I ch reihte mich in die Schlange derer ein, die zu dem versprochenen Buffet strebten, in der Hoffnung, dass sich in den angrenzenden Räumlichkeiten auch die Toiletten befanden.
Während ich also mit verkniffener Miene abwartete, bis sich etwa ein Dutzend Eltern gleichzeitig durch die Tür ins Nebenzimmer gezwängt hatten, hörte ich ein Flüstern neben mir.
»Muss sich gut anfühlen, andere bloßzustellen!«
Wilma.
Sie stand so nah, dass ich die Hoffnung hatte, wenigstens etwas von ihrem guten Duft würde auf mich abfärben.
»Das war hundsgemein von dir.« Sie sah mich an, als wäre ich ihr Sohn und hätte ihr eine Sechs in der Mathearbeit verschwiegen. »Hast du Arnes Abgang gesehen?«
Er war als einer der Ersten zum Essen verschwunden.
»Der hatte Tränen in den Augen.« Wilma klang enttäuscht, traurig und womöglich sogar etwas hilflos. »Du hast ihn zum Weinen gebracht.«
»Das war Notwehr«, flüsterte ich zurück und kratzte nervös meinen Mückenstich am Hals. »Du weißt jetzt, dass du Pilotin bist. Aber ich? Was hätte ich denn sagen sollen, sobald die Musik stoppt? Äh, ich glaube, ich bin Giftlack-Tester im Labor, deswegen kann ich mich wegen der Dämpfe, die ich inhaliert habe, im Moment gar nicht so recht erinnern, was ich eigentlich für einen Job habe? «
»Sag doch einfach: Ich bin hauptberuflich gemein und demütige gerne andere.«
Damit ließ sie mich stehen und ging Richtung Ausgang.
Na wunderbar. Man ließ sich doch gern von Menschen Benimmregeln beibringen, die einen kurz zuvor aus einem Hundertzwanzigtausend-Euro-Wagen geprügelt hatten.
»Unverschämtes Pack«, sagte Frau Tsui, die Wilmas Platz in der Schlange eingenommen hatte. Da ich nicht davon ausging, dass sie meine Gedanken lesen konnte, fragte ich, wen oder was sie meinte.
»Die bringen nicht nur sich, sondern auch uns um.«
»Wer?«
Frau Tsui sah mich an, als wäre ich ihr Sohn [Louis], der ihr bei den Hausaufgaben gesteht, er habe vergessen, wie man einen Hefter aufschlägt.
Sie zeigte zum Raucherausgang hinter uns. »Nicht mitbekommen, wie trocken es da draußen ist? Akute Waldbrandgefahr. Die können sich ja gerne Krebs holen«, sie sprach es wie Krepps aus, »aber bitte, ohne uns abzufackeln.«
Langsam verstand ich, worauf sie hinauswollte.
»Wegen solcher Bekloppten muss ich dann wieder Überstunden machen.«
»Sie sind bei der Feuerwehr?« Womöglich eine nützliche Information über meine Elternabendleidensgenossin.
»112 . Lagezentrum Spandau. Hab nur deshalb heute zugesagt, weil Freitag ist. Freitags flüchte ich ganz gerne. In der Einsatzzentrale ist heute die Hölle los. Zur Oberbaumbrücke könnten wir eine Standleitung aufbauen oder gleich zwei, drei Rettungswagen für die Alktouris aufstellen. Na ja, und dann sind da noch die Badeunfälle.«
»Schlimm«, bestätigte ich.
»Kennen Sie das?«
Ich war mir sicher, sie hatte den Verstand verloren, denn sie legte los: »Ha, ha, ha, ha … staying alive.«
Dabei hatte sie die Finger mit nach unten offenen Handflächen verschränkt, wie eine Schlägerin, die zur Vorbereitung für den Straßenkampf noch mal alle Gelenke durchknackt. Oder – die Alternative war mir lieber – wie eine in den Achtzigerjahren stehen gebliebene Discomaus, die in der nächsten Sekunde eine Robot-Dance-Armwelle machen wollte.
»Ha, ha, ha, ha …«, sang sie weiter und sah mich aus weit auseinanderstehenden, nachtdunklen Augen an. Die Robo-Welle blieb aus, dafür drückte sie die verschränkten Arme nach unten.
