E s war natürlich nicht das erste Mal, dass ich vorgab, jemand anderes zu sein. Um ehrlich zu sein, habe ich das mittlerweile schon so oft getan, dass ich manchmal Probleme habe, mich daran zu erinnern, wer ich wirklich bin.
Das begann schon früh. Als Kind verfügt man noch über feine Empathie-Antennen. Ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen ist laut all den Lebensweisheits-Gurus ja das Erstrebenswerteste, was es gibt (abgesehen von dem Geld, auf das es diese Live-Coach-Beppos mit ihren Carpe-Diem-Plattitüden abgesehen haben). Ich empfand es oft als Fluch, mich in andere Mitmenschen so gut hineinversetzen zu können. Es verschafft einem Vorteile, ja. Aber es führt über die Jahre hinweg auch zur Selbstverleugnung bis hin zur Selbstaufgabe.
Nehmen wir meinen Vater. Bei ihm konnte ich am Kratzen des Schlüssels am Haustürschloss erkennen, ob er lieber in Ruhe gelassen oder mit einer Büchse Dosenbier begrüßt werden wollte. Und so entschied ich je nachdem, ob er bereits hackedicht war oder nur mit ein bis zwei Trägern vorgeglüht hatte, ob ich heute Sascha, den unsichtbaren Sohn, spielen sollte – oder Sascha, den Fürsorglichen, der sich interessiert daran zeigte, wie viele Strikes die alte Suffbirne gerade wieder nur knapp verpasst hatte. Apropos: Dass die Bowlingbahnbetreiber meinem Dad damals kein Hausverbot erteilt haben und ihn immer weiter haben spielen lassen, ist mir noch heute unverständlich. Ich meine, einem Besoffenen würde man auf dem Schießstand doch auch keine Armbrust in die Hand drücken und sagen: »Hey, ziel mal ungefähr in die Richtung.« Aber wenn es darum ging, eine Zwanzig-Kilo-Kanonenkugel durch einen voll besetzten Saal zu schleudern, das war in Ordnung?
Ja, sorry, ich schweife ab. Nur noch eines: Meine Schwester hat diese Empathie-Antennen nicht. Und deshalb hat sie oft Schläge kassiert. Vielleicht wird auch umgekehrt ein Schuh draus, und die vielen Ohrfeigen von Mama und Papa hatten ihre Antennen abgeknickt. Jedenfalls hatte Nikki nie gelernt, sich so zu geben, dass sie von anderen gemocht oder wenigstens in Ruhe gelassen wurde. So wie ich, der schon in jungen Jahren gelernt hatte, was man in welcher Situation von mir wollte und wie ich mich geben musste, um von anderen Menschen das zu bekommen, was mir wichtig war. Als Kind ging es mir im Wesentlichen darum, geliebt zu werden – von den eigenen Eltern, den Mitschülern, den Lehrern. Später, bevor meine private Tragödie mich aus der Bahn warf, wollte ich, dass man mich für einen anständigen Kerl hielt, auch wenn er einen mit albernen Werbesprüchen wie »Von Schönefeld in die schöne Welt« für eine Abrissbude wie den Berliner Flughafen zu begeistern versuchte. Tja, und nachdem ich mich so sehr vom Leben betrogen gefühlt hatte, dass ich fortan keine Skrupel mehr damit hatte, selbst zu betrügen, wollte ich mal für einen geschniegelten Hotelportier gehalten werden, dem man bedenkenlos die Schlüssel für den Aston Martin zum Einparken in die Hand drückt, dann wieder für den erfrischend unkomplizierten Makler, der die Anzahlung für das ihm völlig unbekannte Objekt entgegennimmt.
Ein Nebeneffekt meiner aktuellen Kleinstganoven-Karriere war übrigens der Fakt, dass ich mir mit den Jahren eine gesunde Menschenkenntnis auf der Straße erarbeitet hatte.
Bei Ulf zum Beispiel (schräg links von mir sitzend) war ich mir sofort sicher, dass er Geld brauchte, und das dringend. Das sah ich unter anderem an seiner Uhr. Eine Rolex Daytona mit Datumsanzeige. Ohne wäre sie etwa achtundzwanzigtausend Euro wert gewesen. Mit dem Tagesanzeiger jedoch sank der Listenpreis geringfügig auf etwa zwei Euro achtzig; allerdings nur, wenn es noch einen Kaugummi aus dem Automaten dazu gab, aus dem Ulf sie gezogen haben musste. Merke: Eine echte Daytona zeigt dir nie, nie, niemals an, welcher Tag heute ist.
