L assen Sie mich diese Geschichte an der Stelle beginnen, an der sie hätte enden sollen. Um 16 .44 Uhr an einem extrem heißen Sommertag in einer kleinen Einbahnstraße in der Heerstraßensiedlung im Südwesten Berlins.
Ich saß hinter dem Lenkrad eines Hundertzwanzigtausend-Euro-Geländewagens – von der albernen Sorte, die in echtem »Gelände« etwa so offroad-tauglich ist wie ein Liegefahrrad im Dschungel –, der von einem völlig bescheuerten Kleinkriminellen aufgebrochen worden war. Ich war dabei, einen Brief zu schreiben. Auf meinem Schoß lag eine in Papier eingewickelte, langstielige blaue Hortensie, und um meinen Hals schlackerte ein lederner Hosengürtel. Die Frau, die sich mir und damit dem parkenden Stadtpanzer näherte, steckte in brombeerfarbenen Yogashorts, die so eng anlagen, dass sie sie wohl vor einen Tannenbaumtrichter gespannt hatte und hindurchgesprungen war, um in sie reinzukommen. An den eher zierlichen Füßen klebten Joggingschuhe in Neonquietschpink. Ein tailliertes, aus Schweiß absorbierendem Slimfit-Stoff gedrechseltes Oberteil mit dem Aufdruck »Save our Planet« komplettierte ihr Sportoutfit.
Sportlich war auch, was die Frau in der Hand hielt. Eine Baseballkeule, die sie, kaum dass sie in Schlagweite war, mit voller Wucht gegen den rechten Xenon-Scheinwerfer des Autos drosch.
Wenn Sie jetzt denken: Hm, das ist aber eine seltsame Situation, dann sage ich: »Herzlich willkommen im Leben von Sascha Nebel. Dem Inhaber eines Premium-Abos auf seltsame Lebenssituationen.« Keine Ahnung, warum ausgerechnet ich mich immer wieder in filmreifen Szenen wiederfinde. Wobei Sie hier weniger an »Pretty Woman« oder »Bodyguard« denken sollten als vielmehr an eine Mischung aus »Dumm und Dümmer« und »SAW «, nur nicht so romantisch.
Ich hielt mich schon länger für so etwas wie einen Irrenmagneten, so oft, wie verhaltensauffällige Menschen ohne Einladung in mein Leben schredderten. Beispielsweise gerade vor einer Stunde der Beknackte im Supermarkt, der mit dem gebrüllten Ausruf »Rechts vor liiiinks!« aus dem Nudelgang schoss und mich mit seinem Einkaufswagen beinahe in die Gefriertruhe rammte.
»Hast du sie noch alle?«, hatte ich ihn angeschrien. Und in etwa das fragte ich jetzt die etwa Gleichaltrige, also Mitte-dreißig-Jährige, mit der Keule. Sicher konnte ich mir ihres genauen Alters nicht sein. Tatsächlich lässt sich das nur schwer schätzen, wenn die Frau einen Gesichtsausdruck hat wie eine Mutter, die versucht, ein Auto hochzuhieven, um ihr darunter eingeklemmtes Kind zu befreien. Nur dass die Unbekannte den Wagen, in dem ich mich ans Lenkrad klammerte, offenbar nicht hochstemmen, sondern schrottreif prügeln wollte. Nach dem Scheinwerfer war jetzt die Windschutzscheibe dran, der sie mit einem gezielten Hieb eine Spinnennetzoptik verpasste.
Pachwumm. Ein weiterer Treffer.
»Was bitte stimmt denn mit dir nicht?«, schrie ich die offenbar irre Gewordene an, die jetzt ein Loch in mein Seitenfenster prügelte. Ich sah, dass sie einen Rucksack aus grauer Lkw-Plane auf dem Rücken trug. Sie hingegen schien mich in ihrem Zerstörungswahn überhaupt nicht zu bemerken. Ihr brauner Zopf schlug wie das Pendel einer Standuhr im Takt zu den Treffern, die sie jetzt auf der Dachkante landete.