»Bee Gees?«, fragte ich, einfach nur, um etwas zu sagen. So viel zum Thema: »Sascha hat auf der Straße genug gesehen, um jedem Menschen hinter die Fassade zu blicken.« Ich hatte keinen blassen Schimmer, was hinter Frau Tsuis komplett faltenfreier Stirn gerade vor sich ging.
Umso überraschter war ich, dass sie mir dann doch noch eine sinnvolle und sogar nützliche Erklärung gab. »Das ist exakt der Rhythmus für eine funktionierende Wiederbelebung.«
»Staying alive?«
»Passt nicht nur vom Text«, sagte sie, etwas außer Atem durch den Gesang und die luftgitarrenähnliche Herzdruckmassage.
»Aber nicht zimperlich«, klärte sie mich auf. »Die meisten denken ja, eine gebrochene Rippe würde die Lunge perforieren. Papperlapapp. Immer schön feste. Sechs Zentimeter runter, bis es knackt. Ha, ha, ha, ha, pammpammpammpamm!«
»Gut zu wissen«, sagte ich und betrat den Nachbarraum, der fast so groß wie das provisorische Klassenzimmer war, nur ohne Fenster.
Die Eltern, die sich hier mittlerweile fast vollzählig versammelt hatten, hätten ausreichend Platz gehabt, sich in coronakonformem Abstand zu verteilen. Tatsächlich aber standen sie wild und in meinen Ohren eher wütend schwadronierend in einem Pulk zusammen, direkt vor dem Buffet. Das war vor einer Einbauküchenzeile auf einem Tapeziertisch aufgebaut und war, nun ja, übersichtlich, was wohl der Grund des Unmuts war.
Fragen wie »Das soll alles sein?« oder »Und dafür haben wir geklatscht?« schnappte ich auf, während ich über die Schultern des wütenden Mobs hinweg einen Blick auf die Auslage erhaschte.
Es gab eine Handvoll Schüsseln und mit Häppchen drapierte Schieferplatten. Fleisch, Wurst und Käse waren auf den ersten Blick nirgends auszumachen. Auch nicht auf den zweiten und dritten. Bestimmt sehr zur Freude der Vegetarier und Veganer, die in der Elternschaft allerdings nur spärlich gesät waren. Aktuell gab es offensichtlich nur zwei, und die standen hinter dem Tapeziertisch, während die aufgebrachten Eltern auf sie einredeten. Herr und Frau Schlabbeck.
»Wo gibt es denn was Richtiges?« oder »Unsere Kinder sind doch keine Hasen!« waren noch zwei der freundlicheren Bemerkungen, die ihnen an den Kopf geworfen wurden.
»Es stand alles in der Einladung«, antwortete Herr Schlabbeck. »Unser Catering hat nur gesunde Bio-Ernährung im Angebot.«
»Da hätte besser dringestanden: Esst daheim, auf der Insel gibt’s nur Tierfutter«, schimpfte Frosti, der zwischen Tofuspießen, Kürbisbaguette und Süßkartoffelwraps seine Fischstäbchen und Chicken Wings offenbar schmerzlich vermisste.
»Ich finde es gar nicht schlecht, mal was Gesundes zu essen«, versuchte ich zu schlichten. Mister Diplomatie im Einsatz.
»Es gibt gar keine ungesunden Lebensmittel«, klärte mich eine Stimme auf, die mir unter all den Anwesenden hier mittlerweile die vertrauteste war. Wilma. Schon wieder.
»Dein Ernst?«, machte ich den Fehler, das Streitgespräch mit ihr zu suchen. »Es gibt keine ungesunden Lebensmittel?«
Sie blieb dabei. »Nein!«
Die hat sie echt nicht mehr alle, dachte ich. Vielleicht hatte sie vor ihrem SUV -Ausraster den Baseballschläger an sich selbst ausprobiert; als Härtetest am eigenen Schädel.
»Das ist lächerlich. Es gibt Hunderte Lebensmittel, die auf die rote Liste gehören«, sagte ich.
»Ach ja? Dann nenn mir doch nur mal eins«, forderte sie mich heraus.
