Was für ein Glück, dass dieser Student sie in ein modernes Deutsch übersetzt hat. In Latein war ich eine völlige Niete.«
»Wollen wir jetzt erst mal frühstücken gehen? Es gibt sonst nichts mehr«, sagte Juna.
»Ich komme gleich. Geh schon mal vor. Ich muss nur noch rasch eine E-Mail schreiben.«
Linnea starrte schon wieder auf das Porträt. Ihr war, als würde Bruder Timmo ihren Blick erwidern.