Kapitel 24

A ha. TOP 3 war nun also die »Angelegenheit«. Der »Skandal«.

Verdammt, Hector, mein Sohn, was hast du nur ausgefressen?

Ich stand auf und versuchte mich an meine eigenen Schulsünden zu erinnern.

Ich hatte einmal einem Mitschüler fünf Euro geboten, wenn er sich während der Englischarbeit die Fußnägel schneiden würde. Das Gesicht von Frau Kisowank, die gerade Hausaufgaben der Parallelklasse korrigierte, während wir über unseren Aufsätzen schwitzten, war unbezahlbar. Sie hatte routinemäßig von ihrem Lehrerpult aufgesehen. Ihre Argusaugen waren auf der Suche nach einem Täuschungsversuch; rechneten vielleicht damit, dass Spickzettel ausgetauscht wurden. Nicht aber, dass Jürgen Schischan direkt vor ihr in der ersten Reihe seine Käsemauken entsockt hatte und mit einem Nagelknipser den großen Zeh bearbeitete.

Tja, fragen Sie mich nicht, wieso, aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass Hectors Verfehlungen in einer anderen Liga spielten. Ich quetschte ein weiteres Verlegenheitsräuspern hervor und begann mich langsam und vorsichtig auf dem unbekannten Gesprächsterrain voranzutasten. Mit kleinen Schritten, wie ein Spaziergänger auf einem zugefrorenen See, der die Tragfähigkeit der Eisdecke nicht richtig einschätzen kann.

»Nun, wir alle wissen, dass es mit Hector manchmal nicht einfach ist.«

Alle nickten. Gut. Das Eis trug so weit.

»Eigentlich ist es nicht meine Art, Privates offenzulegen. Familienangelegenheiten genießen bei mir den gleichen Status wie Patientengeheimnisse.«

»Ihr Sohn ist ein Patient«, fauchte Arne.

Ich sah ihn ernst an. »Ja. Er ist krank.«

Erstmals nickte mir mein Gegner zustimmend zu.

»Das erklärt auch seine schlechten schulischen Leistungen«, wagte ich mich einen Trippelschritt weiter vor.

»Da sehen Sie es. Totale Überforderung«, raunte Marek. »Sie triezen ihn zu Hause. Sind nie zufrieden mit ihm, was?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Es könnte besser sein.«

»Besser als lauter Einsen im Zeugnis?«

»Krass«, entfuhr es mir. Mein Sohn war hochbegabt?

»Was meinen Sie mit krass? «, fragte Frau Kloppke und blinzelte verwirrt.

Das Eis unter mir knirschte bedenklich.

»Na ja, äh, also Eins plus, ähm, ist krass besser, äh, oder?«, stotterte ich.

Frau Kloppke sah noch immer so aus, als wäre ihr etwas ins Auge geflogen. »Ja, aber diese Note gibt es in dieser Klassenstufe nicht auf den Zeugnissen.«

»Das ist das, was Sie sagen«, sagte ich. Eine Entgegnung, mit der ich Menschen manchmal zum Spaß in den Wahnsinn treibe, weil sie so sinnlos ist und auf jede Aussage passt. Müssen Sie mal ausprobieren. Meistens lachte jemand, wenn ich das sagte. Hier lachte niemand.

»So, das erklärt doch aber, weshalb er bei Frau Rottlöffler-Brodel ins Klassenzimmer eingestiegen ist und die Mathearbeit für den Folgetag aus der Tasche klauen wollte«, sagte Arne triumphierend. Er hatte die Muskelanspannung eines Sprinters, der auf dem Startblock auf den Pistolenschuss wartet. Nur, dass er sich offensichtlich wünschte, der Schuss des Wettkampfleiters würde mich treffen.

»Also, unser Sohn hat eine Mathearbeit geklaut«, murmelte ich.

Dabei hat er sich erwischen lassen? Bei einem einfachen Diebstahl? Strebernoten, aber keine Langfingerqualitäten! Hector war definitiv nicht mein Sohn.

»Wir haben uns die ganze Zeit gefragt, weshalb ein so guter Schüler die Aufgaben stibitzen will.« Marek riss die Gesprächsführung wieder an sich. Der junge Erzieher sprach wie ein Staatsanwalt beim Anklageplädoyer. »Hector hätte das doch gar nicht nötig gehabt. Aber nun ist klar: Er hatte zu große Angst, mal eine Zwei nach Hause zu bringen. Der arme Junge wollte auf Nummer sicher gehen.«

»Der arme Junge?« Arne sprang auf. »Der arme Junge gehört der Schule verwiesen!«

»Was stimmt denn nicht mit Ihnen?«, fragte ich. »Für diese kleine Verfehlung?«

»Eine kleine Verfehlung, die Ihnen sogar tausend Euro Schweigegeld wert war!«

»Waaaas?«, fragten mehrere Stimmen aus mehreren Kehlen, darunter Frau Kloppke, Herr Gärtner und einige Eltern. Selbst Wilma hatte sich mit einem ungläubigen Ausruf dazugesellt.

