Weihnachtslichter

»Linnea, ich werde übermorgen nach Hause fahren«, verkündete Juna beim Frühstück. Ein bisschen wehmütig war ihr dabei schon zumute. Der Tisch hier im Norderende war ihr so vertraut geworden, der Blick durch die heiteren Bullaugen und die große Fensterfront über die Wiese hin zum Bodden, die blauen Fensterrahmen, die auch bei trübem Wetter gute Laune machten. Wenn ich ein Haus mieten oder kaufen kann, werde ich die Fensterrahmen blau streichen, dachte sie.

 

Sie konnte nicht erwarten zu erfahren, wie ihr zweites Zuhause hier einmal aussehen würde, die zukünftige Grundlage für Timmos Garten. Sie hatte ein so deutliches Bild vor Augen, wie er werden sollte! Sicher war es praktisch unmöglich, einen genau passenden Ort dafür zu finden, und dann auch noch auf dieser kleinen Insel.

Juna war ihrer Ungeduld zum Trotz dankbar für den bevorstehenden Winter, in dem sie erst einmal alles richtig begreifen konnte. Angefangen mit der Reise in die Berge, ihrem letzten Flug und dem Unfall war es ein turbulenter Sommer gewesen. Sie war froh über die Ruhezeit, die ihr nun bevorstand. Juna hatte diese so nötig wie die Pflanzen, von denen die meisten schon ihre Blätter abgeworfen hatten. Aus ihnen zog sich nun der Saft zurück. Ebenso wie die Menschen mussten sie erst wieder Kraft schöpfen, um Energie für das neue Frühjahr zu tanken.

»Grüß Ben ganz herzlich von mir«, sagte Linnea. »Ich wollte dich sowieso nach deinen Plänen fragen. Mein Auftrag bei dir ist ja ohnehin zu Ende. Danke noch mal dafür! Es war ganz genau das, was ich nach dem Krankenhaus gebraucht habe. Ich weiß gar nicht, was ich damals ohne dich gemacht hätte. Jetzt habe ich auch noch Reon gefunden. Und noch viel mehr.«

»Für mich war es auch genau die richtige Entscheidung, dich mitzunehmen«, versicherte Juna. »Und du? Was willst du machen? Bleibst du noch hier?« Sie würde Linnea vermissen, aber sie würden ja in Kontakt bleiben und im Frühling hoffentlich wieder zusammenarbeiten.

»Ich werde ein oder zwei Wochen bei Reon wohnen und in den nächsten Tagen meinen Film fertigstellen. Dann muss ich erst mal nach Potsdam, mit Siegfried sprechen und allerhand organisieren. Caro wird auch wissen wollen, ob ich noch in die Wohnung zurückkehre. Meine Miete habe ich ihr dank dir überweisen können, aber ich muss eine Entscheidung treffen.«

»Überstürze nur nichts. Du brauchst doch eine Unterkunft, wenn du in der Stadt bist.«

Linnea runzelte die Stirn. »Ja, schon. Aber ich weiß nicht, ob ich noch in einer WG wohnen möchte. Vielleicht bin ich zu alt dafür geworden.«

Juna musste lachen. Linnea sah so unglaublich jung aus, wie sie dasaß, die Wangen rot von der vielen Seeluft und die Augen voller Vorfreude. Auf die Arbeit an ihrem Film. Auf Reon. Auf Timmos Garten. Auf das ganze, großartige Leben.

Linnea nickte nachdenklich. »Ja. Das ging mir schon im Spreewald so. Juna, es wird so schön, wenn ich im nächsten Jahr aus den Gärten Berichte senden darf! Nicht nur Hiddensee, auch dein Garten auf der Dolzke-Insel wird mich ein Leben lang begleiten. Er bleibt ein ganz spezieller Platz in meinem Herzen. Er war so heilsam für mich. Ich bin dort irgendwie auch gewachsen, genau wie deine Pflanzen, in einer Zeit, in der ich das sehr nötig hatte.«

»Ich weiß, was du meinst. Für mich war es nicht anders.«

»Und was ist mit Jannis und dir?«, wollte Linnea wissen.

Juna spürte, wie sich bei der bloßen Nennung seines Namens eine glückliche Wärme in ihr ausbreitete.

