S cheiße!«
Das fünfte Wort, das ich von Wilma hörte. Das erste, das in diesem Kontext einen Sinn ergab. Und zwar für uns beide. In flagranti von der Polizei bei einer Straftat erwischt zu werden war alles andere als ein erstrebenswertes Feierabenderlebnis. In der Aufregung war ich mir nicht sicher, wer von uns beiden die längere Zeit in U-Haft verbringen würde. Der verhinderte Autodieb (das wäre dann ich) oder die Abwrackhelferin (also sie). Mir schoss durch den Kopf, ob Wilma womöglich in einem Anflug spontaner Spritschleuder-Scham vor lauter Klimareue ihren eigenen SUV zerhackt hatte. Das wäre zumindest eine Erklärung auf ihre Frage: »Was machen Sie hier?«
Und für ihren bass erstaunten Blick.
Zu dieser Theorie passte allerdings nicht, wie sie jetzt die Keule von sich warf, und zwar in Richtung des Waldes, der die rechte Straßenseite säumte (die linke war von den in dieser Gegend obligatorischen Reihenhäusern belegt). Dann rannte sie dem Baseballschläger hinterher, offenbar mit dem Ziel, sich mitsamt ihrem Rucksack als Marschgepäck zwischen den Bäumen zu verdrücken.
Also gut.
Immerhin hatte sie damit auch mir den Fluchtweg freigeräumt. Leider blieb mir kaum etwas anderes übrig, als ihr zu folgen. Denn was war meine Alternative? Losfahren?
Ging nicht. Selbst wenn die Karre noch ansprang, wurde mir ja vorne und hinten der Weg versperrt.
Also aussteigen, um mitten hinein in den Demonstrationszug zu rennen? Mit weit aufgerissenen Armen, lächelnd: »Hey, ihr Lieben, wartet mal kurz, bevor ihr mir euer Protestschild über die Platte schädelt, es ist nicht so, wie es aussieht. Ich bin auf eurer Seite. Das CO2-Monster, aus dem ich gerade geklettert bin, gehört mir gar nicht …«
Oder sitzen bleiben, bis die Polizei mich aus dem SUV zog, um nach kurzer Halterabfrage bei mir die Handschellen klicken zu lassen?
Nein, da blieb nur eins.
Ich atmete tief durch und riss die glücklicherweise nur leicht verbogene Fahrertür auf. Ich schätzte den Abstand zwischen mir und den Beamten auf maximal dreißig Meter.
Der Geruch nach heißem Asphalt wurde von waldbrandtrockenem Kiefernduft abgelöst, als ich erst über eine Straße, dann über einen Fahrradweg in den Wald spurtete. Wobei Wald eine etwas hochtrabende Bezeichnung war. Wenn mich nicht alles täuschte, bildete die Ansammlung von Bäumen, durch die ich rannte, nur ein schmales Mischwaldstreifchen, das eingeklemmt zwischen der Einbahnstraße und der Teufelsseechaussee lag, die – dreimal dürfen Sie raten … richtig! – zum Teufelssee führte.
»Polizei, stehen bleiben!«
Kaum dass mir die ersten Zweige ins Gesicht klatschten, hörte ich eine megafonverzerrte Stimme und drehte mich um. Mindestens zwei Beamte hatten die Verfolgung aufgenommen. Eine jüngere Bohnenstange und ein fülliger Glatzkopf. Mochte der Demonstrationszug, der vermutlich nur eine Abkürzung zum Messedamm hatte nehmen wollen, nicht angemeldet gewesen sein – in den Augen der hinter mir herjapsenden Polizisten war das offenbar das zu vernachlässigende Delikt. Keulen-Wilma sowie ihr Komplize (für den sie mich halten mussten) waren ein weitaus attraktiveres Ziel, wenn es darum ging, Recht und Ordnung wiederherzustellen.
Sie wussten noch nicht einmal, welche Beute ihnen mit mir ins Netz gehen würde. Dabei, darauf lege ich Wert, hatte ich nicht immer eine Strafakte gehabt. Eigentlich habe ich mich den Großteil meines Erwachsenenlebens bemüht, anständig durchs Leben zu kommen. Ich war früher so ehrlich, dass es wehtat. Einmal gab es bei mir einen Rohrbruch, und meine mir sehr zugetane Versicherungsmaklerin fragte mich augenzwinkernd: »Ich nehme an, für den Teppich, der bei dem Wasserschaden zerstört wurde, haben Sie nur deshalb keine Quittung, weil er ein extrem teures Erbstück war?« Und ich antwortete: »Nein, der war total billig. Den wollte ich eh wegschmeißen.«
Doch die Zeiten, als ich mich bemüht hatte, ein rechtschaffener Bürger zu sein, waren vorbei. Seitdem das Schicksal mich von der Überholspur des Lebens auf die Gegenfahrbahn geworfen hat, und das, ohne dass ich etwas Illegales getan hätte. Es war ein lächerliches Gewürz, das mich in eine so tiefe Depression stürzte, dass es mich unter anderem meinen Job als Werbetexter kostete, meine Ehe, mein Vermögen und am Ende auch noch den letzten Funken Selbstachtung. Wenn Sie diese Kurzzusammenfassung meines sozialen Abstiegs mangels weiterführender Informationen jetzt etwas ratlos zurücklässt, dann lassen Sie sich darüber keine grauen Haare wachsen. Es reicht völlig, wenn Sie verstehen, dass ich eines Tages mittellos und hoch verschuldet mit dem Räumungsbeschluss im Briefkasten in meiner Mietwohnung aufwachte und feststellen musste, dass ich im Leben nichts Anständiges gelernt hatte. Als Werbefuzzi konnte ich quatschen, texten und den Menschen Dinge andrehen, die sie nicht brauchten. Im Grunde also hatte ich die perfekte Ausbildung zum Kleinbetrüger absolviert. Und als solcher versuchte ich mich fortan durchs Leben zu schlagen, nach dem Motto: Wenn das Leben dir Zitronen gibt, dann mach keine Limonade draus, sondern finde jemanden, dem du einreden kannst, sie wären die letzten von einer Handvoll Exemplare, die auf den geweihten Hügeln Nepals unter der Aufsicht von heiligen Kühen gepflückt wurden und deren Fruchtfleisch einen wahlweise über Nacht erschlanken oder zehn Jahre länger leben ließ – vorausgesetzt, man zahlte das Hundertfache des eigentlichen Ladenpreises für die Schrumpeldinger.
