In den Wellen

Linnea fiel Reon um den Hals. »Ich fasse es nicht! Ihr habt so wunderbar gespielt. Das war noch viel besser, als ich es mir vorgestellt hatte. Danke, danke, danke!« Sie konnte nicht anders, sie musste auch Tonke, Claudia und Ole umarmen. Und den jungen Gärtner Pit, den sie spontan als Bruder Merten engagiert hatte. Erst hatte sie Tonke auch den Merten spielen lassen wollen, doch das hätte natürlich nicht funktioniert. Die Mönchskutte verbarg zu wenig und die Stimme wäre ja auch dieselbe gewesen. Pit aber war dünn und sehr jung und passte genau in die Rolle. Zum Glück war er sofort dazu bereit gewesen.

 

Das Tageslicht hatte gerade ausgereicht, obwohl es nun schon früh dunkel wurde. Linnea endete mit einem letzten Schwenk über den Himmel, der diesen denkwürdigen Tag gerade noch mit einem dezenten Abendrot krönte, und packte dann ihre Ausrüstung ein.

»Ich gebe zum Dank noch eine Runde für alle aus, wenn Ihr mögt«, sagte sie.

»Ich bringe lieber Pferd und Wagen nach Hause. Mein vierbeiniger Freund ist müde«, sagte Ole.

»Muss ich die Kutte jetzt ausziehen?«, fragte Reon. »Ich habe mich beinahe schon daran gewöhnt. Ist recht gemütlich. Und ich komme mir so fromm vor.«

»Freut mich. Ich bin sehr gespannt auf den Film. Macht’s gut! Bis morgen, Linnea.« Ole hatte versprochen, am nächsten Tag zu ihr ins Norderende zu kommen und die Textstellen einzulesen. Dann hatte sie alles, was sie brauchte, um den Film fertigzustellen und einzureichen.

»Die Stelle in der Heide war auch perfekt gewählt. Das Licht war so schön.« Linnea wandte sich an Tonke. »Bloß gut, dass ihr euch hier so gut auskennt. Ohne euch hätte ich das nie geschafft.«

»Jederzeit gerne. Ich freue mich auch schon auf den Film. Aber wir müssen jetzt los, wir haben nachher noch eine Veranstaltung im Nationalparkhaus zu betreuen. Bis bald, ihr zwei! Hat Spaß gemacht!«

»Tschüss, Linnea. Vielleicht werde ich dank dir doch noch Schauspielerin«, rief Claudia, als sie auf ihr Rad stieg.

 

Auf einmal waren Reon und Linnea allein. »Wegen mir müssen wir jetzt nichts trinken gehen. Du willst bestimmt an deinen Schreibtisch«, sagte Reon. So gut kannte er sie schon? »Ich bring dich noch nach Hause.«

Hand in Hand wanderten sie am Strand entlang. Linnea genoss Reons Nähe, aber er hatte recht. In Gedanken war sie bereits dabei, den Film zu schneiden. Sie konnte es nicht erwarten, die Szenen auf dem Monitor zu betrachten, Ton und Schnitt zu perfektionieren, mit Landschaft und Informationen und

Da blieb Reon unvermittelt stehen und riss sie aus ihren Gedanken. »Linnea! Sieh!«

»Was denn?« Sie folgte seinem Blick aufs Meer hinaus, doch sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Nur ein Segelschiff am Horizont vor dem Rosarot der Abendwolken, ein leichter Glanz auf dem ruhigen Meer.

»Sieh an meinem Arm entlang. Es sind mindestens drei. Du musst ganz genau hinsehen, sie unterscheiden sich kaum von den kleinen Wellenbergen.« Mit einer langsamen Bewegung nahm Reon seinen Rucksack ab, zog sein Fernglas hervor und drückte es Linnea in die Hand. »Versuch es damit.« Sie drehte ein wenig am Rad, bis das Bild scharf wurde. Erst sah sie wieder nur Wellen. Oder? War das …? »Eine Finne!«

»Ja«, sagte Reon. »Und dahinter noch zwei!« Sie hörte die ergriffene Freude in seiner Stimme und fühlte dasselbe, als sie das Profil eines Tümmlers sah, das sich für einen Augenblick aus der See hob und ihr einen Blick auf ein geheimnisvolles Lächeln gewährte, bevor es wieder von den Wellen verdeckt wurde. »Tümmler! Lebendige Tümmler!« Linnea ließ das Fernglas sinken und sah Reons Augen leuchten. »Ich habe nicht mehr geglaubt, dass ich je einen sehen würde. Ohne dich hätte ich sie nie bemerkt.«

