Kapitel 6

S timmt. Hatte ich gar nicht dran gedacht. Wäre es tatsächlich mein Auto gewesen, hätte ich ihr längst an die Gurgel gehen müssen. In Kreuzberg wurden Menschen schon erschossen, wenn sie sich nur ans falsche Auto lehnten. Jeder zünftige Geländeprotzwagenbesitzer hätte Wilma-Christin mit einem Schraubenzieher die Augen ausgestochen. Und dann die Polizei gerufen.

Ich hatte nichts dergleichen getan. Ließ mich sogar von ihr verhören, wie ein … nun ja, ein Autodieb.

»Sie wollen nichts mit der Polizei zu tun haben. Ich auch nicht. Wir sitzen wohl im selben Boot.«

»Bus«, korrigierte ich sie. »Und aus dem steige ich bei der nächstbesten Gelegenheit aus.«

»Tja, aber wer weiß, wann die kommt.«

Der Gedanke, der sie verträumt aus dem Fenster sehen ließ, erschreckte mich. Ich sah mich um. Verdammt. Der Bus hatte eine Toilette. Und soweit ich es erkennen konnte, fuhr hier kein einziger Rentner mit. Es war also nicht zu erwarten, dass es zu einem Granufink-Patienten-Auflauf vor dem Bord-WC kommen würde, der Locken-Hilde am Steuer zur baldigen Einkehr an der nächsten Raststätte zwang. Was fasste so ein Reisebustank? Reichte das aus, um damit bis nach München durchzubrettern? Oder hatte sie mit »Bis Danzig« eben gar kein blödes Wortspiel gemacht, sondern tatsächlich das Ziel verraten?

Ich sah wieder aus dem Fenster.

Im Moment fuhren wir die AVUS Richtung Wannsee, es ging also eher gen Westen. Ich beschloss, spätestens bei Potsdam nach vorne zu gehen und notfalls einen Anfall spontaner Reiseübelkeit zu simulieren, sollte Hilde nicht freiwillig auf mein Bitten anhalten wollen.

»Hey, das musst du dir anhören!«, riss mich der Gangnachbar links von mir aus den Gedanken. Er sprach in einem arroganten Singsang, so hoch und vor allem so laut, dass ich zunächst dachte, ich wäre gemeint, dabei unterhielt er sich mit seinem Sitznachbarn. Modeopfer wäre vermutlich eine freundliche Bezeichnung für seine Erscheinung. Er trug ein Netzhemd-T-Shirt zu einer eng anliegenden, absichtlich zerrissenen Designerjogginghose, die kurz über den Knöcheln endete. Ein Umstand, der seine mit Goldnieten besetzten Loafer aufs Geschmackloseste zur Geltung brachte. Sein blondes Haar war mit einer halben Tonne Gel zu einer Sascha-Hehn-Gedächtniswelle toupiert. Und damit jedermann auch sah, wie hip und jung geblieben er doch war, stapelten sich an seinem Handgelenk neben der obligatorischen Rolex mehr Festivalarmbänder als Jahresringe an einer Dreißig-Meter-Eiche.

»Stell dir vor, was unsere Selma wieder angestellt hat!«, begann er seine Anekdote.

»Ach, hör doch auf, Theo-Mausi«, säuselte direkt hinter ihm kichernd eine Frau, etwa eine Oktave tiefer. Sie hieß Valentina, wie ich aus seiner Entgegnung »Lass mich mal, Valentina« schloss.

Ihre Klamotten waren ähnlich teuer und ähnlich geschmacklos wie die von Theo-Mausi, mit dem sie vermutlich liiert war, es sei denn, sie sprach jeden mit Kosenamen an. Zum Beispiel trug sie etwas an den Füßen, das ihr ein Verkaufsgenie aufgeschwatzt haben musste. Es waren einfache Plastikbadelatschen, wie man sie in jedem Discounter auf dem Grabbeltisch für maximal zehn Euro bekam, die hier aber unter Garantie für das Hundertfache den Besitzer gewechselt hatten, einfach nur, weil auf ihnen ein Designerlogo prangte, groß genug, dass ein CIA -Satellit es mühelos aus dem Weltraum erspähen konnte.

Die Welt, ein herrlicher Ort für Menschen, die betrogen werden wollen.

»Also, Selma hat von uns doch zu Weihnachten Terry bekommen.«

»Den Terrier?«, fragte vom Fensterplatz aus ein Mann, den ich nicht sehen konnte, der seiner löchrigen Stimme nach aber offenbar gerne mal eine Zigarette mehr rauchte.

»Ganz genau. Und du kennst doch Sylvie.«

»Selmas beste Freundin.«

»Bingo. Und die hat Schneeflöckchen. An warmen Tagen hoppelt er im Garten durch sein Gehege.«

Nennen Sie mich Sherlock Holmes, aber ja, ich wusste, wie die Unterhaltung weiterging. »Schneeflöckchen? Der Hase?«, würde Mr  Raucherhusten fragen. »Bingo«, würde Theo-Mausi antworten.

Spoiler: Genauso kam es.

Nachdem mit Terry und Schneeflöckchen, Selma und Sylvie nun alle Namen geklärt waren, nahm die Geschichte Fahrt auf.

