Kapitel 11

Etwa zur selben Zeit
Berliner Festland

D as glaube ich nicht. Er will was nicht machen?«

Polizeimeisteranwärter Torsten Tratto starrte den demolierten SUV an, dann schaute er die Straße runter zum Eigentümer, der nur mit Unterhose und Badelatschen bekleidet in einem Reihenhauseingang verschwand. Schließlich blickte er zurück zu seinem Kollegen. Dabei wirkte Tratto wie ein fleischgewordenes Fragezeichen. Das tat er allerdings meistens, wie sein Vorgesetzter nicht umhinkam zu denken. Was auch immer man Trottel-Tratto sagte, zeigte oder fragte, man hatte stets den Eindruck, er habe nichts als einen Pfeifton unter seiner Dienstmütze.

Himmel, wie konnte ich nur so blöd sein?, dachte Helmut Koschnick, Polizeiobermeister der Berliner Bereitschaftspolizei. Normalerweise, das gab er selbst zu, war er die faulste Sau im Dienst. Fünftausend Demos und Sportveranstaltungen im Jahr, bevölkert von Irren und Bekloppten, die die Hauptstadt anzog wie ein Magnet. Nee, nee. Sollten die anderen sich doch für den mauen Sold von Querdenkern, Betrunkenen oder Reichsbürgern bespucken, treten, schlagen oder zumindest beleidigen lassen. Er hielt sich vornehm zurück, tat nur das Notwendigste im Einsatz. Deswegen hatte Koschnick ja auch gedacht, das seltsame Pärchen, das sich vom Tatort fort in die Waldbresche schlug, wäre eine willkommene Ausrede gewesen, sich nicht diesen Umweltfanatikern in den Weg stellen zu müssen. Aber wieso hatte er »Mitkommen!« befohlen? Und das ausgerechnet demjenigen, der in der Truppe das größte Pech beim Denken hatte?

Ja, klar. Irgendjemand musste nachher die dreißig Formulare tippen für den unwahrscheinlichen Fall, sie hätten wirklich jemanden gefangen und überführt. Damit es aber gar nicht erst zu einem arbeitsauslösenden Einsatzerfolg kam, hatte Koschnick sich im Wald schön zurückfallen lassen. Hatte sich hinter einem Baum versteckt, als er sah, wie der Anzugtyp stolperte. Die Frau im Sportdress hatte er da längst aus den Augen verloren gehabt. Dafür aber hatte Trapper-Tratto auf einmal Blut geleckt und die Spur aufgenommen.

Na ja. Zum Glück hatte er ihn abhalten können, den Bus zu stoppen. Und das Schicksal hatte es letztlich offenbar gut mit ihm gemeint, was den SUV -Geschädigten anging. Der wollte mit den Behörden nichts zu schaffen haben. Prima.

»Es ist so, wie es ist«, sagte Koschnick. »Der Eigentümer des Wagens will keine Anzeige erstatten.«

»Aber …«

Standen da etwa Tränen in Trattos Augen? Streichelte er tatsächlich über die malträtierte Motorhaube des Geländewagens, zärtlich wie eine Mutter über die Beule ihres gestürzten Kindes?

»Schauen Sie sich das wunderbare Auto an. Völlig hinüber. Das kann man doch nicht so hinnehmen.«

Wunderbares Auto? Also in diesem Punkt konnte Koschnick diese demonstrierenden Klima-Gretas ja verstehen. Er schwitzte sich hier seine mageren Sterne von der Uniform, nur weil solche Spackos eine Penisverlängerung brauchten. Das Wetter war schon lange nicht mehr normal, nicht zuletzt wegen dieser Spritvernichter hier. Am liebsten hätte er selbst dagegengetreten, aber da gab es nicht mehr viel zum Kaputtmachen. Die beiden Flüchtenden hatten ganze Arbeit geleistet.

»Dann müssen wir eben selbst ermitteln!«, sagte Tratto trotzig.

Ja, klar.

