Kapitel 5

E rst nach geraumer Zeit wagte ich, aus dem Fenster zu schauen. Weder sah ich einen Polizisten mit dem Bus um die Wette rennen noch uns verfolgende Blaulichter.

»Also gut«, hörte ich Wilma sagen. Sie hatte die Füße auf ihren Rucksack am Boden gestellt und sich mir zugewandt. Definiert es mich als oberflächlich, dass mir in diesem Moment auffiel, wie gut sie duftete? Nach all den Anstrengungen hätte ich erwartet, dass sie in etwa so roch, wie ich mich fühlte. Durchgeschwitzt. Aber sie duftete wie frisch geduscht nach Minze und Zitronengras.

»Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte sie mich leise, aber nachdrücklich.

»Wer zum Henker sind Sie? «, parierte ich mit einer, wie ich fand, durchaus berechtigten, wenn auch nicht sonderlich originellen Gegenfrage.

»Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht.«

»Aber Sie?«

»Ja, das tut es, denn …«

Sie kam nicht dazu, mir zu erläutern, weshalb sie ihrer Meinung nach in der Hierarchie der Auskunftsberechtigten weit über mir rangierte (wobei, wenn man den Begriff »Hackordnung« wörtlich nahm, hatte sie das bereits mit dem Baseballschläger am SUV klar zum Ausdruck gebracht), denn ihr fiel ein fleischiger Finger von einer Sitzreihe weiter hinten auf die Schulter.

Um Sie zu beruhigen, der Finger hing an einer Hand, diese an einem Arm, und der gehörte zu einem offenherzig lächelnden Mann mit Mönchsglatze.

»Christin? Lutz?« Der Wilma penetrant antippende Mitreisende war entweder ein Sitzriese oder von nicht besonders großem Körperwuchs. Ich tippte auf Letzteres und vermutete, dass er von seinem Platz aufgestanden war, um uns über die Lehne hinweg anzugrinsen. Das Doppelkinn hing nur Millimeter über der Kopfstütze. Der Mann erinnerte mich an meinen Bankberater Rüdiger. Auch Rüdi lugte nur mit größter Mühe und auf Zehenspitzen mit seinem gutmütigen Rundschädel über das Pult, das er an den Wochenenden als DJ Dispo in den Brandenburger Dorfdiscos aufbaute.

»Das ist ja echt eine Überraschung. Ihr traut euch was! Sehr schön!«

Aha, jetzt hatten wir neben einem Nach- auch neue Vornamen. Christin und Lutz Schmolke.

Es gab sicher schlimmere Kombinationen, dennoch wäre ich gerne Sascha Nebel geblieben.

»Ulf!«, zischte die Frau auf seinem Nachbarsitz, und der über unser Erscheinen offenbar äußerst belustigte Passagier verschwand aus unserem Blickfeld.

»Zieh doch nicht immer so an meiner Hose, Martha!«, maulte er eine Person an, die nur seine Frau oder seine Mutter sein konnte. So ungeniert, wie sie den bestimmt Vierzigjährigen in der Öffentlichkeit maßregelte, war eine eheliche Verbindung wahrscheinlicher.

»Dann hör auf, dich wie ein Idiot zu benehmen.«

»Idiot? Ich hab grad zwanzig Euro gewonnen. Elias und Jamal haben dagegen gewettet, aber ich hab gesagt, die beiden kommen. Na, wer ist jetzt der Idiot?«

»Du, wenn du dich darüber freust.«

»Natürlich freue ich mich. Hast du gesehen? Arne Brehmer ist auch da. Letzte Reihe. Ich kann es gar nicht erwarten, dass die aufeinandertreffen.«

Um was genau zu erleben?

Verdammt, wo war ich hier nur reingeraten? Was zum Geier war das für eine krude Reisegruppe, in der sich die Mitreisenden anscheinend mit Namen kannten, nicht aber von Angesicht zu Angesicht? Sonst wäre es ja Martha und Ulf aufgefallen, dass wir nicht Lutz und Christin Schmolke sein konnten. Mochten ihnen die Gesichter nichts sagen, so wussten sie offenbar doch brisante Details aus dem Leben jenes Paares, in dessen Identität wir zwangsweise geschlüpft waren. Zum Beispiel, dass die Schmolkes offenbar irgendeine Art Zwist mit einem Mann namens Arne hatten.

Ich drehte mich mit der Grazie eines Walrosses unauffällig nach hinten um und entdeckte auf der allerletzten, durchlaufenden Sitzbank im Heck des Busses mittig einen hageren, bestimmt zwei Meter großen Mann in kurzen Khakihosen und Flipflops, der mich wie ein Scharfschütze fixierte.