»Also eines Tages kommt Terry mit Schneeflöckchen im Maul aus dem Garten zu uns in die Küche.«

»Nein.«

»Doch. Und Schneeflöckchen ist nicht mehr ganz so weiß, im Grunde völlig verdreckt. Und leider auch nicht mehr so lebendig. Im Grunde tot.«

»Nein!«

»Doch!«

Ich schaffte es nur mit Mühe, ein Louis-de-Funès-artiges Knurren zu unterdrücken.

»Was habt ihr gemacht?«, fragte der unsichtbare Marlboro-Mann am Fenster.

»Wir erst mal gar nichts. Wir waren nicht da! Aber Selma kommt auf eine geniale Idee. Sie wäscht Schneeflöckchen, föhnt und bürstet den Hasen. Und …«, Theo-Mausi stampfte vergnügt mit den Troddelslippern auf, »… und legt ihn heimlich zurück ins Gehege.«

»Damit …«

»Ganz genau. Damit Sylvie denkt, das arme Tier wäre an einem Herzinfarkt gestorben.«

»Krasse Geschichte.«

»Warte ab, es geht weiter.«

»Ach komm, Theo.« Die Badelatschentante griff wieder nach vorne, um den Arm des Anekdotenerzählers zu tätscheln, der sich jedoch nicht beirren ließ.

»Ne wirklich. Das ist der Hammer. Pass auf. Am nächsten Tag stellt mich Sylvies Vater zur Rede. Sagt: Theodor, in unserer Nachbarschaft müssen Perverse leben. Perverse!«

Theo schrie das Wort so laut, dass sich jetzt von allen Seiten Mitreisende zu ihm drehten.

»Perverse. Wer macht denn so was?«

Für einen Moment konnte Theo vor Lachen nicht weiterreden, dann stotterte er sich Mario-Barth-artig prustend zur Pointe: »Theo, hat mir Sylvies Vater gesagt, Theo, pass auf … vorgestern … vorgestern … pass auf, Theo … vorgestern ist Schneeflöckchen, der Hase meiner Tochter Sylvie, gestorben. Gestern haben wir ihn begraben. Und heute liegt er gewaschen, geföhnt und gebürstet wieder in seinem Gehege.«

Nicht nur Mr  Raucherhusten keuchte los, auch einige der unfreiwilligen Ohrenzeugen mussten lächeln.

»Wer macht denn so was?«, wiederholte Theo gackernd.

Selbst ich schmunzelte, obwohl ich wusste, dass diese Geschichte erstunken und erlogen war. Vielleicht war sie irgendwo tatsächlich so passiert, die Welt war voller verrückter Ereignisse, jedoch ganz bestimmt nicht Sylvie. Die Story war ein urbaner Mythos, den man zigfach im Internet fand, er hatte es sogar in ein Buch von Renate Bergmann geschafft, aber immerhin hatte Theo-Mausi die Anekdote gut erzählt.

»Also hat Terry den armen toten Hasen nur ausgebuddelt!«, erklärte der unsichtbare Sitznachbar den Gag für alle, die ihn nicht begriffen haben sollten.

Kopfschüttelnd drehte ich mich zu Wilma, die gerade ihren Rucksack nach oben zog, um ihn als Kopfkissen an die Scheibe zu klemmen. Als wäre jetzt der geeignete Moment, ein Nickerchen zu machen.

Echt jetzt?

»Sind Sie medikamentös nicht richtig eingestellt?«, fragte ich sie, ohne mit einer Antwort zu rechnen. Vielleicht war sie bei ihrem Aggressionsschub auf Speed gewesen und hatte jetzt heimlich eine Valium geschluckt, um runterzukommen.

»Ich nehm nicht mal Aspirin«, murmelte sie müde.

»Wie können Sie dann so seelenruhig bleiben, während wir gerade mit falscher Identität mit unbekanntem Ziel in einem Bus voll seltsamer Gestalten vor der Polizei fliehen?«

»Wieso denn nicht? Der Tag war sehr anstrengend, ich gebe meinen Augen eine kleine Pause und Ihnen Zeit, Ihre Geschichte noch mal zu überarbeiten.«

»Meine Geschichte?«

»Speziell den Punkt, in dem es um Ihren Wagen geht, in dem Sie gesessen haben.« Sie öffnete kurz die Augen, drehte den Kopf, ohne ihn von der Rucksackunterlage zu nehmen, und schenkte mir einen spöttischen Blick. »Für mich sah der SUV nämlich dem meines Mannes verblüffend ähnlich. Dem, mit dem er zu dem Flittchen gefahren ist, mit dem er mich in diesem Moment betrügt. Was im Übrigen das identische Nummernschild erklären würde.«

Und den Einsatz von Wilmas Baseballkeule.

Verdammt.

Sie schloss die Augen und zuppelte kurz an ihrem Shirt. »Und nur zur Info: Der Slogan steht auf allen Klamotten dieses Sportartikelherstellers. Save our Planet ist ein Markenname und hat nichts mit Fridays for Future zu tun. SUV s kann ich trotzdem nicht leiden.«

»Ach was«, murmelte ich benommen. »Hab ich gar nicht mitbekommen.«