Kapitel 4

D ie Anzahl der Augenpaare, die mich beim Einstieg musterten, hatte sich verdoppelt. Nun starrte mich auch die andere Fensterseite der Reisegruppe des annähernd voll besetzten Busses an. Niemand sagte etwas.

Mit einer Ausnahme.

»Herr Schmolke, nehme ich an?«, hörte ich eine Endfünfzigerin mit Singsangstimme und mitleidigem Gesichtsausdruck fragen. Sie trug einen im Nacken ausrasierten Kurzhaarschnitt. Am Hals baumelte eine beeindruckend große Lesebrille an einer Bernsteinperlenkette über einer Rüschenbluse.

Wäre die Frau ein Modeartikel gewesen, dann ein Gesundheitsschuh, wie er im Teleshopping mit den Bemerkungen »flott und bequem« angepriesen wurde, und zwar erhältlich in den Farben Beige und Taupe.

Sie war aus der ersten Reihe hinter der Busfahrerin aufgestanden. Neben ihr saß ein hochgewachsener Mann mit Herrendutt und Viertagebart, der ihn nicht viel älter als einen Studienanfänger der Geisteswissenschaften aussehen ließ.

»Herr Schmolke?«, wiederholte sie, jetzt mit der gewaltigen Brille auf der Nase. Ich gab mein Zögern auf und nickte der Dame zu, in der ich die Reiseleiterin auszumachen glaubte. Immerhin hatte sie ein Klemmbrett aus der Netztasche vor ihrem Sitz gezogen und schien eine Namensliste abzuhaken.

»Und das ist …?«, fragte sie lächelnd.

Nervös folgte ich ihrem Blick, den Kopf schon leicht eingezogen, um den krachenden Aufschlag der flachen Hand auf der Schulter etwas abzufedern, und sah – nein, nicht den Ordnungshütern ins Gesicht. Sondern Wilma.

Wie zum Teufel …

Ihre Hektikflecken standen meinen unter Garantie in nichts nach.

Mehrere Gedanken schossen mir durch den Kopf, einer beunruhigender als der andere:

Hat sie sich absichtlich zurückfallen lassen?

Verfolgt sie mich?

Und wenn ja, war vielleicht sogar doch ich das Angriffsobjekt und nicht der SUV ? War ihre Zerstörungswut nur eine Demonstration dessen gewesen, was sie eigentlich mir antun wollte?

Aber warum? Was habe ich ihr getan?

»Sie ist …«, setzte ich an, kurz versucht, die Wahrheit zu sagen, … eine aggressive Psycho, die entweder vor der Polizei davon- oder mir hinterherrennt.

»Ich bin Frau Schmolke«, nutzte sie mein Zögern, mit der Betonung auf »Frau«. Dabei griff sie nach meiner Hand und schenkte mir eine gequälte Grimasse, die wohl ein verliebtes Ehefrau-Lächeln imitieren sollte. Mir wuchs ein Kloß im Hals. In etwa so musste sich die entführte Senatorentochter in »Das Schweigen der Lämmer« gefühlt haben, als Buffalo Bill einen Korb zu ihr in den Brunnen hinabließ und dabei »Es reibt sich die Haut mit der Lotion ein« säuselte.

»Na, dann sind wir ja endlich vollzählig«, sagte der Männerdutt leicht genervt.

Wenn er derselben Meinung war wie ich, nämlich dass Wilma und ich optisch ein schräges Paar abgaben, ließ er es sich nicht anmerken. Während sie sich mit ihrem Sportoutfit einmal durch den Musterfarbfächer eines Malereibetriebs gearbeitet hatte, waren meine Klamotten so farbenfroh wie die eines Schornsteinfegers. Schwarze Hose, schwarzes Hemd und – Überraschung – schwarze Schuhe. Damit fiel meine Kleidung weit mehr aus dem Rahmen als eine brombeerfarbene Yogahose. Zumindest in Berlin, wo man sich einen Smoking nur dann kauft, wenn man auf einen Fetischball gehen will. Aber heute war ein besonderer Tag für mich. Der sechzehnte Geburtstag meiner Tochter Lara. Für sie hatte ich mich fein gemacht. Und um zu ihr zu gelangen, hätte ich den SUV dringend gebraucht.

»Die Schmolkes – das hätte ich ja nicht für möglich gehalten«, hörte ich jemanden raunen. Bevor ich ausmachen konnte, wer das gesagt hatte, sah ich durch die geschlossene Türscheibe, wie sich einer der beiden Polizisten (der jüngere, schlaksige) seinen Weg zwischen zwei Tannen zum Parkplatz bahnte.

Sein Anblick ließ mich spontan zu Boden sinken, wo ich so tat, als müsste ich mir die Schuhe binden.

Wilma stolperte mit tief gesenktem Kopf über mich hinweg in den anfahrenden Bus hinein.

Zeitgleich schepperte die Stimme der Lockenkopf-Busfahrerin durch die Bordlautsprecher: »So, Jungs und Mädels, dann jeht’s jetzt endlich los, nachdem sich nun auch die Schmolkes die Ehre gegeben haben. Aber macht euch keinen Kopp wegen der Verspätung. Der frühe Vogel fängt den Wurm, aber erst die zweite Maus kriegt den Käse. Bis Danzig, auf Wiederhörnchen, eure Hilde.«

Diese Durchsage im Ohr, die sich fast so bekloppt anhörte, wie meine gebückte Körperhaltung aussehen mochte, kroch ich tiefer in den Bus hinein, um mich auf den ersten freien Platz zu verdrücken, der sich mir bot.

Der neben Wilma.