Ab und zu blieb Jannis stehen und sah sich beglückt um. Juna folgte seinem Beispiel und ließ den Blick schweifen. »Dafür gibt es keine Worte«, sagte sie leise.
»Muss es auch nicht«, sagte Jannis. »Es genügt, dass es da ist und wir es sehen dürfen. Ich kann nie genug davon bekommen, und es scheint immer wieder neu. Jedes Mal stehe ich hier voller Andacht und Dankbarkeit, einfach nur, weil ich an diesem Ort sein und atmen und schauen darf.« Weil seine Worte so genau das trafen, was Juna im Innersten empfand, konnte sie nicht anders. Ehe es ihr bewusst wurde, hatte sie ihre Hand in seine geschoben. Er umfasste sie warm und fest.
Lange standen sie dort, bevor sie sich losreißen konnten.
»Wir sind noch nicht ganz da«, sagte Jannis schließlich. »Komm.«
»Schöner kann es doch nicht mehr werden.«
»Warte es ab. Und sei bitte vorsichtig. Hier wird es steil, und manchmal ist es glitschig.«
Sie waren auf dem Weg den Dornbusch hinauf, aber diesmal nicht in Richtung Leuchtturm. Der Pfad wurde tatsächlich immer steiler. Juna kam ins Schnaufen und musste an die Berge denken.
Adrian, ich weiß, du hast gelacht, als ich gesagt habe, dies hier sei ein Berg. Aber für mich ist es einer.
Also diesen steilen Weg kannte ich auch noch nicht, als ich das gesagt habe. Außerdem kommt es nicht mehr darauf an, was ich denke. Wenn es für dich ein Berg ist, ist es ein Berg.
Du hast auch gesagt, man könne hier auf Hiddensee nicht fliegen. Das stimmt nicht. Ich kann fliegen! Ich brauche gar keine Flügel dafür. Wenn ich hier innehalte und mich umsehe, das Meer da unten, diese Landschaft, all diese Farben und Formen und diese grandiose Schönheit, die beinahe zu groß ist, um sie auszuhalten, dann fliege ich, ohne mich einen Zentimeter zu bewegen.
Das ist gut so. Guten Flug, Schatz! Ich wünsche dir immer genügend Wind unter den Flügeln deiner Seele.
Als sie fast oben waren, rutschte Juna doch aus und plumpste unsanft in einen Ginsterbusch. Sie musste hell auflachen, aber Janis wandte sich besorgt um. »Hast du dir weh getan?«
»Nein, höchstens meiner Würde. Du darfst ruhig lachen. Es ist alles in Ordnung.«
Er reichte ihr eine Hand, zog sie hoch und noch ein paar Schritte weiter, ohne sie wieder loszulassen. Dann fasste er sie bei den Schultern und drehte sie sanft um. »Wir sind hier. Auf dem Svantiberg. Und wie immer ganz allein. Hier kommt fast nie jemand hin.« Auch Jannis war etwas außer Atem. »Diese Pfade sind ein bisschen abseits von den ausgetretenen. Aber ich mag den Blick von hier noch lieber als den vom Leuchtturm aus. Die unvergleichliche Aussicht, und dass man allein hier oben ist mit all den Wundern. Nur die vielen Vögel lieben den Ort ebenso wie ich.« Tatsächlich hüpfte ein Rotkehlchen ganz nahe bei ihnen durch das welkende Gras, eine Bachstelze saß auf einem Findling und betrachtete die Besucher nachdenklich, und ein Schwarm Haubenmeisen zwitscherte in einem Sanddornbusch, der schwer an reifen Beeren trug.
Hier oben pfiff der Wind, und doch waren sie hinter den dichten Büschen geschützt. Das Gebüsch wechselte sich ab mit freien Ausblicken in alle Richtungen. Es war kaum zu glauben, aber von diesem Punkt aus schien das Meer noch erschütternder tiefblau als von allen anderen Orten, die Juna bisher besucht hatte. Die Insel in ihrer ganzen Länge breitete sich zu ihren Füßen aus, der Alte Bessin und der Neue, auch bis hin zum Gellen konnte man alles sehen, und im Hintergrund lag Rügen. Unten schäumte das Meer gegen die Klippen. Und über allem thronte der weiße Leuchtturm. Es ist alles gut, schien er zu sagen.
