M ist, Mist, Mist.
Die Tasche war mit meinem Sakko verschwunden, dessen ich mich (ich erinnerte mich dunkel) auf meiner Flucht durch den Wald entledigt hatte. Samt Brieftasche und – wenn es flutscht, dann flutscht es – meinem Handy.
»Bitte warten Sie. Nur kurz. Bin gleich wieder da«, sagte ich zu Hilde und hechtete zu Wilma zurück.
Ich erreichte sie, als sie gerade auf dem Pfad im Wald verschwinden wollte.
»Nanu?« Sie lächelte mich an und blieb stehen.
Ich war selbst kurze Sprints nicht mehr gewohnt und hechelte mehr, als dass ich sprach: »Haben Sie zufällig etwas Bargeld in Ihrem Rucksack?«
»Wofür?«
»Für mein Rückfahrtticket.«
»Nein.«
»Sie haben kein Geld?«
»Doch. Aber nein, ich gebe es Ihnen nicht.« Sie wollte weiter.
»Aber wieso denn nicht?«, fragte ich und hielt sie am Arm zurück.
»Tja, wo fange ich an? Sie sind ein Krimineller. Ich seh die Kohle nie wieder.«
»Ich brauche nicht viel«, log ich. Die altbewährte »Fuß in der Tür«-Methode. Ich musste Wilma erst einmal dazu bringen, ihre Börse zu zücken. Sobald sie ihr Geld in der Hand (und ich den Fuß in der Tür) hatte, war die Hemmschwelle überwunden. Im Umkehrschluss: Es wäre ihr dann sehr, sehr peinlich, das Portemonnaie wieder zurückzustecken und mich im Regen stehen zu lassen. Verriet ich ihr in diesem Stadium jedoch jetzt schon Hildes Wuchertarife, gäbe ich ihr ein gutes Argument, meine Bitte ohne jedes schlechte Gewissen abzuschmettern.
»Nur ein kleines Trinkgeld!«, bettelte ich daher.
»Und wenn es nur ein Euro wäre«, sagte Wilma. »Ich brauche jetzt jeden Cent. Sobald mein Mann herausfindet, was ich mit seinem Lieblingsauto gemacht habe, jagt er mir die teuersten Scheidungsanwälte auf den Hals, um auch noch die kleinste Unterhaltsverpflichtung abzuschmettern.«
»Aber er hat Sie betrogen!«, sagte ich mit einem »Das hat er sich doch selbst zuzuschreiben«-Unterton in der Stimme.
»Ach, und Sie meinen, das wird eine Familienrichterin bei den Unterhaltsverhandlungen für mich einnehmen, wenn sie erfährt, was die Ex-Frau mit den Vermögenswerten des Mannes so anstellt?«
Tja, könnte schwer werden. Aber wenigstens würde die Scheidung schnell durchgehen. Einen schlagkräftigeren Beweis für die Zerrüttung des Eheverhältnisses konnte es ja wohl kaum geben.
»Ja, er hat mich betrogen.« Wilma-Christin blieb neben einer Kastanie stehen. »Vermutlich tut er das noch immer. Vielleicht filmt er das arme Mädchen sogar beim Ehebruch. Schlimm, was die heutzutage für ein Paar Gucci-Sandalen so alles für Verrenkungen machen müssen.«
Ich nickte, als wüsste ich, wovon sie redete.
»Das Problem ist: Er hat auch uns beide gefilmt.«
»Na ja, das ist heutzutage doch nicht unüblich, dass verheiratete Paare sich dabei filmen, um ihr Liebesleben aufzupäppeln«, sagte ich in der irrigen Annahme, sie spreche von ihrer Angst vor einem kompromittierenden Video, auf dem sie mit ihrem Mann zu sehen war.
Wilma schüttelte den Kopf und richtete ihren Zeigefinger auf meinen Brustkorb. »Nein, er hat mich und Sie gefilmt.«
»Mich?« Für einen Moment fragte ich mich wirklich, wie es ihm gelungen war, in mein Schlafzimmer einzubrechen und mich dort auch noch mit Christin zu erwischen.
»Ihr Mann hat was? «
»Mit einer Dashcam. Das ist …«
Ah, okay. Jetzt kamen wir der Sache näher. Es ging nicht um einen Schmuddelfilm.
»Ich kenne die Dinger.«
Dashcams hingen meist unter dem Rückspiegel und filmten den Verkehr, damit man im Falle eines Unfalls ein Beweismittel hatte.
»Aber die Kamera ist doch auf die Straße gerichtet«, sagte ich.
»Nicht das Teil im Wagen meines Mannes. Das Ding filmt in beide Richtungen. Zur Diebstahlsicherung.«
Verdammt.
»Ich bin gefilmt worden. Und Sie auch, von dem Moment an, als Sie in den Wagen eingestiegen sind«, sagte Wilma.