Okay, nun könnte Mr »Ihr traut euch was« den Fake vielleicht nur zum Spaß tragen und heimlich im Tresor eine ganze Batterie an Schweizer Originalen stapeln. Aber der Eindruck, dass er etwas zu lange in Belek geurlaubt und dort die Hinterhofläden von Designer-Imitaten befreit hatte, zog sich auch durch den Rest seines Outfits. Auf seinen Louboutin-Sneakern etwa (deren rote Sohle er mir an einem Bein entgegenstreckte, das er lässig angewinkelt in meine Richtung auf dem Oberschenkel abgelegt hatte) stand Größe 42,5 . Amateur. Die echten Zwölfhundert-Euro-Treter, so wie sie zum Beispiel Valentina trug, gaben die Größe immer in ½-Stufen an. Zugegeben, Kleinigkeiten. Aber sie zeigten mir, in welche Gernegroß-Schublade ich Ulf zu stecken hatte. Dass die Abweichungen für ein ungeübtes Auge kaum erkennbar waren, entlarvte ihn als jemanden, der sich große Mühe gab. Der also Wert darauf legte, andere zu täuschen. Und das taten Menschen meiner Erfahrung nach nur, wenn sie … nun ja, so waren wie ich. Wie sagte Omi Lenor immer so schön: Mit dem Betrüger und dem Betrug ist es wie mit einem Furzenden und dem Furz. Den eigenen kann man irgendwie ignorieren. Bei dem eines anderen ist das völlig unmöglich.
Ignorieren ließ sich auch Frau Kloppke nicht, die mehrfach in die Hände klatschte. Da ich kurzfristig mit der Analyse einiger Anwesenden abgelenkt gewesen war, hätte ich nicht sagen können, ob sie schon mehrfach zur Eröffnung des Elternabends angesetzt hatte oder sich erstmalig Gehör zu verschaffen versuchte. Jedenfalls rief sie laut: »Ich danke zunächst Frau und Herrn Schlabbeck. Wie Sie sehen, haben sich unsere lieben Freundeskreis-Vorsitzenden alle Mühe gegeben, dass wir auch an diesem Wochenende unsere Sokrates-Schule nicht allzu sehr vermissen.«
Frau Kloppke zeigte auf ein blassgesichtiges Paar, das anerkennungsheischend sein Namensschild in die Luft hielt, wobei der Mann die rechte und die Frau die linke Kante der Schlabbeck- [Henry]-Karte hielt.
»Die Schlabbecks haben gestern alles hier raustransportiert. Dreimal mussten sie dafür pendeln, damit alle Möbel mitkamen sowie die Arbeiten unserer Kinder aus dem Kunstunterricht bei Herrn Loft, die Sie an den Wänden bewundern können. Zudem«, Frau Kloppke zeigte auf die Tür, durch die sie eben gekommen war, »haben sie auch für unser leibliches Wohl gesorgt. Sie können sich später am Buffet im Nachbarraum bedienen.«
Ich rollte mit den Augen. Mann, die waren offenbar noch ne Nummer härter als die Strahlaus.
Die vornehme Gesichtsblässe der Schlabbecks wich während Kloppkes Ansprache immer mehr einem gesunden Wangenrosa. Das war allerdings keine Verlegenheitsreaktion. Auch hier sagte mir meine Menschenkenntnis, dass die Schlabbecks sich nicht schämten, sondern – im Gegenteil – regelrecht aufblühten, weil sie endlich im Mittelpunkt standen.
Als Nächstes lieferte Frau Kloppke die Begründung, weshalb Wilma und ich unser Winztischchen auf den Oberschenkeln balancieren mussten.
»In den Transporter von Schlabbeck-Catering passten leider nur die kleinen Möbel unserer Kitagruppe, aber ich denke, das können wir alle verschmerzen, oder nicht?«
Äh, nein?!
