Kapitel 8

D ie Nacht?

Auf einer Insel?

Ich wusste, dass es in Berlin rund siebzig davon gab. Einige davon – wie kürzlich Eiswerder in Spandau – hatte ich selbst schon mal betreten. Und zwar immer dann, wenn ich bewusst dem Trubel der Großstadt entfliehen und den Kopf frei bekommen wollte, beim Füttern der Enten am Ufer der Köpenicker Schlossinsel oder beim Picknick auf der Pfaueninsel im Wannsee etwa. Niemals, unter keinen Umständen hätte ich mich einer mir völlig fremden Reisegruppe angeschlossen, noch dazu über Nacht.

Ich will niemanden verurteilen. Wer sich nichts Schöneres unter Urlaub vorstellen kann, als dem Regenschirm einer studentischen Aushilfskraft hinterherzustiefeln, zum Beispiel die Stufen der Spanischen Treppe rauf, bitte sehr. Nichts gegen Pauschalreisen. Ich bin auch nicht so ein Superindividual-Typ wie meine Schwester Nikki, die sich eher in Einzelhaft begeben, als All-inclusive-Cluburlaub buchen würde. (Ihre letzte WhatsApp bekam ich von ihrer Fahrradtour durch Indien. Text: »Supernette Locals am Ganges getroffen, bleibe etwas länger.« Das Bild, das sie auf einer Isomatte in Embryonalhaltung liegend zeigte, hatte eine Hilfskraft von Ärzte ohne Grenzen aufgenommen, in deren Zelten sie gerade wegen ihres Magen-Darm-Infekts versorgt wurde.)

Also nichts gegen organisierte Rundtrips mit Vollpension und Gratis-Pay-TV . Aber bitte ohne Animation und Gruppenzwang. Beidem sah ich mich jetzt ausgesetzt.

Die Reiseleiterin, deren Brille wieder über ihrer Bluse baumelte, rief durch einen Trichter, den sie mit den Handflächen geformt hatte, Satzfetzen wie:

»Bitte das Gepäck nicht vergessen!« (meines bestand zum Glück nur aus einer Hortensie) oder »Wir treffen uns in Haus 9 B. Schlüssel gibt es später« der Meute der Fremden zu, die um mich herumwuselten – auf einem weiteren sandigen Parkplatz, nur einen Steinwurf von der Anlegestelle der Insel entfernt. Hilde hatte dort gehalten, nachdem wir von der Fähre geschaukelt waren, und danach alle mit freundlichen Worten zum Ausstieg aufgefordert:

»Dalli, dalli, raus hier, lasst die Haare wehen, sonst gibt’s dentale Kollateralschäden!«

Ulf, Martha, Arne, Theo, seine modebewusste Frau und alle anderen, deren Namen ich noch nicht aufgeschnappt hatte, schulterten Tragetaschen und Rucksäcke. Eine sehr blasse Frau mit asiatischen Wurzeln wirbelte einigen Staub mit ihrem Trolley auf.

»Ist das hier unisex?«, fragte sie mich im Vorbeigehen.

»Wie?«

»Oder nach Geschlechtern getrennt?«

Vor lauter Schreck vergaß ich achselzuckend meine Unwissenheit zu kaschieren. Erst letztens hatte ich von Seminaren gelesen, in denen einander fremde Menschen sich eng umschlungen festhalten sollten, bis die Endorphine strömten. War das hier so eine alternative Kuschelgruppe, und ihre Frage bezog sich darauf, ob sich Männlein und Weiblein gemischt oder getrennt auf den Isomatten verknäulten?

Sehnsüchtig sah ich zur Fähre zurück. Die noch immer glutheiße Abendsonne ließ ihren weißen Rumpf so grell glänzen, dass ich Angst hatte, schneeblind zu werden, wenn ich sie noch länger anstarrte. Mir drängte sich die Frage auf, weshalb diese doch eher kleine Fähre unter der Last des riesigen Reisebusses nicht untergegangen war. Kein Wunder, dass Hilde den Passagieren vorhin unter Androhung von Schlägen verboten hatte, sich auf den Sitzen zu bewegen.