»Machen Sie sich um mich mal keine Sorgen«, antwortete ich und machte mir Sorgen. Große sogar. Ich hatte alles bis ins Detail geplant. Laras Geburtstag. Mein letzter Coup. Das letzte Mal, dass ich ein Auto geklaut und mich für immer und ewig abgesetzt hätte, um endlich wieder bei meiner Tochter sein zu können. Wäre es so gelaufen, wie ich es sorgfältig durchdacht hatte, wäre es mir gleichgültig gewesen, dass es ein Tatvideo von mir gab. Doch jetzt war alles aus dem Ruder gelaufen, und meine Zukunft würde sich aller Wahrscheinlichkeit nach deutlich von der unterscheiden, die ich im Auge gehabt hatte. Ich war vorbestraft und auf Bewährung. Sollten die mich heute fassen, würde ich für lange Zeit einwandern. Und dann standen fremdbetreute Hofspaziergänge auf dem Programm statt ein selbstbestimmter Ruhestand.
Hilde hupte. Von meinem Platz aus konnte ich den Bus nicht mehr sehen, aber immerhin stand er in Hörweite.
»Ich bin integer«, versuchte ich es noch mal bei Wilma, »ich neige dazu, alle meine Schulden zu bezahlen.«
»Und ich bin ein Ausbund an Gelassenheit und Selbstbeherrschung.« Sie lachte.
Gut, mit Charme und Seriosität kam ich hier nicht weiter. Also ließ ich die Fakten sprechen: »Denken Sie doch mal bitte logisch«, forderte ich sie auf. »Wir sitzen hier in der Falle. Auch Sie.«
»Wieso?«
»Weil die Polizisten gesehen haben, zu welchem Bus wir gerannt sind. Zwei Anrufe, und die wissen, wer den gechartert hat. Ich gebe uns noch eine halbe Stunde, dann kommt das erste Boot der Wasserschutzpolizei.«
Sie neigte den Kopf und sah mir mitleidig in die Augen.
»Was?«, fragte ich.
»Wenn Ihnen jemand eine E-Mail schickt mit der Mitteilung, ein kenianischer Prinz hätte Ihnen 232 Millionen Dollar vererbt, glauben Sie das?«
»Hä?«
»Anders gefragt: Sind Sie naiv?«
»Wieso?«
Sie stöhnte. »Ich weiß ja nicht, wie intensiv Sie die Berliner Nachrichten verfolgen, aber vielleicht ist die Info über den chronischen Personalmangel der Polizei auch bis zu Ihnen vorgedrungen. Glauben Sie wirklich, die starten eine Fahndung nach uns? Ich meine, es ist ja nicht so, dass wir Geiseln in einer Bank genommen oder unser Auto im Halteverbot vor dem Haus des Innensenators abgestellt hätten.«
Hm . Wo sie recht hatte, hatte sie recht. Aus gut unterrichteten Kreisen wusste ich, dass in der Berliner 110 -Zentrale alle vierundzwanzig Sekunden ein Notruf einging. Jeder zweite löste einen Einsatz aus. Die alltägliche Lage bei der Polizei war also ähnlich entspannt wie die in einer Notaufnahme an Silvester. Meine gut unterrichteten Kreise bestanden, um ehrlich zu sein, aus einem einzigen Mann, der sich Grosny-Mario nannte, nach der Hauptstadt Tschetscheniens. Was in einigem Widerspruch zu der Tatsache stand, dass er ein in Herne-Eickel geborener Biodeutscher war. Aber er hatte in den Achtzigern leider zu viele Filme mit sowjetischen Bösewichten gesehen und meinte nun, mit einer Schlangentätowierung am Hals, einem rollenden R auf der Zunge (mit dem er wie die Imitation eines spanischen Kellners klang) und einem grimmigen Blick als Tschetschenen-Pate durchzugehen. Natürlich nahm ihm niemand seine Rolle als berüchtigter Hinterzimmer-Killer ab, aber er war mittlerweile ein Berliner Original, das die echten Tschetschenen so sehr belustigte, dass sie ihn allein schon zu ihrem Vergnügen am Leben ließen, als eine Art Hofnarr der Mafia.
Warum ich Ihnen das erzähle? Ebenjener Grosny-Mario hatte mir den Auftrag gegeben, den Geländewagen zu klauen, und mich mit dem passenden Funkschlüssel versorgt. Und auch wenn er nur die Imitation eines Mitglieds des organisierten Verbrechens war, hieß das nicht, dass er sich nicht mit den Kriminalitätsfakten der Hauptstadt auskannte, und die hatte Wilma-Christin tatsächlich korrekt wiedergegeben. Die Polizei hatte genug mit den wichtigen Delikten zu tun. Niemand würde seine Zeit mit Sachbeschädigung unter Eheleuten und versuchtem Autodiebstahl verschwenden. Zwei Verdächtigen aus einem spontanen Impuls heraus hinterherzurennen war die eine Sache. Eine Ermittlung loszutreten eine völlig andere. Allein der damit verbundene Papierkram machte mehr Arbeit, als die Baugenehmigung für ein Biomülllager im Naherholungsgebiet durchzuboxen.