»Ich bitte um großen Applaus.«
Alle Anwesenden klatschten so frenetisch, wie ich es nur vermocht hätte, wenn Frau Kloppke den Abend mit sofortiger Wirkung für beendet erklärt hätte. Frau Schlabbecks Gesichtsfarbe entsprach jetzt der eines behandlungsbedürftigen Sonnenbrands. Ihr Mann sah nicht ganz so gesund aus.
»Zu viel der Ehre«, sagte er, erkennbar traurig, dass der Beifall nicht in Standing Ovations überging.
»Kommen wir zu TOP 1 «, fuhr die Klassenlehrerin nach einer Weile fort und setzte sich ihre Lesebrille auf. »Hat jemand die Tagesordnung nicht per Mail oder Post bekommen?«
»Ja, ich!«, hätte ich beinahe gerufen, dann fiel mir ein, dass mir das herzlich egal sein konnte, würde ich mich ohnehin kaum sinnvoll einbringen können. Sollte Wilma doch links neben mir ihre Show abziehen. Ihr hatte ich es schließlich zu verdanken, hier zu sein. Wenn sie es »spaßig« fand, wie eine verdeckt ermittelnde V-Mami die Leute hinters Licht zu führen, bitte sehr. Ich würde mich vornehm zurückhalten. Was anderes blieb mir ohnehin kaum übrig. Ich kannte hier keinen, wusste kaum, wo ich war. Verdammt, mir war noch nicht mal klar, ob mein mir völlig unbekannter Sohn Hector mit der Sokrates-Schule ein Gymnasium oder die Grundschule besuchte. In Berlin war ja in der fünften Klassenstufe noch beides möglich. Meine Lara war erst mit der siebten auf die Oberschule versetzt worden.
»Gut, alle wissen über den Ablauf Bescheid«, befand Frau Kloppke. »Hat jemand irgendwelche Einwände?«
»Die habe ich, in der Tat!«
Arne Brehmer [Katharina] meldete sich. Er punktierte mich kurz mit seinen Pupillen. (Aber wieso nur? Und weshalb nur mich? Hatte Christin ihm denn gar nichts getan?) Ich hatte das dumpfe Gefühl, schneller Antworten zu bekommen, als mir lieb war, und tatsächlich sagte er: »Könnten wir die Angelegenheit ›Hector Schmolke‹ vielleicht vorziehen?«
Mir wurde heiß. Ich schwitzte. Eine eindeutige Angstreaktion.
Wilma und ich schüttelten unabgesprochen den Kopf. Nein, unter gar keinen Umständen . Am besten, wir vertagten diese »Angelegenheit«, was immer damit auch gemeint war, auf morgen, wenn ich nicht mehr da war.
Frau Kloppke vertrat zu meinem Glück genau meinen Standpunkt. »Seien Sie versichert, dass wir ihr viel Raum beimessen werden, Herr Brehmer, aber erst später.«
Arne, der alte Streitmichel, gab nicht so schnell auf.
»Entschuldigen Sie bitte, ich finde nicht, dass dieser Skandal so lapidar nach hinten geschoben werden kann.«
Oha. Ein Skandal also.
»Seien Sie gewiss, dass wir hier nichts verharmlosen wollen«, beschwichtigte Frau Kloppke. »Gerade eben habe ich Hectors Eltern zu verstehen gegeben, wie dringlich die heutige Veranstaltung ist, nicht wahr, Frau Schmolke?«
Wilma-Christin nickte Frau Kloppke brav nach dem Munde.
»Und, Herr Brehmer, Sie können es als ein Zeichen nehmen, dass die Familie heute zum allerersten Mal bei einem Elternabend anwesend ist, was ich sehr wertschätze. Wobei Frau Schmolke«, die Klassenlehrerin warf mir einen strengen Blick über den Rand ihrer Brille zu, »ja immer entschuldigt war. Als Pilotin einer großen Fluggesellschaft ist man halt nicht oft im Lande.«
Ich hörte Wilma erschöpft aufstöhnen, drehte mich zu ihr und musste entgeistert feststellen, dass sie mit Frau Kloppke allen Ernstes Blicke austauschte, wie sie meines Wissens nur Frauen wechseln können. Blicke, in denen ganze Unterhaltungen geführt werden, ohne dass auch nur ein einziges Wort gesprochen wird. Der stumme Dialog, der sich zwischen Wilma und der Lehrerin entspann, lautete in etwa:
»Danke, dass Sie mich hier in Schutz nehmen.« (Christin)
»Ich weiß doch, wie anstrengend es ist, gleichzeitig Mutter und berufstätig zu sein. Noch dazu im Ausland.« (Kloppke)
»Besonders, wenn der Vater …« (strafender Blick zu mir), »… keinen Handschlag macht.« (Christin)
»Nicht mal zu den Elternabenden kommt. Ja, Sie haben es nicht leicht. Aber nun sind Sie ja da. Danke dafür!« (Kloppke)
»Ich danke Ihnen.« (Christin.)