Ich sah mich weiter um. Mit Ausnahme der Freifläche für den Parkplatz und der betonierten Anlegestelle schien die Wannsee-Insel komplett überwuchert. Bäume, Büsche, Sträucher zogen sich bis zum Ufer. Eine Steilkante aus Wurzeln und Gestrüpp fiel abrupt ins Wasser ab. Gut für Krebse, Flechten und Pilze. Schlecht für Strandläufer.

Apropos Jogging. Wilma stand wieder neben mir.

»Das hier ist ein Elternabend«, sagte sie.

»Wie bitte?«

Im Gegensatz zu mir schaffte sie es, komplett unsichtbar zu transpirieren. Ihr Sportoutfit hätte jedes Zewa in Sachen wisch und weg übertrumpft.

»Hat mir Frau Kloppke gesagt.«

»Wer ist Frau Kloppke?«

Sie zeigte zum Bus, der mittlerweile im Schatten zweier gewaltiger Sumpfeichen parkte. Zwischen ihnen schlängelte sich ein schmaler Pfad in den Inselwald hinein, aller Wahrscheinlichkeit nach zu dem angekündigten Haus 9 B.

»Die nette Dame mit dem Klemmbrett und der Kassenbrille.«

»Ach. Und die hat Sie beiseitegenommen und gesagt: Für den Fall, dass Sie unter Spontanamnesie leiden, Frau Schmolke, wir befinden uns übrigens auf einem Elternabend?«

»Nein.« Wilma stand mit dem Rücken zur Anlegestelle. Gegen den Steg platschten kleinere Wellen, die ein vorbeiziehendes Motorboot erzeugte. »Frau Kloppke hat eher so etwas gesagt wie: ›Schön, dass Sie hier sind, Frau Schmolke. Sie und Ihr Mann haben ja bislang noch nie an einem Elternabend oder Ähnlichem teilgenommen. Aber das hier heute ist wirklich sehr, sehr wichtig.‹«

Ich dachte nach.

Deswegen also kannten die uns nicht. Offenbar gehörten wir zu der Spezies Eltern, die sich bei keiner Schulveranstaltung blicken ließ. Das Gegenteil von den Strahlaus, dem Nachbarspärchen, das eine Etage unter mir wohnte. Helikoptereltern auf Steroiden. Wenn es irgendwo einen Kuchenstand zu betreuen oder einen Waldlauf zu beklatschen gab, weckten die beiden Supereltern ihre Tochter Anna morgens um halb vier, um schon vor Sonnenaufgang vor allen anderen Eltern am Ort des Geschehens zu sein. Auf ihrem Weg zur Schule ein Lächeln im Gesicht wie Sektenfänger in der Fußgängerzone, obwohl jeder Tritt in die Pedale mit übermenschlichen Anstrengungen verbunden sein musste, drohte der bis obenhin mit Selbstgebackenem und Winkewimpeln vollgepackte Thule-Anhänger doch vom Fahrrad abzureißen.

Ich dachte weiter nach und stieß auf einen offensichtlichen Widerspruch. »Ein Elternabend? Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Wieso?«

»Nun, als ich früher auf den Elternabenden von Lara …«

Ich biss mir auf die Zunge. Normalerweise sprach ich nicht über meine Familienangelegenheiten, und schon gar nicht mit Fremden, wieso fing ich jetzt damit an? Es war mir rausgerutscht, ja. Aber so etwas passierte mir sonst nicht.

»Sie haben eine Tochter?«

Ich nickte, obwohl ich am liebsten den Kopf geschüttelt hätte.