Mit Jannis hatte ein ganz neues Kapitel begonnen. Adrian lebte für immer sicher in ihrem Herzen. Jannis war völlig anders. Er gab ihr etwas, das Adrian nie gelegen hatte: Sicherheit. Jannis war der Boden, auf dem sie stehen würde, solange ihnen Zeit zusammen geschenkt wurde. »Jannis kann in der Vorweihnachtszeit das Geschäft nicht schließen. Aber Heiligabend macht er am Mittag zu und dann kommt er zu mir bis ins neue Jahr hinein. Er kann es gar nicht erwarten, meinen Garten zu sehen und den Spreewald kennenzulernen.«

»Das klingt super.« Linnea lehnte sich zurück. »Dann können wir uns ja beide auf das neue Jahr freuen. Ich bin so gespannt, was es uns bringt!«

Juna sah zum Fenster hinaus, wo die Sonne aufging und das Wasser in goldenes, klares Licht tauchte. Ein paar Möwen kreisten über der Wiese, silberweiß und leicht auf dem Wind.

»Viel, Linnea. Viele Blüten jeder Art.«

 

Das Blockhaus auf der Dolzke-Insel wartete auf sie, als wäre sie nie weg gewesen. Letzte helle Birkenblätter trieben noch auf dem dunklen Fließ. Juna pflanzte den Ableger der Hiddenseer Rose an die Hauswand, gleich neben die Tür, und befestigte mit Bens Hilfe ein Rankgitter aus Weidenruten an der Wand. So würde Adrians Rose sie immer begrüßen und verabschieden, wenn sie kam und ging. Sie würde stets gegenwärtig sein, genau wie ihre Liebe zu ihm. Sie wusste jetzt, dass ihre neue Liebe zu Jannis ihre alte um kein bisschen kleiner machte, verletzte, oder irgendwie beeinträchtigte. Eher im Gegenteil. Das hatte Liebe so an sich, dass sie wuchs wie eine Pflanze, wenn sie einmal Wurzeln geschlagen hatte. Wie bei Blumen wurde die eine durch die andere noch leuchtender. Durch die Unterschiede und auch durch die Gemeinsamkeiten. Die so verschiedenen Farben, der andere Duft, die Art, wie sie sich im Wind bewegten, wie sie sich anfühlten, wenn man sie berührte, und wie sie reagierten, wenn es regnete. Durch den Kontrast machten sie sich gegenseitig noch einzigartiger.

»Ich bin froh, dass es dir so gutgeht«, sagte Ben, während er einen Dübel in die Wand schlug. »Und dass du uns nicht ganz verlässt.«

»Glaubst du, du kannst mein Haus in den Sommern vermieten?«

»Liebe Juna, das ist gar kein Problem. Ich werde auch sehr darauf achten, an wen. Das wird spannend. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit, denn Linnea hat gesagt, ich darf ihr helfen, wenn sie aus deinem Garten sendet. Ich kann sogar die

Zufrieden mit der Befestigung der Haken sprang er von dem Stuhl, auf dem er gestanden hatte. »Nächste Woche soll es Frost geben. Soll ich dir noch helfen, die Rosen anzuhäufeln?«

Einträchtig bedeckten sie die Wurzeln der Rosen mit Erde und Laub, damit sie nicht froren und nicht austrockneten. Im Fließ sprang ein Fisch. An einem Schilfhalm saß eine Winterlibelle mit blanken Augen.

Juna war zu Hause. Und bald würde Jannis zu ihr kommen.

Die goldene Libelle aber ruhte im Museum in der Vitrine neben der Keramikschale und dem alten Werkzeug, das vielleicht einmal in Bruder Timmos rührigen Händen gelegen hatte.

Alles war da, wo es hingehörte.

 

Ein paar Wochen später beobachtete Juna ein paar frühe, einzelne Schneeflocken, die der Wind an ihr Fenster trieb, als das Telefon klingelte.

»Linnea! Wie schön, von dir zu hören.« Juna lauschte angestrengt. Linnea schien außer Atem zu sein, sie war kaum zu verstehen. »Ist etwas passiert? Kannst du das bitte noch einmal langsamer wiederholen?«

Sie hörte, wie Linnea am anderen Ende schluckte, Luft holte und sich wahrscheinlich gerade hinsetzte.

