Kapitel 19

E inen Wimpernschlag später stand ich nicht mehr im Mittelpunkt. Ignoriert von den Hungrigen, die Wilmas Ruf zum Buffetsturm gefolgt waren, sah ich mich um. Den trockenen, allerdings überraschend gut schmeckenden Dinkelbagel mümmelnd, machte ich mich auf die Suche nach Toiletten.

Da rempelte mich Arne von hinten an. »Das wirst du mir büßen!« Er hatte rot geränderte Augen. Sein Atem roch, als hätte er ihn durch eine Mettwurstmaske gefiltert, was angesichts der Buffetauswahl einigermaßen erstaunlich war. »Büßen!«, wiederholte er und drehte ab.

Oje. Hatte er mich dabei beobachtet, wie ich seine Playlist manipulierte? Aber Moment, weshalb war er dann nicht sofort eingeschritten?

Nein, nein . Es musste um Hector gehen. Um die Angelegenheit, den »Skandal«, dessen Besprechung er hatte vorziehen wollen.

Ich starrte Arne hinterher und spürte, wie ich zornig wurde.

Na warte, Freundchen. Wenn du was gegen meinen Sohn sagst, gibt’s warme Ohren, dachte ich, zugegeben etwas irrational. Jetzt verstand ich, weshalb Wilma vorhin so in ihrer Rolle der ach so hart arbeitenden Pilotin aufgegangen war. So musste Method-Acting funktionieren. Erst eine knappe Stunde auf dem Elternabend, und schon hatte man sein altes Ich abgelegt.

Ich warf meinen Pappteller in einen bereitgestellten Mülleimer, da tippte mir jemand auf die Schulter. Ich drehte mich um und sah in das Gesicht eines Mannes, den ich dunkel am äußersten Schenkel des Hufeisens wahrgenommen hatte.

»Mathias Brincks. Sie können mich Matze nennen. Susi und ich«, er zeigte auf eine Platinblondine in einigen Schritten Abstand, »sind die Eltern von Malte. Wir leiten das Westend-Hotel in der Länderallee«, sagte er, als müsste mir das so vertraut sein wie das Adlon am Brandenburger Tor. Doch ich wollte nicht meckern. Endlich ein Mensch mit Manieren. Jemand, der sich vorstellte und mir sogar die Hand schüttelte. Er hatte Pranken wie Bratpfannen, nur nicht so weich. Seine Frau stolzierte derweil auf silbern funkelnden High Heels mit einem noch unberührten Teller zum Tapeziertisch. Sie trug ein an den Beinen geschlitztes, schwarzes Abendkleid. Klar, was man für einen Elternabend eben so aus dem Schrank nahm. So ernährungsbewusst, wie sie aussah, würde sie nicht mehr als ein Salatblatt und ein halbes Tictac drauflegen.

»Ich soll Sie von Pepe grüßen und Danke sagen«, fuhr Matze fort.

»Ah ja. Pepe«, sagte ich in der Hoffnung, dass Pepe kein mexikanischer Drogenbaron und »Danke« nicht das Synonym für »Wo bleibt die Lieferung?« war.

»Den Unfall mit seinem Cabrio haben Sie ja prima wieder hinbekommen.« Na bitte, endlich . Jetzt kamen wir der Sache auf die Spur. Lutz Schmolke hatte also was mit Autos zu tun. Vermutlich gehörte ihm eine Werkstatt.

»Ja, ist prima geworden«, stimmte ich Matze zu.

Der lachte, als hätte ich den Witz des Jahres gerissen. Er klang wie eine bronchitische Ziege. Ich lachte mit und musste aufpassen, vor lauter Verlegenheit nicht seine meckernde Lache zu imitieren.

»Mann, Mann, Mann. Einmal nicht aufgepasst, wumms!« Er schlug die rechte Faust in seine linke Handfläche, die sich daraufhin wie eine gewaltige fleischfressende Pflanze um seine Finger schloss.

»Ja, so ein Unfall passiert schnell.«

»Nicht, wenn man weiß, wie man richtig einparkt«, widersprach er mir. »Der Idiot hat sich mit der Garage einfach völlig verschätzt.« Er kicherte. »Ich sach ihm noch, fahr da nicht rein. Aber nee, er hört ja nicht auf mich.« Nun zwinkerte er mir zu. »Zum Glück haben Sie das repariert, bevor Helene was von dem Unfall mitbekommen hat. Die wär so was von ausgerastet …«

Helene war wahrscheinlich Pepes emanzipierte Ehefrau. So wie es den Anschein hatte, verwaltete sie das Geld.