Juna breitete die Arme aus und wiederholte ihre Worte, diesmal laut und zu Jannis. »Hier oben kann ich ohne Flügel fliegen. Vielen Dank, dass ich dich hierher begleiten durfte, Jannis!«
Er strahlte sie an. »Um den Ausdruck in deinen Augen zu sehen, hat es sich allein schon gelohnt. Ich habe diesen Ort bisher noch mit niemandem teilen wollen, aber mit dir möchte ich es immer wieder tun.«
Er legte seinen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Juna lehnte sich bereitwillig an ihn.
Der Leuchtturm hatte recht. Alles war gut.
Sie suchten sich einen Platz auf einem umgefallenen Baumstamm und saßen lange dort. Dann schlenderten sie ein Stück weiter, immer noch auf der Höhe, dahin, wo alles rundherum frei war. Juna konnte nicht anders, sie legte sich an einer trockenen Stelle rücklings in das herbstliche Gras und sah in den Himmel auf.
Und dann erzählte sie Jannis von der Idee, die sich seit Tagen in ihr entwickelt hatte wie der zärtlich gehegte Keimling einer Lieblingsblume. Wo, wenn nicht hier?
»Jannis, ich werde einen neuen Garten anlegen. Hier auf Hiddensee. Ich werde mit Wilhelms Vermächtnis ein Grundstück pachten oder kaufen und dort einen Garten erschaffen. So, wie es Remy Kreyhenibbe auf Rügen getan hat. So, wie ich es zu Hause gemacht habe. Und dennoch anders. Wilhelm hatte wohl recht. Seine Libelle hat mich hierhergeführt.«
Jannis setzte sich neben sie. »Ist das dein Ernst? Dann müsstest du oft hier sein. Juna, das wäre … «
Sie lächelte ihn an. »Ja. Das ist auch ein Grund.«
»Erzähl mir alles darüber!«
»Du findest es nicht verrückt?«
»Es ist das Schönste, was ich seit langem gehört habe. Darf ich dir dabei helfen?«
»Darauf zähle ich. Du bekommst ein ganzes Beet nur für deine Purpurglöckchen.«
»Juna, wirklich? Du lässt mich an deinem Abenteuer teilhaben?« Er sprang auf und zog sie hoch. »Das müssen wir feiern! Lass uns zum Klausner gehen, und unterwegs erklärst du mir deine Pläne.«
Und so eröffnete sie ihm, worüber sie auch schon mit Frau Hiller gesprochen hatte. Da war sie sich noch nicht sicher gewesen. Noch war es nur ein Traum, der ihr erst ungreifbar und unmöglich schien. Aber Frau Hiller hatte das anders gesehen.
Am Anfang der Reise, als Juna im Norderende die Kieselsteine mit den Namen der Gäste darauf gesehen hatte, hatte sie sich gewünscht, auf Hiddensee auch eine Spur zu hinterlassen, und sei sie noch so klein.
Jetzt würde die Spur etwas größer ausfallen.
Juna hatte Frau Hiller von Linneas Recherchen erzählt. Auch von dem Lesegarten im Hof des einstigen Zisterzienserklosters. »So einen Ort würde ich gern erschaffen. Es war eine solche Erfüllung für mich, den Garten meines Großvaters neu zu gestalten. Nun möchte ich unbedingt einen weiteren Garten anlegen, obwohl ich im Grunde nur wenig davon verstehe. Wenn ich jung wäre, würde ich jetzt Gartenbau studieren.«
»Warum studieren? Sie können es doch«, sagte Frau Hiller. »Sie haben mir die Bilder Ihres Gartens gezeigt. Selten habe ich ein Stückchen Erde gesehen, auf dem alles so überschwänglich gedeiht. Wozu wollen Sie jung sein? Sie haben genug Wissen, haben die nötige Erfahrung, und was fehlt, können Sie sich selbst aneignen.« Sie goss Juna Tee ein. »Warum tun Sie nicht einfach, was Ihnen so am Herzen liegt? Haben Sie denn die Mittel dafür? «
»Ja, glücklicherweise habe ich die Mittel dazu. Wilhelm hat sich ausdrücklich gewünscht, dass ich damit etwas Besonderes verwirkliche. Das ist also nicht das Problem. Ich könnte einen Teil des Jahres im Spreewald verbringen und einen Teil auf Hiddensee. Solange ich hier bin, kann Ben mein Haus vermieten, zusammen mit den Hütten, die zu seinem Hotel gehören. Aber hier ein Grundstück zu finden, und dazu eines, das für meine Pläne geeignet wäre … das ist bestimmt sehr schwierig.«
»Ach«, sagte Frau Hiller und schmunzelte in ihre Tasse. »Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht. Da gibt es eine Menge alteingesessene Bekannte, die ich dazu befragen kann. Lassen Sie mich mal machen. Es kann allerdings eine Weile dauern. Wie geht es übrigens Ihrem Sohn?«
»Kris ist befördert worden und hat neuerdings eine Freundin. Er klingt glücklich.« Juna musste schlucken. Sie hatte sich vorgenommen, so wenig wie möglich daran zu denken. Aber dann sprach sie doch aus, was sie seit Kris’ letzter Nachricht bedrückte. »Und er bringt ihr das Gleitschirmfliegen bei.«
Frau Hiller legte eine Hand auf Junas. »Oh je. Das müssen Sie aushalten. Sie können es.«
»Ich weiß. Aber es ist schwer.«
»Das wird ein ganz besonderer Garten«, sagte auch Jannis jetzt mit leuchtenden Augen, während sie sich beim Klausner einen Tisch suchten.