Mir kam ein Gedanke.

War das hier vielleicht ein Betriebsausflug? Hatte Lutz seinem Kollegen die Beförderung weggeschnappt?

Hm.

Das war eine gedankliche Sackgasse. Wären das hier im Bus alles Kolleginnen und Kollegen, hätten die ja wissen müssen, wie die Schmolkes aussahen. Es sei denn, die wären die letzten Jahre nur im Homeoffice gewesen und hätten sich bei den Zoom-Meetings konsequent geweigert, die Kamera anzuschalten.

Alles irgendwie unwahrscheinlich.

Kurz hatte ich die bange Befürchtung, in eine anonyme Dating-Gruppe geraten zu sein. Eine Horde Tinder-Süchtiger, die sich zum ersten Mal im Real Life sah und nun gepflegt zum nächsten Swingerclub düste. Hatten Elias und Jamal dagegen gewettet, dass wir es wagen würden, uns von Arne Brehmer am Andreaskreuz auspeitschen zu lassen?

»Ihr traut euch was.«

Zum Glück blieb mir keine Zeit, mir diese schreckliche Theorie weiter auszumalen, denn Wilma-Christin zerrte energisch an meinem Hemdsärmel.

»Hey!«

»Was hey?«

»Antworten Sie mir endlich.«

»Was denn?«

»Wer sind Sie?«

Ich deutete mit dem Daumen nach hinten. »Haben Sie doch eben gehört. Lutz Schmolke.«

Sie rollte mit den Augen. »Okay, dann spiele ich das Spiel mal mit, Lutz. Wieso nicht? Zwei Fremde auf der Flucht vor der Polizei, die so tun, als wären sie ein Ehepaar. Im Grunde ganz lustig.« Sie seufzte. »Endlich mal was Aufregendes in meinem Leben.«

Endlich?

Ich versuchte, aus ihrer Miene Zeichen von Demenz oder Gedächtnisverlust herauszulesen. Hatte sie das »Hau den Lukas«-Intermezzo in der Einbahnstraße etwa schon vergessen? Oder zählte eine gepflegte Vorabendrandale zu ihrer herkömmlichen, ergo langweiligen Alltagsroutine? Wenn es nicht ausreichte, dass sie wie Thor den Hammer schwang, wollte ich lieber nicht wissen, was sie sonst so brauchte, um endlich mal wieder einen Adrenalinkick zu verspüren.

»Hören Sie, ich weiß nicht, was Sie für den heutigen Abend so geplant haben, aber ich für meinen Teil hab auf diese Irrfahrt ins Was-weiß-ich-wohin mit Ihnen so gar keinen Bock.«

»Dann hätten Sie nicht in diesen Bus steigen sollen, Lutz

»Ich hatte keine Alternative, Christin

»Wieso?«

»Weil ich …«

Ich zögerte, da ich keine Lust hatte, einer wildfremden, gewaltbereiten Aktivistin anzuvertrauen, dass ich gerade einen Wagen hatte klauen wollen, andererseits eine plausible Erklärung dafür brauchte, weshalb ich ihr hinterhergelaufen war, anstatt einfach auszusteigen und der Polizei wild gestikulierend zuzurufen: »Hinterher! Da läuft Greta Thor-Berg!«

Ich erinnerte mich an eine der wenigen Weisheiten meines Vaters, dass die beste Lüge im Kern immer auf der Wahrheit fußt, und sagte: »Ich hab Ärger mit der Polizei.«

»Und?«

»Und hätten Sie sich nicht ausgerechnet meinen Wagen ausgesucht, um an ihm ein subtiles Zeichen für mehr Klimaschutz zu setzen, dann wäre ich schon längst im wohlverdienten Feierabend und müsste hier nicht mit Ihnen ins Unbekannte zuckeln.«

»Verstehe«, sagte sie belustigt und zupfte an ihrem »Save our Planet«-Shirt. Ihr Lächeln, ich kann es nicht anders sagen, war äußerst charmant und entblößte etwas, was meine Omi Lenor als »Kuchenzahn« bezeichnet hätte. Ein leicht schräg stehender Eckzahn, der aufblitzte, als sie keck mit der Zunge dranstieß. (Keck, Sie ahnen es, auch ein Wort Lenors.)

»Ach, das freut Sie, ja?«

Sie nickte. Ganz eindeutig hatte sie einen schrägen Sinn für Humor, aber was hatte ich auch anderes erwartet.

»Es freut mich schon mal deshalb, weil Sie mich nicht anzeigen können, Lutz.«