»War am Ende ja auch nicht billig«, versuchte ich einen Schuss ins Blaue.

Treffer!

»Das kann man wohl sagen.«

Matzes Frau Susi machte einen Schritt auf uns zu. Ihr Teller bog sich unter zwei Lauchstangen.

»Sagen Sie mal.« Matze rückte konspirativ näher. Er senkte die Stimme »Haben Sie Ihr Werkzeug dabei?«

»Klar. Hebebühne steht draußen.«

Er lachte schallend. Dann flüsterte er: »Im Ernst, vielleicht könnten Sie sich mal mein Diktiergerät ansehen?«

»Ihr was?«

»Keine Ahnung, was mit dem los ist.«

Wer zum Geier benutzte heutzutage noch Diktiergeräte? Und wieso sollte sich ein Mechatroniker – oder was immer Lutz auch war – mit technischen Antiquitäten auskennen?

Bevor ich nachfragen konnte, trat Susi näher. »Na, hast du einen neuen Freund gefunden?«, fragte sie ihren Mann.

»Ja, und wir haben sogar schon einen Deal ausgehandelt«, lachte er und zwinkerte mir verschwörerisch zu. »Das haben wir doch, oder?«

»Ja, ja. Ich schaue es mir an«, versprach ich. Ich war technisch nicht unbegabt, schließlich hatte ich schon Autos kurzgeschlossen und iPhones geknackt, da würde ich vielleicht auch mit einem Diktiergerät klarkommen. Weshalb auch immer.

»Danke, Mann. Weiß ich sehr zu schätzen«, sagte Matze, und Susi schüttelte ihre Platinmähne. »Dass du immer nur an Geschäfte denken musst«, wies sie ihren Mann nicht sehr energisch zurecht. Auch sie zwinkerte mir zu, keine Ahnung, warum. Vielleicht hatten die beiden zufällig gleichzeitig was im Auge, oder der eine hatte einen angeborenen Tick des anderen über die Jahre der Partnerschaft hinweg übernommen, so was sollte es ja geben.

»Wissen Sie, wo die Toiletten sind?«, fragte ich.

Matze zeigte zum Zwischengang Richtung Mehrzweckraum und lachte schon wieder. »Wir sehen uns«, rief er mir glucksend hinterher. Vielleicht war Westend-Hotel ja der Insider-Name einer Irrenanstalt, die von ihren eigenen Insassen geleitet wurde?

Ich ging zurück ins improvisierte Klassenzimmer, das verwaist war.

Froh, die beiden und für den Moment sogar alle hinter mir gelassen zu haben, ging ich auf die einzige Tür zu, durch die ich heute noch nicht gegangen war. Sie war kaum sichtbar direkt hinter unseren Plätzen rahmenlos in die Rigipswand eingelassen, und ich betete zu Gott, dass sich dahinter tatsächlich die Waschräume befanden.

Auf meinem Weg um das Hufeisen herum wurde ich von den aufgehängten Kunstcollagen der 5 B abgelenkt. Einige waren erstaunlich gut, andere so wirr und unverständlich, dass ich bestimmt irgendwo einen neureichen Millionärserben finden würde, dem ich sie als moderne Kunstwerke für einen sechsstelligen Betrag verhökern könnte.

Ich nahm eines der besseren (sprich: für mich verständlicheren) Bilder in Augenschein. Es zeigte einen großen Baum, dessen Stamm von Nebel umhüllt war, während seine Krone durch dichte, graue Wolken in die Sonne stieß. Ein Zweig ragte aus dem Wipfel hinaus. Von ihm schien sich eine menschengroße, blutige Träne zu lösen.

Am Stamm des Baumes kauerte ein kleines Mädchen mit einem schwarzen Herz auf dem Rücken. Ihre roten Haare umrahmten ihren Kopf. Das Herz-Mädchen sah nach oben, doch anders als dem Betrachter war es ihr wegen des Nebels und der Wolken unmöglich, die blutige Träne zu sehen, die direkt neben ihr zu Boden fallen würde.

Ich hätte nicht sagen können, was mich so berührte, aber mir war ein Kloß im Hals gewachsen, den ich nicht einfach hinunterschlucken konnte. Erst recht nicht, als ich die Buchstaben in der Bildecke rechts entdeckte.

Nicht jede Collage hatte eine Unterschrift.

Diese hier schon: Hector.

Ich kam nicht dazu, die Arbeit meines »Sohnes« noch intensiver zu studieren, da ich plötzlich von hinten an der Schulter gepackt wurde und eine heisere Stimme sagte: »Jetzt bist du fällig!«