»Das soll er auch. Wenn ich etwas mache, dann richtig! Es wird einen Teich geben, denn ich möchte, dass sich Libellen dort wohlfühlen. Aber vor allem geht mir das Bild der lesenden Mönche nicht aus dem Sinn. So wie einst Linneas Bruder Timmo würde ich gern ungestört an einem solchen schlichten, stillen Platz sitzen und mich in ein Buch vertiefen können. Nur mit dem Summen der Bienen und Brummen der Rosenkäfer um mich herum, dem Duft von Lavendel, Rosmarin und Geißblatt, dem Plätschern des Brunnens. Mit anderen, die dort sitzen, über die Geschichten sprechen und über die Blumen.« Juna schwieg, während die Kellnerin Kaffee und Strudel servierte. »Ich möchte einen Teil des Gartens als einen solchen öffentlichen Lesegarten anlegen«, fuhr sie dann fort. »Dazu muss ich keinen Klosterhof bauen. Laubengänge täten es auch, die einen besonderen Platz einrahmen. Einen klar und einfach gestalteten Platz mit einem Brunnen. Es wird Bänke an windgeschützten Plätzen geben, im Schatten und in der Sonne. Und ich möchte eine kleine Bibliothek, die vom Garten aus erreichbar ist. Vielleicht nur in einem großen Schrank, einem Armarium, wie die Mönche es in manchen der Klöster hatten, oder in einem Pavillon.«
»Was für Bücher?«, fragte Jannis, der so konzentriert zuhörte, dass der Apfelstrudel auf seinem Teller kalt wurde.
»Da möchte ich mich an das Prinzip von Remy Kreyhenibbes Geschichtengarten anlehnen. Gäste könnten ein Exemplar ihrer Lieblingsbücher stiften und eine Karte hineinlegen, auf der sie schreiben, was ihnen gerade diese Geschichte bedeutet. Was das Buch in ihrem Leben verändert, angestoßen oder erträglicher gemacht hat, zu was es verführt oder in welcher Weise es beglückt hat, zum Nachdenken angeregt oder neue Perspektiven eröffnet. Sie könnten auf den Bänken verweilen und miteinander darüber sprechen oder einfach nur still an dem teilhaben, was sie in den Büchern der anderen vorfinden. Niemand muss reden, der nicht möchte.« Juna gestikulierte mit ihrer Kuchengabel, um ihre Worte zu unterstreichen. »Weißt du, als Kind hat man mir ein schlechtes Gewissen gemacht, weil ich immer so still war.«
»Mich haben sie genauso gequält«, sagte Jannis ungewohnt heftig. »Ich weiß genau, wie schuldig und verwirrt man sich dabei fühlt.«
»Siehst du. Für mich selbst wird der Garten eine Brücke zu anderen Menschen sein und mir gleichzeitig den Ruheraum geben, den ich brauche. Vielleicht schreibe ich auf das Schild ›Offen is, wenn offen is‹, so wie im Norderende. Auch für Geschichten wie unsere, die Geschichten von und für Introvertierte, wird Raum in der Bibliothek sein, damit sie gehört werden, ohne dass man sie laut vortragen muss. Mein Garten soll ein Platz für Erwachsene und Kinder werden, an dem sie ohne schlechtes Gewissen schweigsam sein können und sich zurückziehen, wenn ihnen danach ist. Mit Hilfe von Linnea möchte ich das öffentlich machen. Sie hat die dafür nötige Wortgewandtheit und Geselligkeit, die mir fehlt. Es muss mehr darüber gesprochen werden, dass es keine Sünde und keine Krankheit ist, wenn man die Stille einer Disco vorzieht und ein Buch dem Theaterbesuch. Ich will dazu beitragen, dass es mehr Akzeptanz in unserer Gesellschaft findet, wenn jemand die Ruhe und die Natur liebt statt lauter Musik und Pressebälle. Das ist meine Gelegenheit dafür.«
»Der richtige Ort zur richtigen Zeit«, sagte Jannis.
