An Silvester brannte an der Biegestelle ein Feuer. Nicht, weil Juna heute Holz biegen wollte, sondern als Gedenken und Gruß an die beiden alten Herren. Aber auch der Wärme wegen, und um dem neuen Jahr den Weg zu erhellen.
An Neujahr schien die Sonne und ließ das Eis glitzern wie einen Sommertag am Meer. Juna und Jannis liefen Hand in Hand Schlittschuh. »Das habe ich ewig nicht gemacht. Ich weiß nicht, ob ich dafür nicht zu alt bin«, hatte Jannis eingewandt, als sie ihm ein von Ben geliehenes Paar reichte.
»Hier und heute nicht«, sagte Juna.
»Du hast recht«, verkündete er wenig später. »Ich werde gerade zunehmend jünger.« Übermütig drehte er eine schwerfällige Pirouette. »Ja«, sagte Juna. »Schlittschuhlaufen ist wie fliegen. Aber das Eis bleibt nur kurz. Wie alles. Wie ein Tag. Wie das Leben einer Libelle. Wir wollen es genießen! Komm!«
Hand in Hand machten sie sich auf in Richtung der Moorigen Tschummi und dann immer weiter, um noch den Ausblick hinter der nächsten Kurve zu erkunden. Wenn einer strauchelte, hielt ihn der andere fest.
Anfang Februar musste Jannis zurück nach Stralsund. Das Geschäft rief. Jedoch nicht, bevor sie bereits gemeinsam Schneeglöckchen und Winterlinge im Garten entdeckt hatten.
Später im Februar kam Linnea, mit Reon im Schlepptau, und stellte mit einem kleinen Knall eine große Flasche Sekt auf den Tisch.
»Ich möchte sehen, was hier schon blüht«, verkündete sie. »Außerdem musst du uns helfen, der Website den letzten Schliff zu geben. Da sind offene Fragen wegen deiner Pläne und was du alles erwähnt haben möchtest. Vor allem aber müssen wir feiern! Da ist nämlich noch viel mehr. Und Reon möchte dir was erzählen.«
Juna holte Gläser. Es war wohl nicht nötig, Linnea nach dem Grund zu fragen. Die würde das sichtlich keine Minute länger für sich behalten können.
»Siegfried macht es!«, platzte sie dann auch heraus, kaum dass Juna wieder im Zimmer war. »Der Festivalpreis und die ständig steigenden Followerzahlen haben ihn überzeugt. Und vor allem, dass ich Anfragen von anderen Sendern bekomme.« Sie schenkte allen ein und kleckerte dabei vor Aufregung auf das Tischtuch. »Stell dir vor, ich bekomme einen Platz für meine Neugierige Minute, immerhin einmal die Woche, zur besten Sendezeit. Nach dem Sport und vor dem Wetterbericht! Wenn es gut läuft, auch öfter. Und im Regionalmagazin im Vorabendprogramm erhalte ich Ende des Frühlings eine Rubrik. Darin darf ich aus den Gärten senden, Juna! Timmos Garten kommt ins Fernsehen! Anfragen für Zeitungsartikel habe ich auch. Haben wir«, verbesserte sie sich. »Wir sind jetzt ein Team. Ben gehört auch dazu. Und Reon und du und ich und Tonke und Claudia. Remy ja auch, weil die Gärten zusammenarbeiten werden. Ihre Zeitschrift, mein Kanal. Das wird gut! Ich kann es kaum erwarten, im Lesegarten zu sitzen, die Gäste zu interviewen und mich mit dir über die Bilderstrecken in den Magazinen zu freuen.« Sie machte ein paar Tanzschritte durch den Raum. Reon fing sie lachend auf, als sie stolperte. »Jetzt fehlt nur noch, dass wir mit dem Garten auf Hiddensee endlich beginnen können. Bis dahin sende ich von hier. Lasst uns die Krokusse zählen! Sind die Bienen schon wach?«
»Und dazu habe ich eine Neuigkeit«, sagte Reon mit einem breiten Lächeln. »Frau Hiller hat ein Grundstück gefunden. Ich habe sie vorgestern getroffen, als ich mit Tonke auf Hiddensee unterwegs war. Ich soll dir das ausrichten. Du kannst es dir Mitte oder Ende März ansehen!«
Im März! So bald schon. Und doch kam es ihr jetzt lang vor. Ob man den Leuchtturm von dort aus sehen konnte?
Dann kam der Tag, an dem Juna Ben Bescheid gab und mit klopfendem Herzen ein paar Sachen zusammenpackte.
Am Bahnhof in Stralsund wartete Jannis auf sie. Eine Stunde später standen sie auf der Fähre. Juna konnte beim besten Willen nicht stillsitzen. Nicht unten im Speiseraum und auch nicht an Deck, obwohl Jannis einen windgeschützten Platz für sie gefunden hatte. »Wie wird es aussehen? Was glaubst du?«, fragte sie ihn unzählige Male. Er lachte nur. »Du wirst es bald wissen.«
Ein leichter grüner Schleier lag schon über den Bäumen, und auf den Wiesen blühten erste Schlüsselblumen, als Juna und Jannis vor Frau Hillers Gartentor standen.