»Verheiratet?«

»Gewesen.«

»Aha, seh schon. Ist Ihnen unangenehm. Nur eins noch: Da Sie ›früher‹ gesagt haben: Ist Lara schon mit der Schule fertig?«

»Hm.«

Sie pfiff anerkennend. »Wie alt sind Sie? Vierzig? Sie müssen ja früh angefangen haben.«

»Hab ich. Und da ich noch so jung bin, funktioniert mein Gedächtnis auch ganz gut«, versuchte ich das Gespräch wieder in die richtige Bahn zu lenken. »Und daher weiß ich, dass man bei einem Elternabend stundenlang in einem muffigen Klassenzimmer sitzt, auf viel zu kleinen Stühlen. Die Zeit tröpfelt in Tai-Chi-Geschwindigkeit voran, und man versucht verzweifelt, sich unsichtbar zu machen, während der Lehrkörper mit Argusaugen nach Freiwilligen für die Wahl der Elternvertreter sucht.«

»Heißt?«

»Dass man für so eine Veranstaltung in die Schule geht und nicht über Nacht mit Bussen auf eine Insel verschleppt wird.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Das ist ein Übernachtungsausflug.«

Aha. Deswegen Frau Kloppkes Hinweis auf die Schlüsselübergabe (wohl für die Zimmer) und die Frage nach unisex oder gemischt (wohl wegen der Zimmeraufteilung). Mir ging ein Licht auf, wenn auch nur ein kleines.

»Ich denke, das soll die Gemeinschaft stärken. Den Klassenzusammenhalt«, meinte Wilma.

Ach du meine Güte.

War der Trend, aus allem ein Event zu machen, jetzt auch bis in die Schulen vorgedrungen? So wie eine schnöde Betriebsratssitzung nicht mehr »Sitzung«, sondern »Boot-Camp« hieß und das Klönen beim Bier in der Stammkneipe danach durch ein »Team bildendes« Wildwasserrafting ersetzt worden war?

»Ist ja auch egal. Ich hau ab«, sagte ich.

»Wieso?«

Kein Witz. Das war Wilmas Frage. Als hätte ich irgendwas Absurdes gesagt wie: »Ich geh mir mal kurz einen Nagel ins Knie kloppen.« Oder: »Ich seh mich mal nach Pinguin-Kadavern um.«

Aber ich sagte: »Ich hau ab.« Was könnte logischer sein?

»Wollen Sie etwa die Nacht hier verbringen?«

Ich sah auf ihren Rucksack. Vielleicht hatte sie ja für den Fall, dass sie beim Joggen vom Weg abkam und versehentlich die Nacht bei einem Elternabend auf einer Insel verbringen musste, stets einen Ersatzschlüppi und eine Zahnbürste dabei.

»Nun, nach Hause zu meinem Mann will ich ja wohl unter keinen Umständen«, erklärte sie.

Gut. Nachvollziehbar.

»Aber Sie haben doch sicher Freunde?«

»Jede Menge. Doch da müsste ich in der Gästeritze schlafen. Und dann besteht die Gefahr, dass mein Mann bei denen vor der Tür steht. Besser, ich nutze die Gelegenheit und schau mir mal an, was die hier so für Betten haben.«

»Und spielen dabei weiter die Frau Christin Schmolke?«

»Wieso nicht?«

Ich winkte ab. »Gut, viel Spaß dabei. Vergessen Sie aber nicht, dass wir einen Sohn haben.«

»Hector. Ich weiß.«

»Woher?«

Sie lachte. »Ich hab Ihr Gespräch mit Theo-Mausi eben mitbekommen. Ihre Imitation eines total Bekloppten hat mich sehr erheitert.« Sie schüttelte grinsend den Kopf. Ihr Zopf wackelte wie vorhin, als sie mit ihrer Baseballkeule das SUV -Dach bearbeitet hatte.

»Schön, Christin, in Zukunft werden Sie jedoch hier ohne mich als Unterhaltungsprogramm auskommen müssen. Ich mach mich vom Acker.«

»Und wie?« Sie lächelte so, wie Menschen lächeln, die sich über mich lustig machen. Nur einen Tick charmanter mit einem »Na, da bin ich aber mal gespannt, wie du aus der Nummer hier wieder rauskommen willst«-Blick. Ihr belustigter Argwohn war berechtigt, hörte ich doch gerade ein hydraulisches Zischen.

Ich sah zum Bus. O nein.

Hilde hatte wieder ihren Thron hinterm Steuer erklommen. Die Türen des Reisebusses schlossen sich.