»Ja. Und der richtige Anstoß. Linnea mag an Bruder Timmo, dass er ein wissbegieriger Rebell war und sich für die Natur eingesetzt hat und dafür, sein Wissen an andere weiterzugeben. Er inspiriert sie. Aber ich mag Bruder Timmo auch. Er ist mir sympathisch und seltsam nahe, weil auch er die Stille liebte, das Schweigen, die Zurückgezogenheit, das Nachdenklichsein. Weil er den Mut hatte, anders zu sein. Und deswegen werde ich den Garten nach ihm benennen, so wie Remy ihren nach jenem Mervin benannt hat, der ihn ursprünglich angelegt hat.«
»Timmos Garten«, sagte Jannis. »Das klingt gut. Freundlich. Juna, das wird so schön! Ich kann es gar nicht erwarten, dir dabei zu helfen. Auf einmal sieht die Zukunft so hell aus.«
Er freute sich mit ihr, spürte dieselbe erwartungsvolle, ungeduldige Aufregung wie sie selbst. Sie würden das Abenteuer gemeinsam beginnen. Die neue Farbe des Glücks schien ihr nun nicht mehr fremd.
»Wir brauchen Geduld. Frau Hiller wird sich umhören. Das ist mir lieber als ein Makler, der nie verstehen würde, was ich suche. Aber das kann bis zum Frühling dauern. Oder länger.«
»Das gibt dir Zeit zum Planen. Das ist doch auch wichtig.«
»Ja, wahrscheinlich. Samenkataloge und Baumarktprospekte wälzen ist eine der schönsten Beschäftigungen für den Winter. Besonders zu zweit.«
Jannis gab der Kellnerin ein Zeichen und zahlte. Bald wanderten sie unten am Strand entlang zurück Richtung Norderende.
»Diese Zeit brauche ich ohnehin«, sagte Juna. »Ich habe Remy kontaktiert. Sie hat mir die Adresse ihres Webdesigners Heiko gegeben. Ich möchte wie Remy eine Website, auf der die Menschen das Anlegen des Gartens mitverfolgen können. Sie könnten Ideen und Wünsche beisteuern, Anteil nehmen und schon mal ihre Lieblingsbücher heraussuchen. Timmos Garten wird natürlich mit Mervins Garten verlinkt. So können wir gegenseitig voneinander profitieren, was gut für unser gemeinsames Anliegen ist – schöne, informative und nachhaltige Orte für Menschen ebenso wie für die kleinsten Lebewesen zu schaffen und zu schützen. Und für Linnea habe ich auch Pläne.« Juna warf einen Kieselstein in das ungewöhnlich glatte Wasser und betrachtete befriedigt die sich rasch ausbreitenden Kreise.
»Du magst Linnea gern«, stellte Jannis fest.
»Ja, sie ist mir wichtig geworden. Sie hat so viel Energie. Ich bewundere das. Aber manchmal wirkt sie auch immer noch ein wenig verloren. Sie hat niemanden außer ihrer Mutter. Hanna Joneleit ist alt und krank, und Linnea mag sie mit nichts belasten. Diese junge Frau überschätzt ihre Kräfte leicht und bittet nicht gern um Hilfe. Vielleicht kann ich für sie da sein, so wie der Nyks und später Wilhelm für mich da waren. Immer nur dann, wenn sie es möchte, natürlich.«
»Das möchte sie bestimmt. Ich habe schon gemerkt, dass du für sie längst viel mehr bist als nur eine Auftraggeberin. Mal was anderes, Juna: Was wirst du jetzt mit der goldenen Libelle machen?«
Diese Frage war nicht mehr schwer zu beantworten. »Das ist für mich jetzt ganz klar. Wenn Linnea die Szenen abgedreht hat, in denen Reon als Bruder Timmo sie tragen wird, bekommt sie das Museum. Allerdings nur unter der Bedingung, dass sie hier auf Hiddensee bleibt. Sie gehört in die Vitrine zu den Kacheln, Töpfen, Nägeln, Siegeln und was sonst noch vom Kloster zeugt. Das Bildnismedaillon von Bruder Timmo muss daneben. Und wenn Linneas Film veröffentlicht wird, lockt die Libelle vielleicht den einen oder anderen neugierigen Besucher mehr an. Auf jeden Fall hätte es Bruder Timmo gefreut.« Juna war sich ganz sicher, dass dies das Richtige und auch in Wilhelms Sinne war. »Ich werde aber eine Fotografie davon als Logo für Timmos Garten benutzen. Bruder Timmo hat damit gegen Engstirnigkeit und die Doktrin der Kirche protestiert. Engstirnigkeit ist aber leider heute so aktuell wie damals. Die Libelle soll für Gedankenfreiheit und Toleranz stehen.«