Zimt, dachte ich kurz. Sagte dann aber: »Zucker!« Erst letztens hatte ich gelesen, dass das weiße Pulver eine ähnliche Wirkung wie Kokain hatte und genauso abhängig machte.
»Davon ernährt sich unser Gehirn, und zwar fast ausschließlich!«
»Aber doch nicht in den Mengen, in denen wir ihn in uns reinschütten.«
Sie rollte mit den Augen. »Mit dem Argument müsstest du auch Wasser verbieten. Paracelsus: Die Dosis macht das Gift. Ab einer gewissen Menge bringt dich alles um.«
Mittlerweile hatte sich ein Kreis um uns gebildet wie bei einer Keilerei auf dem Pausenhof. Ich wähnte mich nach Punkten vorn und höhnte: »Hör jetzt bitte auf mit dem Quatsch. Du wirst doch nicht allen Ernstes abstreiten, dass es Nahrung gibt, die weniger gesund ist als andere.«
»Doch, Schatz. «
»Rotes Fleisch ist also genauso gut wie weißes, Liebling? «
»Das kann man so nicht sagen.«
»Ha!« Ich lachte siegessicher in die Gesichter der Zuschauer.
»Kann man so nicht sagen? Es gibt Dutzende Studien …«
»Falsch, Mööp.« Wilma imitierte einen roten Buzzer. »Nicht eine einzige.«
»Zumindest keine, die was taugt«, kam ihr Chernizky aus dem Zuschauerkreis zu Hilfe. Sein Name wanderte von der Freundes- auf meine Feindesliste. So schnell ging das.
»Schauen Sie. Ich arbeite in der Pharmaforschung«, klärte er mich und die Umstehenden auf. Genauso gut hätte er sagen können: »Ich schieße in meiner Freizeit gerne auf Babyelefanten« , seine Beliebtheit hätte kaum größeren Schaden genommen.
»Wenn wir ein neues Medikament testen, müssen wir eine Doppelblindstudie durchführen.«
»Und?«, fragte ich.
»Wir haben immer eine Kontrollgruppe, die ein Placebo zu sich nimmt. Und keine der beiden Gruppen weiß, welches das wirksame Mittel ist und welches das Scheinmedikament.«
»Beide Gruppen sind blind«, erklärte mir Wilma, als wäre ich begriffsstutzig.
»Gut, wie hilft uns das jetzt in Sachen Rind versus Hühnchen weiter?«
Der Boxkampf ging weiter. Wilma tänzelte um mich herum.
»Denk doch mal nach, Schatz. Du willst wissen, ob rotes Fleisch gesünder ist als weißes. Also hast du eine Gruppe, die nur rotes isst, eine andere isst nur weißes. Jetzt wissen wir, dass die Wirkung von Lebensmitteln ja nicht über Nacht eintritt, sondern erst über Jahre. Du müsstest also zwei Gruppen finden, die jahrelang nur eine einzige Sache im Leben ändern, den Fleischkonsum. Sport, Bewegung, Stress, Libido – all das bleibt auf demselben Niveau, damit man später nicht sagen kann: ›Nun gut, Herr Schmolke hat zwar nur noch Truthahn gefuttert, aber wer weiß, ob seine guten Blutwerte nicht daher rühren, dass er mit dem täglichen Onanieren aufgehört hat.‹«
Aha, ab sofort kämpfte sie unsauber und unter der Gürtellinie.
Ich hörte Martha und Valentina kichern. Theo, Ulf und dieser Chernizky lachten sogar laut. Ich fühlte mich angegriffen. Aber wollte ich hier ernsthaft den mir ebenso unsympathischen wie unbekannten Herrn Schmolke am Veganerbuffet verteidigen?
»Ach ja, und innerhalb der Testgruppen müssten dann noch Menschen, ohne es zu wissen, Placebo-Fleisch essen«, sagte Christin noch.
»Was soll das sein?«
»Es müsste genauso aussehen wie rotes Fleisch, genauso schmecken, wäre aber keins.«
»So etwas gibt es doch gar nicht«, rutschte es mir heraus.
