Kapitel 20

I n der ersten Schrecksekunde wähnte ich Arne hinter mir, der sich in der Zwischenzeit mit einer Axt oder Schlimmerem bewaffnet hatte. Doch als ich mich umdrehte, sah ich Platin-Susi, die mich offenbar verfolgt hatte. Und das ohne ihren Matze-Ehemann.

»Hallo!«, hauchte sie mit eigenartig glasigem Blick.

Dabei blickte sie verstohlen über ihre Schulter.

»Äh, hallo«, sagte ich, beruhigt, dass wir alleine waren und niemand Zeuge dieses doch äh … seltsamen Verhaltens von Susi Brincks [Malte] wurde. Sie griff mir nämlich gerade beherzt in den Schritt. Ich wollte ebenso beherzt von ihr weichen, hatte aber Angst, ein mir sehr wichtiges Körperteil könnte das nicht überleben.

»Äh, was wird das?«, wagte ich zu fragen. Gleichzeitig erschrocken und beschämt. Zum ersten Mal in meinem Leben erhielt ich einen winzigen Einblick in das, was Frauen statistisch gesehen andauernd an sexuellen Belästigungen erleben mussten, und war mit der Situation völlig überfordert.

»Tu nicht so prüde!«, hauchte Susi mir Ohrläppchen knabbernd ins Ohr. »Mr  TinderLoverXXL . Ich weiß, wer du bist.«

Herr im Himmel, auch das noch!

Lutz Schmolke betrog seine Frau mit Internet-Affären!

»Ich bin Polysusi69«, bestätigte mir die offenbar völlig hemmungslos gewordene Genitalmasseurin. »Wir haben online auf BerlinSex.de gechattet.«

»Ich fürchte …«, das war jemand anderes. Nicht ich, auch wenn ich mich hier für ihn ausgebe, dachte ich und fragte mich, wie ich ohne Testikelverletzungen aus der Nummer hier rauskommen konnte.

Polysusi69 , die ihrem Atem nach schon polytoxische Mengen an Alkohol intus hatte, drückte mich mittlerweile an die Klassenzimmerwand. Hectors Collage löste sich und segelte zu Boden. Ich hielt die Arme ausgestreckt nach oben, bemüht, Susi nicht aus Versehen an einer intimen Stelle zu berühren.

»Und das macht dich wirklich an?«, hauchte sie.

»Äh …«

»Rollenspiele?«

»Na … ja … Öhm.«

Es waren bestimmt nicht meine geistreichen Antworten, die sie dazu brachten, ihren Griff zu lockern und einen Schritt zurückzutreten. Eher der Umstand, dass einer der Raucher von draußen zurück ins »Klassenzimmer« kam. Er würdigte uns keines Blickes und marschierte schnurstracks zum Buffet in den Nachbarraum.

Als er außer Sicht- und Hörweite war, rückte Polysusi wieder näher. »Ich war ja erst geschockt. Ich meine, wir sind auf dem Erotik-Portal nicht umsonst unter Pseudonym und ohne Fotos unterwegs. Doch als wir dann beim Chatten festgestellt haben, dass unsere Kinder in dieselbe Klasse gehen …«

Sie lachte kehlig. Ich war so fassungslos, dass ich am liebsten geweint hätte.

»Mann, ich war so enttäuscht, als du geschrieben hast, du kommst nicht, weil du Elternabende nicht ausstehen kannst.«

»Na ja, wer kann das schon?«, versuchte ich tapfer, unsere Unterhaltung auf ein unverfängliches Thema zu lenken.

»Doch jetzt bist du da, und wir haben die Möglichkeit, unsere Fantasien wahr werden zu lassen!«

Sie schob mir das Knie zwischen die Beine und hielt mich im Klammergriff, als wäre ich ein nasses Handtuch, das es möglichst schranktrocken auszuwringen galt.