»Das ist eine gute Idee. Juna, warte mal.« Jannis blieb stehen. Zwei Möwen, die sich gerade um einen Fisch zankten, flogen empört auf und segelten davon, ans Ende der Buhne, wo heller Dunst geheimnisvoll um das verwitterte Holz lag. »Ich habe so etwas Ähnliches vermutet. Dass du den Anhänger nie trägst, habe ich ja bemerkt.«
»Es hat sich nie angefühlt, als ob er mir gehört. Ich habe ihn nur verwaltet. Und außerdem ist er zu groß und schwer.«
»Ich weiß. Deshalb habe ich ein kleines Geschenk für dich gemacht. Es würde mir sehr viel bedeuten, wenn du es annehmen könntest.« Jannis nahm sanft ihre Hand und legte ein winziges Päckchen hinein. Das Seidenpapier war so silbrigblau wie der Himmel.
Das Päckchen war nicht der Grund, warum Juna in diesem Moment noch glücklicher war, als ihre Pläne und die Insel sie ohnehin schon gemacht hatten. Es waren der Tonfall seiner Stimme, die Art, wie er Juna ansah, und die zärtliche Berührung seiner Hand. Die Tatsache, dass er genau hier war, jetzt, bei ihr.
Der Abendwind trug den Duft des Waldes herunter. Die flachen Wellen erzählten von Frieden und Seelenruhe. In der Ferne ganz oben auf dem Dornbusch, dort, wo auf dem verwunschenen Pfad der Aussichtspunkt war, sah Juna über Jannis’ Schulter hinweg für einen Augenblick die winzige Silhouette eines Menschen stehen. Sie stellte sich vor, es wäre Adrian. Oder Bruder Timmo?
Der lange Schatten der Figur fiel durch die Landschaft wie ein stiller Gruß. Dann war sie fort.
Juna wickelte vorsichtig das Papier auf. Sie sah eine zierliche Kette, sah den Glanz von Gold, dann ein winziges Lächeln.
»Es ist eine exakte Nachbildung, nur kleiner und tragbarer. Das Original ist ja wirklich groß und schwer. Es wurde eindeutig für einen Mann gemacht, und vor allem wurde es an die Größe der Kreuze angepasst, die die Mönche trugen. Bei dieser kleineren Kopie habe ich sogar die Scharte im Flügel kopiert. Denn die Lebensspuren, die wir davontragen, auch die schmerzlichen, machen uns erst zu dem, was wir sind«, sagte Jannis. »Wir können sie mit Stolz tragen. Ich habe an dieser kleinen Libelle gearbeitet, seit du damals aus meinem Laden gegangen bist. Etwas an dir hat mich nicht losgelassen, und ich dachte, wenn du noch einmal kommst, würdest du dich vielleicht darüber freuen. Ich hätte sie dir verkaufen müssen, weil ein Geschenk nicht angemessen gewesen wäre. Nun darf ich sie dir schenken. Ich darf es doch, ja?«
Juna versuchte, Worte zu finden, aber das war nun einmal nicht ihre Stärke, schon gar nicht, wenn sie so tief berührt war. Verwirrt und ein wenig hilflos sah sie mit feuchten Augen zu ihm auf. Er lächelte. »Du brauchst nichts zu sagen. Du weißt doch, ich verstehe dich auch so.«
Er legte ihr die zarte Kette um den Hals und nahm sie in den Arm.
»Schade, dass wir nie erfahren werden, wer die originale Libelle gefertigt hat und warum«, sagte Jannis, als sie beim Strandübergang zum Norderende ankamen und Hand in Hand über die Dünen stiegen. Auf dem Dornbusch begann der Leuchtturm zu blinken.
»Da sei dir mal nicht so sicher«, sagte Juna und fasste nach dem Anhänger an ihrem Hals, der sich kühl und warm zugleich anfühlte und wie ein sicherer Anker im Hier und Jetzt.