»War schon ein Wunder, dass die uns überhaupt hinterhergerannt sind. Wahrscheinlich nur, weil wir so alt sind.«
»Alt?«, fragte ich. »Ich bin sechsunddreißig!«
»Sag ich doch. Alt. Erinnern Sie sich noch an Ihre Schulzeit? Sagen wir mal, als Sie fünfzehn waren.«
Neunte Klasse. Ich träumte davon, meine Panzerkette (Zahnspange) loszuwerden und endlich Solveig Mühring zu küssen, das hübscheste Mädchen der Schule. Jene Solveig, die, als ich das monströse Ding endlich raushatte, mich mit dem Satz stehen ließ: »Ah, Sascha. Ist es dir also endlich gelungen, dein Fahrrad aufzuessen.«
Aber auf diese Erinnerung wollte Wilma nicht hinaus, sondern: »Was haben Sie damals über sechsunddreißigjährige Lehrer gedacht?«
Erneutes Hupen von Hilde. Diesmal länger. Und noch ungeduldiger.
»Okay. Ja. Verstehe.«
»Alt, dachten Sie. Asbach. So richtig ranzig.«
»Scheintot, mediumverfault. Bei denen schmatzen die Regenwürmer, wenn sie über den Rasen laufen«, ergänzte ich. »Aber die Polizisten, die uns hinterhergerannt sind, waren ja wohl keine fünfzehn.«
»Aber jung genug, um uns für alt zu halten. Zumindest für eine leichtere Beute als die Klimaaktivisten, auch wenn ich zwei Jahre weniger auf dem Buckel habe als Sie.« Sie zwinkerte mir zu. Keck, wie meine Omi sagen würde.
»Also, kommen Sie mal zur Ruhe, atmen Sie locker durch die Hose, wie Hilde es uns geraten hat, und machen Sie bloß keine Dummheiten. Niemand wird uns hier suchen, keiner finden. Es sei denn, Sie hauen jetzt von hier ab.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte ich. Weil ich es nicht verstand.
Sie machte mit der rechten Hand eine kreisende Bewegung, als wollte sie mir sagen: Und das wird alles einmal dir gehören, mein Sohn. »Schauen Sie sich um. Wir sind die Letzten hier. Alle anderen Eltern warten bestimmt schon wieder nervös auf uns. Was denken Sie, was passiert, wenn ich alleine in Haus 9 B auftauche? Weil Sie verschwunden sind? Auf einer Insel, wo die nächste Fähre erst um acht Uhr morgens fährt? Was, glauben Sie, wird passieren, wenn ich keine Antwort auf die Frage habe, wo mein Ehemann abgeblieben ist?«
Ich überlegte, lernte aber rasch, dass die Fragen wohl rhetorischer Natur waren.
»Genau. Man wird nach Ihnen suchen. Frau Kloppke wird die Wasserpolizei oder die DLRG rufen, wenn man Sie nicht findet. Und ja, dann kommt wirklich jemand. Ein potenziell Ertrunkener im Wannsee mit zwei Dutzend besorgten Zeugen, das kann kein Polizist mehr ignorieren oder in die nächste Schicht verschieben.«
Ich hörte von irgendwoher das krächzende Gurren eines Kormorans. Leider nicht das Flap-flap eines sich nähernden ADAC -Hubschraubers, um mich hier rauszufliegen. Nicht mal Blätterrauschen hörte ich. Es gab keinen Wind. Keine kühlende Brise. Nur feuchtwarme Hitze. Sehnsüchtig spähte ich durch eine Lücke im Wald zum Ufer.
»Sagen Sie einfach, ich hätte etwas vergessen und musste zurück«, sagte ich. Kraftlos. Ohne jegliche Energie, denn die aufzubringen wäre Verschwendung gewesen. Durch die Lücke in den Bäumen sah ich auf dem Wannsee nämlich etwas, was jegliche Hoffnung in mir zerstörte.
Hilde. Vor ihrem Bus. Der auf dem Wasser an uns vorbeizog. Weil er wieder auf der Fähre stand.
»Hey, du Vogel«, brüllte die Busfahrerin, die ich aus der Entfernung nur noch an ihren Locken erkannte. Und an ihrer Brüllstimme: »Welches gleich hast du denn gemeint, als du gesagt hast ›Ich komme gleich wieder‹? Gleich morgen? Oder gleich nächstes Jahr?« Sie winkte mir zu. »Ich hab auch nicht Zeit bis zur Rente. Wir sehen uns morgen, Thorben. Hasta la vista, Mister. San Frantschüsko, die Hilde.«
Wilma winkte ihr als Einzige von uns beiden zurück und ging dann weiter. »Komm mit«, sagte sie, ohne über die Schulter zu blicken. Das erste Mal, dass sie mich duzte. »Das wird sicher lustig.«
Ich nickte. »Auf jeden Fall.«
Lustig.
Weil Elternabende ja dafür bekannt sind, ein wahrer Quell der Freude zu sein.