W ie heißt es so schön: Die meisten Menschen geben Geld aus, das sie nicht haben, um sich Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchen, um Menschen zu beeindrucken, die sie nicht leiden können. Ich bildete da keine Ausnahme, zumindest, was den letzten Punkt anging.
Dessen wurde ich mir schmerzlich bewusst, als ich mit Wilma den Pfad zu Haus 9 B nahm. Wie Wilma vorhergesagt hatte, waren wir schon wieder die Letzten, und das war mir unangenehm. Auch wenn ich a) keinen Menschen hier kannte und b) nach diesem Abend unter Garantie nie wieder etwas mit ihnen zu tun haben würde (die Wahrscheinlichkeit eines zweiten Insel-Elternabends in meinem Leben schätzte ich als äußerst gering ein), war mir der Gedanke, dass die Eltern und Lehrenden schon wieder auf uns warten mussten, irgendwie peinlich. Schon komisch, wie viel Wert ich auf die Meinung Fremder legte. Andererseits – Instagram, TikTok und Facebook könnten kaum existieren, wenn Millionen von uns nicht immer wieder aufs Neue versuchen würden, Unbekannten zu imponieren.
Mit diesem Gedanken im Kopf eilte ich neben Wilma an etwa einem Dutzend rostbraun verputzter Holzbaracken vorbei. Sie waren etwas lieblos an den Pfad geklatscht, der sich nach hundert Schritten ins Inselinnere hinein zu einem anständigen Schotterweg vergrößert hatte.
Jeder Bungalow hatte ein schräges Flachdach mit dem Neigungswinkel einer Kinderrutsche (vermutlich, damit der leider nicht zu erwartende Regen besser ablaufen konnte), das nach vorne verlängert als Überdachung einer Kieselwaschbetonterrasse herhielt. Leere Wäscheständer rosteten darunter still vor sich hin. Ein Anzeichen, dass es Menschen gab, die hier länger als bis zur nächsten Morgenfähre hausen mussten. Die Armen.
Haus 9 B stand – aus welchem Grund auch immer – zwischen Bungalow 12 und 13 . Stein auf Stein gebaut, mit weißem Putz und rotem Ziegeldach, erinnerte es mich an die Gebäude der Heerstraßensiedlung, in der das Übel seinen Anfang genommen hatte. Es hatte sogar einen ähnlichen Windfang wie die Reihenhäuser dort. Ein Schild auf dem teilverglasten Vorbau erklärte das Haus 9 B zum »Mehrzweckgebäude«.
Aha . Als ob alle anderen Häuser dieser Welt nur zu einem einzigen Zweck gebaut worden waren, weshalb man den Architekten beim Richtfest oft zum Auftraggeber Sätze sagen hörte wie: »Natürlich haben Sie kein Schlafzimmer. Ihr Haus hat ja nur den einen Zweck, darin zu essen. Aber wir können Ihnen gerne zusätzlich ein Bettenhaus bauen. Sollten Sie allerdings beabsichtigen, sich darin auch noch zu duschen, käme ein Mehrzweckgebäude auf Dauer vielleicht günstiger.«
Hab ich schon erwähnt, dass nahestehende Personen meine Gedankengänge manchmal nervtötend finden?
Wilma ging voran, ich ließ mir Zeit, um den Aushang eines verglasten Informationskastens zu studieren. Hinter den staubüberzogenen Scheiben lagen tote Insekten auf dem Rücken. Vergilbte Piktogramme informierten den geneigten Betrachter im Wesentlichen darüber, was man in der »Freizeitanlage Schilfwerder« nicht tun durfte: rauchen, Enten füttern, laut Musik hören, im Freien grillen, Hunde frei laufen lassen. »Elternabende abhalten« stand leider nicht drauf.
»Hey, wollen wir uns kurz absprechen?«, schlug Wilma vor.
»Inwiefern?«
»Na ja, was wir für einen Grundtenor haben, schulische Fragen betreffend. Wir könnten versuchen, uns als Helikoptereltern auszugeben.«
»Das ist jetzt ein Witz, oder?« Ich tippte mir an die Stirn. »Soweit ich weiß, ist das ein Schimpfwort für Erziehungsberechtigte, die ihren verwöhnten Bälgern den Toilettensitz vorwärmen und so.«
»Ja, finde ich gut.«
Hat sie gesagt. Kein Witz.
»Was ist denn daran gut? Jetzt mal ganz abgesehen davon, dass wir dann ja wohl längst Vorsitzende des Freundeskreises dieser Schule wären, wie die Strahlaus …«
»Wer sind die Strahlaus …?«, unterbrach sie mich.
»Tut jetzt nichts zur Sache. Aber ich bin kein Helikopter.«
»Also lieber ein U-Boot«, legte sie fest.
»Hä?«
Neben dem Eingang stand eine blecherne Gießkanne im Schatten, in der sich zu meiner Freude etwas Wasser befand. Erleichtert platzierte ich die Hortensie in der provisorischen Vase.
Derweil sagte Wilma: »Ich finde, es ist so: Alle schimpfen immer über besonders fürsorgliche Eltern, die ihre Kinder auf Schritt und Tritt behüten. Aber wie oft schlägst du die Zeitung auf und liest: Seine Drogenkarriere war vorgezeichnet. Mami schmierte ihm die Stullen noch, bis er achtzehn war?«
Also, daher wehte der Wind. »Okay, ich verstehe, worauf du hinauswillst. Du meinst, wir haben eher ein Problem mit U-Boot- als mit Helikoptereltern?«, fasste ich zusammen und zeigte auf die Tür, immerhin waren wir wie gesagt die Letzten.
»Egoistische Erziehungsberechtigte, die permanent abtauchen.« Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Die ihren Nachwuchs stundenlang vor dem TV alleine lassen. Essen gibt es nur bei McDoof oder WürgerKing. Oder die Kleinen müssen gleich hungrig ins Bett, während Mama und Papa entweder bis in die Puppen arbeiten oder saufen oder beides. Wieso auch nicht, gibt ja einen Babysitter namens Handy oder Playstation mit Spielen drauf, bei denen man nur die volle Punktzahl bekommt, wenn man den Gegner am Boden mit der Keule auch so richtig zermatscht.«
Hm. Da war was dran. Besonders, wenn ich an meine Eltern dachte. Mama und Papa mit einem U-Boot zu vergleichen wäre noch zu viel der Ehre. Ein U-Boot tauchte wenigstens hin und wieder auf. Ich hatte sie seit meinem Ausreißen nicht mehr gesehen, also seit meinem sechzehnten Lebensjahr.
»Gibt es nicht so etwas wie einen Mittelweg?«, wagte ich einen Kompromiss. »Irgendwas zwischen ›Mein Kind muss seinen Fahrradhelm auch beim Schlafen tragen‹ und ›Papa lässt sein Crack offen auf dem Couchtisch rumliegen‹?«
»Ja, aber Ersteres wäre mir eben lieber«, sagte Wilma und ließ mich stehen.
Na wunderbar. Der Elternabend hatte noch nicht mal begonnen, und wir hatten schon Streit. Und das, ohne überhaupt verheiratet zu sein.
Da kann ja heiter werden, dachte ich in düsterer Vorahnung und folgte ihr.