»Eben.« Wilma klatschte mir ihren triumphierenden Blick förmlich vor die Stirn. »Deshalb gibt es keine einzige ernsthaft belastbare Ernährungsstudie – schon gar nicht, wenn es um Fleisch geht. Allein aus ethischen Gründen nicht, denn man müsste, um die Bevölkerung ernährungstechnisch statistisch korrekt abzubilden, auch Vegetarier und Veganer in einer der Doppelblindgruppen haben. Die würden dann jahrelang Fleisch essen, ohne es zu wissen.«
Da war was dran.
»Wir brauchen doch aber keine Studie, um herauszufinden, dass für Kinder Süßigkeiten schlechter sind als Gemüse.«
»Nein, brauchen wir nicht.« Ihr nächster Argumentationshaken schickte mich auf die Bretter zurück. »Wir brauchen gar keine Studien. Wir sollten einfach nur das essen, was uns schmeckt. Jeder Körper ist einzigartig. Was dem einen guttut, sorgt bei dem anderen für Magenkrämpfe und Blähungen. Lasst uns alle auf unseren Körper hören. Er sagt uns, was gut und was schlecht ist.«
Einige in der Menge klatschten. Ich war angezählt. Ein letztes Mal bäumte ich mich auf. »Na wunderbar, dann sag doch Hector, er kann ab sofort selbst entscheiden, was auf den Teller kommt. Und dann freu dich schon mal auf die Rechnung vom Pizzadienst, denn ab heute wird unser Sohn nichts anderes mehr essen, Christin .«
»Niemand isst freiwillig jeden Tag dasselbe, Lutz «, keifte sie zurück.
Ich taumelte mental zu Boden. Und ich lernte: Auf einem Elternabend ist es wie in der freien Wildbahn. Wenn die Starken merken, dass es mit dem geschwächten Tier des Rudels zu Ende geht, stürzen sie sich am Ende alle gemeinsam auf die leichte Beute.
In diesem Fall war es der gebräunte der beiden Witzlebens, der meinte, Wilma zu Hilfe kommen und mir den Todesstoß versetzen zu müssen. »Da muss ich Ihrer Frau recht geben«, sagte er. »Wenn Hector über Wochen ausschließlich nur Pizza konsumiert, sollte er mal in unserer Praxis vorbeischauen. Dann hat er nämlich ein psychologisches und kein ernährungstechnisches Problem.«
Womit auch der Beruf der beiden Witzlebens geklärt war. Psychologen oder Psychiater. Verdammt.
Gut aussehend, Akademiker und eloquent. Was für ein Glück, dass sie schwul waren. Mehr von ihrer Sorte und Heten wie ich würden überhaupt keine Frau mehr abbekommen.
All das realisierte ich, als ich schon längst k.o. gegangen war.
Die Gaffer um uns herum wollten ihren Platz im Kreis aber noch nicht verlassen, hofften vermutlich auf eine Zugabe.
»Hier!«
Ich dachte erst, Wilma reichte mir die Hand, um mir hochzuhelfen, dabei stand ich ja noch, auch wenn ich mich ausgeknockt fühlte. In Wahrheit reichte sie mir einen Pappteller mit etwas, das ich im ersten Moment für einen Donut hielt. »Probier mal, die Dinkelbagels schmecken fantastisch.«
Ich war ähnlich perplex wie die Schlabbecks hinter dem Tapeziertisch ob der unerwarteten Wendung unseres Schlagabtauschs.
»Ich dachte, du magst das vegane Essen nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Hab ich mit keinem Wort gesagt, Schatz . Im Gegenteil: Ich habe gesagt, wir sollten das essen, was uns schmeckt.«
Sie lächelte in die Runde und schaffte es mit nur zwei Sätzen, die Laune aller deutlich zu heben. »Also Leute, löst euch mal von euren Vorurteilen und langt zu. Das Essen ist echt der Hammer.«
Während die echten Eltern sich das nicht zweimal sagen ließen und zur Freude der Schlabbecks nun doch etwas auf die Pappteller häuften, kam die falsche Frau Schmolke näher an mich heran. Sie tat so, als wollte sie verliebt an meinem Ohrläppchen knabbern, in Wahrheit flüsterte sie:
»Schau mal in den Spiegel. Natürlich gibt es ungesundes Essen, du Trottel. Ich wollte dich nur auch mal vor versammelter Mannschaft bloßstellen.«