Auf dem Weg zu dem Grundstück, das sie ihnen zeigen wollte, erzählte sie davon. Weil es zu weit für Frau Hiller war, schob Jannis sie im Rollstuhl. »Das Haus gehörte meiner Freundin Gesa. Sie war Mitglied im Künstlerbund, wie viele hier. Leider ist sie vor ein paar Jahren gestorben. Das Haus ist jetzt im Besitz ihrer Enkelin Teresa. Teresa ist nett, aber …« Frau Hiller zuckte mit den Schultern. »Sie ist nicht für das Leben hier gemacht. Es zog sie schon immer ins Ausland. Jetzt geht sie nach New York und heiratet einen Architekten. Sie möchte das Grundstück samt Haus auf Dauer verpachten.«
»Sie haben sie aber nicht etwa überredet?«, fragte Juna erschrocken.
»Nein, keinesfalls, auch wenn es mir schwerfiel, mich nicht einzumischen. Erst konnte sie sich nicht entschließen, aber nun ist sie sich sicher. Mit einem Vorkaufsrecht, wenn Sie mögen. Ich vermute, eines Tages wird sie es ganz abstoßen wollen. Die bürokratischen Angelegenheiten hat sie in die Hände eines Maklers gelegt. Ich kenne ihn, er ist absolut vertrauenswürdig. Er wäre es, mit dem Sie verhandeln müssten. Ich habe Sie bereits angekündigt.«
»Das hört sich alles so gut an. Wo ist es?« Juna wurde immer aufgeregter und gleichzeitig beklommener zumute. Was, wenn es ihr nicht gefiel? Wenn es nichts in ihr zum Klingen brachte?
Jannis ließ kurz mit einer Hand den Rollstuhl los und drückte ihre, und ihre Zuversicht stieg wieder.
»Es gehört gerade noch zu Kloster«, erklärte Frau Hiller. »Es liegt am Südhang, im Windschatten des Dornbuschs, mit Blick auf den Bodden. Es ist ein sehr geeigneter Platz für einen Garten. Es käme aber eine Menge Arbeit auf Sie zu. Das Haus steht leer, seit Gesa starb, also bereits einige Jahre. Vorher konnte sie das Grundstück auch schon lange nicht mehr bewirtschaften. Da ist alles verwildert und zugewuchert. Sie müssten praktisch von vorn anfangen, liebe Juna. Ein paar Gehölze sind vielleicht noch zu retten, und ich kann Ihnen Ableger geben.«
»Genau diese Arbeit wünsche ich mir ja«, sagte Juna glücklich.
Hinter der Biegung sahen sie es.
Am Zaun splitterte blaue Farbe ab, und an einigen Stellen neigte er sich müde. Zu beiden Seiten des Tores wuchsen knospende Fliederbüsche, die sich oben in der Mitte trafen, als hätten sie die Arme verschränkt. Das Haus war sonnengelb gestrichen, die Fensterrahmen so blau wie der Zaun. Es wirkte freundlich, fröhlich, zuversichtlich. Die Farben allein waren ein Willkommen. Selbstbewusst schien es auch. Das war nicht irgendein Haus. Es besaß eindeutig Persönlichkeit.
Das Gebäude war niedrig. Oben unter dem roten Ziegeldach gab es zwei Gaubenfenster. Eines öffnete sich westlich zum Meer hin, und aus dem anderen würde man im Osten den Sonnenaufgang sehen, genau wie im Norderende. Sicher würde Juna auch hier auf dem Fensterbrett sitzen, die Beine hinaushängen und mit den Schwalben schwatzen können, wenn ihr danach war. Auch das Blinken des Leuchtturms würde man von hier aus sehen. Da ganz hinten auf dem Hügel stand er, wie ein weißer Fingerzeig, eingerahmt vom knospenden Zweig eines windschiefen Kirschbaums.
Das ist dein Ort!
Noch nicht, aber ich mache ihn zu meinem. Er hat lange auf mich gewartet.
Ich werde dir dabei zusehen. Meine Liebe gibt dir Kraft. Ihr werdet aneinander wachsen. Und du wirst hier glücklich sein.
Das bin ich jetzt schon. Die Trauer um dich bleibt, aber so seltsam das ist, gleichzeitig bin ich glücklich. Jetzt. Hier.
Dann ist alles gut. Ich auch.
»Wollen wir nicht hineingehen?«, fragte Frau Hiller lächelnd. »Ich sehe, es gefällt Ihnen.«
»Frau Hiller, es ist noch schöner, als ich mir erträumt habe! Es ist perfekt.« Juna konnte es nicht fassen. Sie wusste nicht, wo sie zuerst hinsehen sollte, wollte alles aufnehmen, aufsaugen, die Farben, die Gerüche, das Gefühl der Erde unter ihren Füßen, ihren Händen, den Ausblick in alle Richtungen.