Das war doch nicht zu fassen. Während ich anstelle eines fremden Vaters gemaßregelt wurde, sonnte sich Wilma in unverdienter Zuneigung.
»An dieser Stelle auch ein großes Lob an unsere Elternvertreter Elias und Jamal Witzleben.« Ich musste mich etwas vorbeugen und nach links schauen, um Wilmas Sitznachbarn zu sehen.
Aha. Die beiden hatten also mit Ulf gegen unser Auftauchen auf dem Elternabend gewettet.
Wenn mich nicht alles täuschte, stand [Tobias] unter dem Nachnamen der zwei Männer. Beide mit Dreitagebart und Siebenachtelhosen, der eine mit sonnengebräunter Haut und blonden Haaren, der andere mit pechschwarzer Mähne, dafür kalkweißem Teint. Aus meiner Perspektive konnte ich sie nur kurz in Augenschein nehmen, ohne mich physiotherapiebedürftig zu verrenken. Aber das genügte mir, um zu erkennen, dass die beiden eine Coolness verströmten, von der ich sofort einen Liter kaufen würde, gäbe es sie als Flüssigextrakt. Ich hätte in ihren zerknitterten Leinenhemden, den Designerjogginghosen und weißen Sneakern einfach nur wie ein Schnösel ausgesehen. Die Witzlebens hingegen hätten selbst in meinem verschwitzten Anzug eine gute Figur gemacht. Beide basketballspielergroß und mit markant vorspringendem Kinn ausgestattet, hätte ein flüchtiger Beobachter sie für Brüder halten können, aber nur, wenn er die zueinander passenden Eheringe an ihren Händen ignorierte.
»Unsere Elternvertreter haben mir sehr bei der Organisation und dem Einsammeln der Gelder für dieses Wochenende geholfen. Das ist ebenso schön, wie es enttäuschend ist, dass am Ende doch nicht alle Eltern unserer 5 B bereit waren, sich die Zeit zu nehmen.« Frau Kloppkes Augen musterten mich wieder über ihre Brille hinweg. Ich versuchte, ihr mit meinem Blick ein trotziges »Was denn?« zuzuwerfen. Immerhin war ich ja jetzt da, oder etwa nicht?
Sie sprach weiter, mir aber wurde gerade eines ihrer Worte bewusst.
»Wochenende?«
Wollten die etwa gleich mehrmals hier übernachten?
Ich wusste noch nicht einmal, wie ich mich die nächste halbe Stunde als Vater eines fremden Sohnes ausgeben sollte, der offenbar als Streitthema zur Top-Prio der Elternabend-Tagesordnung geworden war.
Rückblickend hätte ich übrigens wohl besser dafür votiert, die »Angelegenheit Hector Schmolke« vorzuziehen, wie es Arne gefordert hatte. Punkt eins sollte sich nämlich noch als sehr viel unangenehmer entpuppen. Frau Kloppke moderierte ihn mit folgenden Worten an:
»So, nachdem das nun geklärt ist (was auch immer), starten wir zur Auflockerung wie geplant mit TOP 1. Einige von Ihnen kennen sich schon gut, andere weniger, und wir haben ja auch völlig neue Gesichter in unserer Runde wie die Familie Schmolke.« Ein wohlwollender Blick zu Wilma, ein unterkühlter zu mir. »Daher machen wir jetzt eine Vorstellungsrunde. Jeder möge sich bitte mit Namen, Beruf, Alter, Hobbys und sonstigen Dingen vorstellen, die dem besseren Kennenlernen dienen.«