»Das ist auch schwierig. Erst mit der Zeit bekommt man einen Blick dafür.«

Linnea konnte es kaum fassen. »Das ist bestimmt ein gutes Zeichen für meinen Film, dass wir sie gerade heute sehen.«

»Ja, das habe ich gespürt, als ich dich spielen sah. Genau das wird den Film gut machen und die Leute berühren. Ich hoffe, dass es mehr als nur ein paar sein werden. Ich werde mir alle Mühe geben, etwas Schönes daraus zu machen, versprochen!«

Reon zog sie an sich. »Das wird dir gelingen. Daran habe ich keinerlei Zweifel.« Dann zögerte er, sah zum Dornbusch auf und wandte sich ihr wieder zu, eine Frage in seinen Augen. »Linnea …«

Die Freude von eben schien verflogen. Er klang auf einmal so bedrückt.

»Was denn, Reon? Was hast du?«, fragte sie besorgt.

Dann kam es heraus, hastig, etwas atemlos. Es musste ihn schon lange beschäftigen.

»Linnea, du empfindest aber nicht nur etwas für mich, weil … weil Bruder Timmo und ich in deinen Gedanken irgendwie zu ein und derselben Figur geworden sind?«

Hinter ihm sah sie das Boot, das immer noch an derselben Stelle auf dem Sand lag. Sie zog Reon dorthin. »Setz dich mal, bitte.« Er folgte ihrer Aufforderung und sah sie dabei beinahe ängstlich an. Das alte Holz des Ruderboots ächzte unter seinem Gewicht und noch mehr, als sie sich auf Reons Schoß setzte. Es klang wie ein Seufzen. Linnea legte die Hände auf seine Schultern und sah ihm in die Augen.

»Reon. Ich möchte dich niemals wieder verlieren. Bei dir bin ich zu Hause. Egal, wo wir sind. Wenn wir zusammen sind, löst sich alles, was früher so schwierig war, in Luft auf. Das getriebene Herumhetzen, die Angst, nicht gut genug zu sein, die Befürchtung, nicht alles unter Kontrolle zu haben. Ich muss gar nichts mehr unter Kontrolle haben. Nicht, wenn du bei mir bist.« Sie mochte seinen Geruch so gern und die Art, wie der Wind die Haarsträhne über seiner Stirn hochstehen ließ. Die nachdenkliche Falte zwischen seinen Augen. Diese Konzentration in seinem Blick. Egal, womit er sich gerade beschäftigte, er war immer ganz bei der Sache. Jetzt war er bei ihr, ganz nahe, und je länger sie sprach, desto fester hielt er sie.

Er berührte ihre Haare, zog eine Strähne durch seine Finger, als wollte er sich vergewissern, dass sie keine optische Täuschung war, von der Dämmerung hervorgerufen. »Ich glaube, so ähnlich muss sich eine Libelle fühlen, wenn sie nach Jahren endlich so weit ist, aus dem Wasser zu krabbeln, ihre alte Haut zu sprengen, ihre Flügel auszubreiten und zu trocknen und sich schließlich in den Himmel aufzuschwingen. Das alles machst du mit mir, Reon! Und ich möchte, dass es nie aufhört.« Aber das ging ja nicht. Sie waren ebenso endlich wie es Bruder Timmo

Reon räusperte sich und schluckte. »Vielleicht war Bruder Timmo ein Vorfahre von mir und ist überhaupt erst schuld daran, dass wir beide heute hier sein dürfen«, sagte er schließlich etwas heiser.

»Du meinst, er hat doch mit Meta …?«

»Nein, sicher nicht. Außerdem schrieb er ja, sie wäre bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben, und das Kind auch. Aber er könnte doch einen Bruder mit zehn Kindern gehabt haben. Und eins davon ist mein zigfacher Urgroßvater.«

Sie lachte und kuschelte sich enger an ihn. »Nun, dann erklärt es ja erst recht, warum ich dich liebe.«

Er legte seinen Kopf an ihre Schulter. »Weißt du, seit dem Tag im Meeresmuseum, als ich dich da stehen und filmen sah, mit dieser Konzentration und Begeisterung im Blick und in deiner ganzen Haltung, und dann mit all deinen Fragen, die mir um die Ohren geflogen sind wie ein hungriger Möwenschwarm, da wollte ich dich am liebsten nie wieder aus meinem Leben missen. Und jetzt möchte ich dich nicht wieder loslassen.«

»Perfekt. Vielleicht nur ganz kurz, solange ich meinen Film schneide.«

Sie saßen dort, bis der Abendstern über den Dünen blinzelte und der Leuchtturm zu blinken begann.