Sie gingen ums Haus herum und standen in dem weitläufigen Garten, aber der Blick war es, der Junas Aufmerksamkeit zuerst einfing. Die Sicht auf den Bodden im Frühlingslicht, mit dem goldbraunen Schilfgürtel vom letzten Jahr und den Rufen balzender Wasservögel. Ein Segelschiff im weiten Blau und dahinter der Alte Bessin, die Landzunge, die jedes Jahr um viele Meter wuchs und auf deren magerem Boden Weinrosen gediehen, Steinbrech, wildes Stiefmütterchen, Grasnelke, Rosa Reiherschnabel und unzählige andere Arten.
Auf der Landseite sah sie grüne Weiden mit Schafen, die wie darauf getupft wirkten, und im Hintergrund erste Narzissen, dann die sanften Hügel vor dem Dornbusch mitsamt dem Schönsten von allen, dem Svantiberg. Und oben der Leuchtturm. Von hier war es auch nur ein Spaziergang zum Enddorn.
Bei dem Anblick konnte einem nur friedvoll zumute werden, egal, wie aufgewühlt man war.
Vielleicht hatten ja die Mönche etwas von ihrer Ruhe hiergelassen. Vielleicht erinnerte sich die Landschaft an einen wie Bruder Timmo.
Juna stand lange da und schaute. Die beiden anderen ließen ihr Zeit. Dann atmete sie tief durch und wandte sich dem Garten zu. Hier gab es alte Ginsterbüsche und rundherum eine dichte Hecke aus Schlehe, Weißdorn, Sanddorn und Kreuzdorn. Man musste sie schneiden, eindämmen, aber dann würde sie reichhaltig blühen, die Seewinde abfangen und jede Menge Nistplätze und Verstecke für Vögel bieten.
Unter verfilzten Brennnesseln und Springkraut entdeckten sie am Haus eine Terrasse. »Auf diese Seite kommt der Lesehof mit dem Laubengang drumherum«, entschied Juna, als sie einen verfallenen Brunnen entdeckte.
»Und dort im Schatten das Beet für die Purpurglöckchen«, schlug Jannis vor. »Wir können auch Strandsteine sammeln und da in der trockenen Ecke einen Steingarten oder eine Kräuterspirale bauen.«
»Unbedingt. Und dort Hochbeete für das Gemüse«, ergänzte Juna. »Auf der Straße gibt es reichlich Pferdeäpfel. Einen besseren Dünger findet man nicht.«
Jannis kroch hinter ein Himbeerstrauchdickicht. »Hier an der Grundstücksgrenze ist ein Stück alte Mauer. Da könnten wir vertikal gärtnern, damit Linnea es filmen kann und mehr Menschen davon erfahren, wie sie das auf Balkons, an Hauswänden und in winzigen Gärten machen können.«
»Ja, und an die Wand dort pflanzen wir mindestens einen Ableger der Rose.« Juna stand da und sah alles vor sich. Sie hätte sich keine Sorgen machen müssen. Hier war sie am richtigen Ort. Frau Hillers Gespür hatte sie nicht getrogen. Das Grundstück sprach zu Juna, als würden sie sich schon lange kennen.
Bald würde sie hier auf diesem erhabenen Fleckchen mitten im Meer in der Erde wühlen, unter diesem Himmel, in diesem Licht, und der Leuchtturm würde über allem wachen.
»Kennt ihr die Geschichte von dem besonderen Nachtfalter?«, fragte Juna später, als die Sonne hinter den Dornbusch sank. Sie hatte sich noch nicht losreißen können, also zogen sie aus der Ruine eines Schuppens zwei alte schmiedeeiserne Stühle, und saßen bei einem Windlicht dort, wo sich unter dem verdorrten Kraut die Terrasse befand. »Remy hat sie mir im Geschichtengarten erzählt.«
»Ja, ich kenne sie von Mervin«, erinnerte sich Frau Hiller. »Es ist ein besonders großer, anmutiger Nachtfalter. Er taucht in der Dämmerung auf, aber nur sehr selten, vielleicht ein- oder zweimal im Leben. Er kommt nur in Momenten, in denen man vollkommen zufrieden ist und keine Wünsche offen sind. Mervin hat geschworen, ihn in genau einem solchen Augenblick gesehen zu haben. Ich denke aber, er fabulierte einfach gern.«
»Wenn es diesen Falter wirklich gibt, dann müsste er genau jetzt auftauchen«, sagte Juna.
»Wenn es ihn gibt«, meinte Jannis und legte seinen Arm um sie, »dann kommt er sicher nur zu jenen, denen nicht bewusst ist, wie glücklich sie sind. Er kommt, um sie darauf aufmerksam zu machen. Das braucht er bei uns nicht.«
Von der See her flogen drei Schwäne über den Garten hinweg. Durch die Federn ihrer gewaltigen Schwingen pfiff lautstark die Luft, die sie trug, und die Töne fügten sich zu einem geheimnisvollen, melodischen Akkord.