»Mein Film!«, sagte Linnea. »Ich habe ihn zum Ostsee-Naturfilmfestival eingereicht. Eine Stunde vor Ende der Abgabefrist!«

»Oha! Ich wusste gar nicht, dass du das vorhattest. Wie schön! Ich drücke dir alle Daumen! Wann wirst du das Ergebnis erfahren? Und wann kann ich ihn sehen?«

Juna sprang auf und lief durch das Zimmer. »Linnea, wie toll! Gratuliere! Das ist ja phantastisch. Und bestimmt sehr verdient.«

»Ich war schon total enttäuscht, nachdem sie die ersten drei Platzierungen angesagt hatten. Und dann kamen sie mit dem Sonderpreis um die Ecke! Für Originalität und präzise Recherche und weil der Film ›auf unterhaltsame Weise informativ und pädagogisch wertvoll‹ sei. Juna, es gibt Fördergelder dazu! Nicht viel, aber es hilft. Die können wir für unser Projekt nutzen. Für die Website von Timmos Garten zum Beispiel, die Webcams und die Bibliothek. Die Ersten fragen schon, wo sie die Seite abonnieren können. Vor allem Lehrer. Ich habe schnell erst mal eine Domain gesichert. Ich schicke dir nachher eine Kopie des Films, ja? Übrigens ist meine Zahl der Follower sofort hochgeschossen und in der Folge auch Remys. Und alle wollen ins Museum, die Libelle sehen. Morgen fahre ich nach Potsdam und rede mit Siegfried. Wenn das kein Argument ist, dass er was Aktuelles über uns bringt!«

 

»Das Mädchen ist tatkräftig«, sagte Jannis eine Woche später. »Sie imponiert mir.« Sie saßen in eine Decke eingehüllt auf der Bank im Schutz der Ligusterhecke und sahen verträumt aufs Fließ. Es roch nach Moor und Wald und dem Glühwein in ihrer Hand. Der Wald war dunkel. Kein Irrlicht weit und breit. Dafür war Juna, als wären der Nyx und Wilhelm ganz nahe. Sie wachten über die Pflanzen, über die Wurzeln, die in der Erde

»Ja, Linnea ist durchsetzungsfähig und kreativ, und Reon auch. Sie werden langfristig etwas bewegen«, stimmte Juna zu und rückte noch ein Stück näher an Jannis.

»Wir auch. Nur auf unsere Art. Ruhiger«, sagte er. Sie hörte in seiner Stimme, dass er ebenso zufrieden war wie sie. In ihnen beiden war alles still, so still wie das Eis auf dem Fließ und die zarten Flocken darauf. Von dieser Stille konnten sie gar nicht genug bekommen, denn sie waren zusammen, und sie brauchten keine Worte.

Zusammen bauten sie auch das schönste Vogelhaus, das Juna bis jetzt gelungen war. Sie hofften, dass es im nächsten Winter auf Hiddensee in Timmos Garten stehen würde.

 

Ben brachte ihr einen Weihnachtsbaum, den ersten, den das kleine Blockhaus seit Jahren gesehen hatte. Jannis und Juna schmückten ihn gemeinsam mit den geschnitzten Figuren, die der Nyx im Laufe der Zeit so fein gearbeitet hatte, und mit weißen Sternen aus der zarten Plauener Spitze, die Oma Gerti stets gehütet hatte. Draußen im Garten gab es einen zweiten Baum mit Nüssen für die Eichhörnchen und Meisenringen. Auch an Junas Vogelhaus herrschte emsiger Betrieb.

Am Abend des ersten Weihnachtsfeiertages schenkte Ben ihnen eine abendliche Lichterfahrt durch den nächtlichen Wald, auf den zugefrorenen Kanälen und in dem besonderen Schlitten, den Juna im letzten Winter für den Spreefrosch angefertigt hatte. Er hatte ein warmes Picknick eingepackt, zuvor an den Ufern Fackeln an der Strecke verteilt und hier und da Laternen auf das Eis gestellt.

»Danke, dass du da bist!« Sie zog die Decke enger um sie beide. »Wenn ich mit Timmos Garten beginne, werde ich auch einen Wintergarten anlegen«, sagte sie eine Weile später.

»Ein Glashaus, meinst du?«

»Nein. Einen Vorgarten, der den ganzen Winter über Blüten trägt. Die meisten wissen nicht, dass Winterjasmin, Schneeblüte, duftender Schneeball, Zaubernuss und andere Gehölze in den Wintermonaten blühen, von den Christrosen ganz abgesehen. Alle werden im Vorübergehen überrascht stehen bleiben, und mein Wintergarten wird ihnen in den dunkelsten Tagen Hoffnung machen, in Weiß und Rosa, Rot und Sonnengelb.«

Jannis drückte ihre Hand. »Ich sehe es schon vor mir.«