Allerdings möchte ich die Verschnaufpause, in der ich an eine Eiche angelehnt den Stamm ankeuchte, noch kurz dazu nutzen, um eins klarzustellen: Ich habe nie jemanden geschädigt, der es nicht verdient hätte. Ich meine, mal ehrlich: Was ist denn dagegen zu sagen, dem Vorstandsvorsitzenden eines börsennotierten Pharmaunternehmens ein Bild zu verkaufen, der kurz vor Weihnachten seine schwangere Frau für eine jüngere verlassen hat? Einen Miró im Übrigen, den mein Kumpel Stolli bei der Beaufsichtigung seines Sohnes auf dem Kinderspielplatz gezeichnet hat.
Sehen Sie!
Ich stolperte über eine Wurzel, rappelte mich auf und blieb mit meinem Sakko an etwas Dornigem hängen. Einmal um die Achse drehend, entledigte ich mich des ohnehin viel zu warmen Kleidungsstücks, dessen linker Ärmel sich hoffnungslos verfangen hatte, und dabei passierte es. Ich verlor die Orientierung. Schon nach wenigen Schritten stellte ich fest, dass ich in die falsche Richtung gelaufen war. Zumindest nicht in die, die ich mit dem Teufelsberg anvisiert hatte, in der Hoffnung, auf ein paar Ausflügler zu treffen, unter die ich mich hätte mischen können. Stattdessen war ich offenbar in einem Neunzig-Grad-Winkel abgebogen und lief nun parallel zur Einbahnstraße die Strecke zurück, die die Polizei genommen hatte. Auf einem sandigen Parkplatz fand ich mich wieder. Ungeschützt und von allen Seiten einsehbar. Vor allen Dingen von etwa einem guten Dutzend Gesichtern, die mich unverhohlen neugierig durch die Fensterscheiben eines Reisebusses anstarrten.
»Holiday-Charter« stand mit gelber Schrift auf schwarzem Lack auf dem Bauch des Busses. So wie es aussah, hatte die Reisegruppe sich gerade in Bewegung setzen wollen, aber irgendetwas hatte die Person hinter dem Steuer veranlasst, wieder auf die Bremse zu treten und zischend die Tür zu öffnen. Im Einstieg erschien ein Lockenkopf im Union-T-Shirt.
»Dann mal hastich«, rief die Busfahrerin mir zu.
Ich sah mich um. Noch sah ich meine Verfolger nicht, hörte aber das Knacken und Kracksen ihrer Stiefel. Es war also nicht anzunehmen, dass die Urberliner Fußballfanin eine verkappte Fluchthelferin war. Wieso forderte sie mich dann auf, zu ihr zu kommen?
»Husch, husch, oder haste nen WBS ?«
»Einen was? «, fragte ich und kam näher.
»Einen Wohnberechtigungsschein. Den brauchen wa nämlich, wenn ick hier Wurzeln schlage.«
Sie drehte sich um, um sich wieder hinter das Lenkrad zu setzen, das, wie in derartigen Gefährten üblich, fast waagerecht angebracht war und den Radius eines Hulk-tauglichen Hula-Hoop-Reifens hatte.
Falls sie einen Restzweifel daran gelassen hatte, dass ich ihr in den Bus folgen sollte, zerstreute sie ihn mit einem wilden Hupkonzert.
Na wunderbar. Geht doch nichts über unauffälliges Verhalten auf der Flucht.
Wieder erwog ich meine Optionen, wieder stellte ich fest, dass ich keine andere Wahl hatte, wenn ich nicht in höchstens zwanzig Sekunden einer Einheit misstrauischer Polizisten gegenüberstehen wollte, die sich fragten, wer um Himmels willen mit einem Nebelhorn Morsezeichen in den Berliner Vorabendäther pumpte.
Also stieg ich ein.
Dass damit ein Albtraum begann, wäre im Nachhinein betrachtet die Untertreibung des Jahres. In etwa so, als würde man sagen, die Corona-Pandemie hätte weltweit für ein paar Scherereien gesorgt.