»Erstens«, klärte Koschnick ihn auf: »Sachbeschädigung ist ein Antragsdelikt. Da werden wir ohne Anzeige nicht tätig. Und zweitens …«

BIST DU VÖLLIG BEKLOPPT ???, hätte er Tratto am liebsten angeschrien und ihm mit jedem Wort zünftig ins Gesicht geschlagen. Ich will nach Hause, eine Molle zischen und netflixen. Und ganz bestimmt nicht bei Temperaturen, bei denen man selbst in Dubais Schulen hitzefrei gibt, nach Pillepalle-Verbrechern suchen.

»Ein letztes Mal, Arnold will es nicht zur Anzeige bringen, und damit …«

»Ich glaube, der Eigentümer des Wagens heißt nicht Arnold«, unterbrach ihn Tratto.

Das darf doch nicht wahr sein …

»Ich weiß, dass er nicht Arnold heißt. Ich nenn ihn nur so wegen seines Aussehens.«

»Ah, weil er so klobig ist wie ein Waggon.«

»Hä?« Jetzt hatte Koschnick einen Pfeifton im Kopp.

»Arnold Metallspielwarenfabrik«, sagte Tratto. »Total tolle Modelleisenbahnwaggons. Ich hab eine komplette Anlage in meinem Zimmer. Leider pleitegegangen, aber mittlerweile kriegt man wieder Ersatzteile für die Spur-N… Aua.«

Koschnick hatte Tratto mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf geschlagen. »Wegen Arnold Schwarzenegger, du …« Er erinnerte sich an den letzten Achtsamkeitskurs, den er zwangsweise hatte absolvieren müssen, und schluckte die Beleidigung hinunter.

»Aber der Eigentümer sieht doch überhaupt nicht aus wie ein Bodybuilder!«, jammerte Tratto und rieb sich den Kopf.

Herr im Himmel … natürlich nicht. Koschnick rang die Hände und legte verzweifelt den Kopf in den Nacken. Offensichtlich hatte der SUV -Fahrer nicht einmal Muskeln. Nackt bis auf die Feinripp-Unterhose, weißhäutig wie ein toter Fisch, hatte er vor ihnen gestanden, kurz nachdem sie ihn übers Handy aus seinem Bett geklingelt hatten. Oder aus dem Bett einer anderen. Die Schönheit, die ihnen nur mit einem Handtuch bekleidet die Tür geöffnet hatte, hatte nicht den Eindruck gemacht, als fiele Mr  Hairy-Fischbauch in ihr allgemeines Beuteschema. Aber das ging ihn nichts an, wo die Liebe hinfiel. Oder das Geld …

»Das war ein Witz, Tratto. So wie man mich manchmal Locke nennt.«

»Wieso? Sie haben doch gar keine Haare.«

»Ja eben … ach, vergiss es.« Koschnick seufzte. »Komm, wir rücken ab.«

Der Rest der Truppe war noch mit dem Einsatz beschäftigt und hatte die Demo zurück zur angemeldeten Route geleitet. Vielleicht fiel es gar nicht auf, wenn sie den Bericht erst morgen, vielleicht sogar erst morgen in zwanzig Jahren schrieben.

»Okay, gut. Aber was ist mit Grosny-Mario?«, wollte Tratto wissen.

»Mit wem?«

»Na ja, ich hätte es wohl schon früher sagen sollen.«

»Was?«

»Ich hab vielleicht einen kleinen Fehler gemacht!«

Koschnick starrte ihn an und versuchte, sich auf das Schlimmste gefasst zu machen. »Was hast du getan?«

»Sie erinnern sich? Das Sakko, das der Flüchtende im Wald ausgezogen hat?«

»Das du liegen lassen solltest, bis die Spurensicherung kommt«, wiederholte Koschnick seine schwachsinnige Anweisung, die offenbar selbst diese geistige Amöbe hier als Arbeitsverweigerungsmaßnahme durchschaut hatte.

»Da war ein Handy drin. Das hat geklingelt. Ich bin drangegangen.«

»Nein.« Koschnick zwickte sich in der Hoffnung, aus einem bösen Traum aufzuwachen.

»Doch. Da war ein Mann. Sehr einschüchternde Stimme. Rollendes R. Sehr böse. Er hat mich gefragt, ob der Einsatz gut gelaufen wäre. Ich habe ihn für unseren Chef gehalten.«

Ja, logisch. Weil der sich ja auch nicht als Einheitsführer Yüzgec über Funk, sondern als Irgendwer-Mario auf dem Handy eines Täters meldete.