»Tut mir sehr leid, ich fürchte, ich habe es mir anders überlegt.«

Sie lachte kehlig. »Oh, du bist schon in deiner Rolle. Harte Geschäftsfrau trifft auf schüchternen Angestellten. Nun gut …«

»Nein, ich meine es ernst, ich will wirklich nicht …«

»Halt die Klappe. Mami weiß, was gut für dich ist«, schnauzte sie mich an. Dann schob sie mich ein Stück nach rechts, drückte mich wieder gegen die Wand, genauer gesagt, gegen die Tür darin. Mit einer Geschicklichkeit, bei der Ensemblemitglieder des Cirque du Soleil vor Neid erblasst wären, schaffte sie es, sie zu öffnen und uns beide in den dahinterliegenden Raum zu schieben, ohne mich aus ihrem Anakonda-Griff zu entlassen.

»Hier sind wir ungestört!«

Abrupt ließ sie von mir ab und sah sich entgeistert in dem bunt gefliesten Raum um.

Ich verstand ihren plötzlichen Gefühlsumschwung.

»Was ist das denn?«, fragte sie, ähnlich perplex, wie ich mich fühlte.

Immerhin, sie hatte die Waschräume gefunden, wenn auch auf den ersten Blick völlig unbrauchbare. Die Toilette war weder für Susis sexuelle Übergriffe noch für meine Notdurft geeignet, denn sie hatte etwas mit den Sitzmöbeln im Mehrzweckraum gemein. Alles war winzig und allenfalls für Kitakinder ausgelegt.

Links von uns hingen zwei spucknapfgroße Waschbecken in Kniehöhe an der Wand, direkt vor uns befand sich eine Toilette. Die hatte einen Sichtschutz, der mir aber nur bis knapp über den Bauchnabel ging. Dahinter präsentierte sich, für jeden Menschen mit mitteleuropäischer Durchschnittsgröße gut sichtbar, eine tischtennisschlägergroße Toilettenschüssel mit Dino-Toilettenpapier im Halter daneben.

Einen kurzen Moment überlegte ich, ob die Schlabbecks in einem Anfall spontanen Irrsinns alle sanitären Anlagen hier abgerissen und durch Kindergarten-Porzellan ersetzt hatten, einfach, damit es besser zu der von ihnen mitgeschleppten Klassenzimmereinrichtung passte. Ein Schild, das ich statt eines Spiegels über dem Baby-Waschbecken entdeckte, belehrte mich eines Besseren.

»Dieser Waschraum ist eine Spende der Kita ›Stöpsel-Storch‹ für alle Mini-Menschen, die hier auf Schilfwerder ihren ersten Übernachtungsausflug erleben dürfen.«

»Also nee, hier vergeht einem ja alles«, schimpfte Susi.

»Ja, leider«, sagte ich und wurde vor Erleichterung fast ohnmächtig. Danke, lieber Gott.

Innerlich sank ich vor den edlen Spendern des Puppenhaus-WC s auf die Knie. Der unerwartet skurrile Kinder-Toiletten-Anblick hatte Susi offenbar ausgenüchtert und wenigstens für den Moment zur Besinnung gebracht. Sie war vielleicht sexuell ausgehungert, möglicherweise sogar nymphoman, aber zumindest nicht komplett geistesgestört. Niemand, der auch nur noch einen seiner sieben Sinne beisammenhatte, wäre beim Anblick dieser Einrichtung auf erotische Gedanken gekommen. Zudem war unsere Zeit abgelaufen. Ich hörte durch die Spanholztür der Fingerhut-Toilette, wie Frau Kloppke nebenan gegen ein immer lauter werdendes Gescharre und Gemurmel anrufen musste: »So, ich hoffe, alle sind gestärkt, es geht weiter!«

»Glück gehabt«, zwinkerte Susi mir zu und leckte mir zum Abschied über die Nase. »Nachher bist du aber dran, TinderLoverXXL

Vielleicht war das mit dem einen von sieben Sinnen doch übertrieben, und sie hatte nur noch einen halben.

Himmel.

Ich atmete tief durch und gab ihr zwei Minuten. Dann schlich auch ich mich wieder zurück zum Elternabend, um mich, ohne die so dringend notwendige Biopause gemacht zu haben, in das bislang größte Fettnäpfchen des Tages zu setzen.