Ich beschloss, sie Wilma zu nennen. Wegen der Keule = Steinzeitmensch = Frau von Fred Feuerstein. Kreativ, ich weiß.
Ich fragte mich, ob ich sie kannte, womit sie dann wohl eine Ex-Partnerin hätte sein müssen, denn meiner Lebenserfahrung nach neigen Menschen zu solch hysterischem Extremverhalten in der Öffentlichkeit meist nur im Zustand hochgradiger Eifersucht. Dass ich mit Wilma einst einmal liiert gewesen sein sollte, konnte ich jedoch mit gewisser Sicherheit ausschließen. Allein schon deshalb, weil nur eine einzige meiner (wenigen) Verflossenen so attraktiv gewesen war wie sie.
Wobei, das klingt in dem Zusammenhang jetzt etwas missverständlich. Nicht dass Sie auf die Idee kommen, ich hätte Gewalt auf irgendeine Weise anziehend gefunden. Obwohl weniger wohlmeinende Mitmenschen mein Äußeres schon mal mit einem Boxer verglichen haben (sowohl mit dem Sportler als auch dem Hund!). Dabei täuschte mein Anblick. Meine Nase zum Beispiel war nicht bei einem Faustkampf, sondern in jungen Jahren bei einer Schultheateraufführung gebrochen worden. Ich hatte in einem Bettlaken über die Bühne der Aula hüpfen müssen und war in den Orchestergraben geknallt (sehr zur Freude meiner hämisch lachenden Mitschülerinnen und Mitschüler). Meine auf acht Millimeter rasierten Haare verdankte ich den Geheimratsecken, die im Skinhead-Look weniger verboten aussahen. Und die Narbe unter dem rechten Auge war kein Gang-Erkennungszeichen, sondern der schlagende Beweis dafür, dass man als Teenager keine Abkürzung über die Abschlagsanlage eines Golfplatzes nehmen sollte. Kurz: Ich sah aus wie ein Bad Guy, und Mädchen aus gutem Hause wollten, wenn überhaupt, allenfalls eine kurze Affäre mit mir. Dafür allerdings war ich definitiv nicht der Typ und scheiterte stets krachend daran, die Mädchen aus gutem Hause von meinen inneren Werten zu überzeugen.
Moment mal, fragen Sie sich vermutlich, was hat die Irre mit der Keule mit einem Mädchen aus gutem Hause gemein? Nun, wenn mich nicht alles täuschte, waren ihre Hände perfekt manikürt. (Sagt man das überhaupt so? Ich kenn mich mit den Fachtermini nicht so aus und habe jahrelang geglaubt, Waxing wäre etwas Unanständiges.) Ihre zornig zusammengekniffenen Augenbrauen waren frisch gezupft und die gebleckten Zähne strahlend weiß gesandstrahlt. Für mich waren das sichtbare Insignien eines »guten Zuhauses« – oder zumindest eines besseren Zuhauses, als es mir vergönnt gewesen war, wo Kosmetik- und Wellnesswochenenden nicht sehr hoch auf der Prioritätenliste gestanden hatten. Alles, was über Duschen hinausging, war nach Ansicht meines trinkfreudigen Vaters was für Weicheier. Auch meine Mutter hätte eher mit Haarentferner gegurgelt, als ihr hart erarbeitetes Supermarkt-Verkäuferinnen-Geld in ein Nagelstudio zu tragen. Bei den gemeinsamen Bowlingabenden mit Papa war es besser in Alk, Kippen und Pommes rot-weiß investiert, logisch. Ich glaube, Sie ahnen, weshalb mir eine Karriere als Gegenwartsphilosoph nicht in die Wiege gelegt war.
Kaweng.
Wilma hatte die Seiten gewechselt. Der rechte Außenspiegel platzte ab.
Ich überlegte, ob ich aussteigen sollte. In dieser Situation ein im Grunde unsinniger Gedanke, es sei denn, man war leicht lebensmüde. Andererseits bröckelte der Schutzwall zwischen mir und Wilma buchstäblich. Und das war nicht mal mein größtes Problem.
Ob Sie es glauben oder nicht, im Rückspiegel sah ich noch Bedrohlicheres auf mich zukommen.