»Er hat mich Sascha genannt und gefragt, wann ich zurück wäre, und da hab ich ihm gesagt: Sie irren sich, ich bin nicht Sascha. Ich bin Torsten Tratto und werde gemeinsam mit Helmut Koschnick alles dafür tun, dass das mit dem SUV aufgeklärt wird.«

»Moment mal. Du hast einem Unbekannten über das Handy eines Tatverdächtigen unsere Identitäten verraten?« Koschnick ballte die Fäuste.

»Ich war vielleicht etwas nervös …«

Keine Sorge. Das wird sich bald legen. Sobald ich dich mit dem SUV in die Presse gefahren habe.

»Wie hieß der Typ noch mal?«

»Grosny-Mario. Moment mal, jetzt, wo Sie nach seinem Namen fragen, fällt es mir auf.«

»Was?«

»Das rollende R, die finstere Stimme. Wenn ich es recht überlege … er klang wie ein Killer. Und ist Grosny nicht die Hauptstadt von Tschetschenien?«

Scheiße, ja. Das klang nicht gut. Gar nicht gut. Aber längst nicht so schlimm wie das, was Trottel-Tratto als Nächstes sagte.

»Das passt jetzt alles zusammen.«

»Was?«

»Nun ja, am Ende hat der Kerl erklärt: ›Hörrr gut zu, Torsten. Du und Helmut, ist mirrr egal, wie. Finde Sascha Nebel oder brrringe selbst. Mir egal. Wenn nicht spätestens in vierrr Stunde habe Ware, Grosny-Mario schickt Tschetschenen-Brrrüder mit Lötkolben.‹«

Er grinste – offenbar war er stolz darauf, dass er Grosny und Tschetschenien in Verbindung gebracht hatte. Oder weil er das R so kehlig rollen konnte.

Unfassbar. Tratto würde mit einem selbstzufriedenen Lächeln auf den Lippen sterben, wenn Koschnick seinen Fantasien jetzt freien Lauf ließe.

»Lass mich kurz zusammenfassen: Du hast der tschetschenischen Mafia Informationen sowohl über unsere Identität als auch über unsere Ermittlungsarbeit gegeben?«

»Ich dachte, wir ermitteln nicht?«, fragte Tratto.

Koschnick hatte noch nie jemanden getötet. Er hätte allerdings nie gedacht, wie leicht es ihm fallen würde, einen Mord zu begehen. Auf offener Straße. Und er wusste, er würde sich gut danach fühlen.

»Scheiße, Junge. Das müssen wir jetzt aber wegen deiner hirnverbrannten Dummheit.«

»Wieso?«

Sinnlos, es ihm zu erklären. Genauso gut hätte er Wegweiser für Wespen aufstellen können, damit die im Garten an seinem Kuchen vorbeiflogen. Der Grund lag ja wohl auf der Hand.

Irgendetwas musste in dem Wagen drin sein! Etwas so Heikles, dass der Geschädigte sich nicht traute, Anzeige zu erstatten. Offenbar hatte die Tschetschenen-Mafia, mit der sich nur Gehirnamputierte freiwillig anlegten, an dem SUV ein Exempel statuiert. Wenn das eskalierte und später rauskam, dass Helmut Koschnick einem Anfangsverdacht nicht nachgegangen war …, das würde ihnen allen um die Ohren fliegen. Zumal dieser Tratto-Trottel keine zwanzig Sekunden einer internen Ermittlung durchstehen würde.

»Wo ist das Handy jetzt?«, fragte Koschnick.

»Ich sollte das Sakko doch liegen lassen.«

Grundgütiger. Da sollte ihm noch mal einer was von Evolution erzählen, wenn diese Intelligenzamöbe das Ergebnis Millionen Jahre langer Entwicklungsarbeit war.

»Mitkommen!«, fauchte er.

»Wohin?«

»Erst in den Wald. Bete zu Gott, dass das Sakko noch da ist.«

»Und dann?«

»Zur Zentrale von Holiday-Charter. Ich muss wissen, wohin der verdammte Bus gefahren ist.«