Ich selbst war vielleicht auch darunter. Weshalb sollte ich, also Lutz, Arne tausend Euro bieten? Und was hatte das mit einer fast geklauten Mathearbeit zu tun?

»Das ergibt doch gar keinen Sinn«, sagte ich.

»Sie leugnen es?« Arne sprang auf. »Hier. Ich hab noch die WhatsApp: Tausend Euro, wenn Sie den Antrag auf Schulverweis zurückziehen.«

»Für so etwas Läppisches gibt es auf der Sokrates-Schule gleich einen Verweis?«, empörte ich mich.

»Läppisch? Immerhin hat er sie geschlagen.«

Rechtschreibfanatiker pochen ja gerne darauf, wie wichtig korrekte Orthografie und Grammatik sind, weil bereits winzige Abweichungen den Sinn eines Satzes auf den Kopf stellen können. Wie etwa das Komma bei »Ich komme, nicht erschießen!« im Unterschied zu »Ich komme nicht, erschießen!«. Kleiner, aber feiner Unterschied. Ich verstehe also alle, die sich für eine korrekte Schreibweise einsetzen. Das Problem jedoch ist: Beim gesprochenen Wort hilft der Duden oft nicht weiter. Man hört zum Beispiel nicht, ob der Sprechende ein großes oder kleines s benutzt. Zur Erinnerung, Arne sagte: »Immerhin hat er sie geschlagen!« Und ich fragte verblüfft: »Wer hat mich geschlagen?«

Sie erkennen natürlich, weshalb das maximale Verwirrung auslöste. Kleiner Buchstabe. Großer Unterschied.

»Hector natürlich«, sagte Arne.

»Hector hat mich wegen einer Mathearbeit geschlagen, und ich biete Ihnen jetzt tausend Euro, damit er deswegen nicht von der Schule fliegt?«

»Haben Sie etwas getrunken?«, wollte Marek wissen.

»Es ist heiß heute. Er scheint verwirrt«, wagte der Dunkelhaarige der Witzlebens eine psychotherapeutische Diagnose.

Arne konkretisierte derweil: »Ihr Hector hat meine Katharina geschlagen!«

Dem Namen auf seinem Namensschild nach war das seine Tochter. Das Eis unter meinen Füßen hatte sich in Wasser aufgelöst. Ich war endgültig eingebrochen und machte es mit meinem nächsten Rettungsversuch nicht besser.

»Wohl eher geschubst«, fabulierte ich.

»Geschubst? Sieht das für Sie nach geschubst aus?«

Arne sprang über den Kitatisch und hielt mir ein Handy vor die Nase. Das Foto, das er mir zeigte, war übel.

»Ach du Scheiße«, entfuhr es mir.

»Jetzt tun Sie nicht so, als ob Sie das zum ersten Mal sehen. Das ist aus unserem Chat-Verlauf.«

Arne zog es mit zwei Fingern größer.

Das Auge des Mädchens mit elfenbeinfarbener Porzellanhaut, deren Haare komplett unter einer Baseballmütze verschwunden waren, war extrem geschwollen. Geplatzte Äderchen im weißen Augapfel, ein Riss, der sich von der Augenbraue bis zum Unterlid zog. Sie hatte heftig geweint, blickte wütend, verletzt und schockiert in die Kamera.

Verdammt. Mit allem konnte ich umgehen, über vieles konnte ich Scherze machen. Nicht aber, wenn Kinder litten. Wenn ihnen Gewalt angetan wurde.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich … ich weiß nicht …«

Ich ertrank. Am liebsten hätte ich um mich geschlagen in der Hoffnung, dass mir jemand einen Rettungsring zuwarf, den ich greifen konnte. Aber nicht einmal Wilma kam mir zu Hilfe. Immerhin sagte sie nicht so etwas wie: »Ganz der Papa, der alte Schläger. Mich hat er heute auch schon vermöbelt«, was ich meiner durchgeknallten Schicksalsgefährtin ohne Weiteres zugetraut hätte. Sie schien eher genauso sprach- und hilflos wie ich.

»Ich sehe es so«, begann Arne mir und der versammelten Elternschaft seine Theorie auszubreiten, »Ihr Sohn Hector wollte meiner Tochter die Mathearbeit verkaufen. Sie hatte in letzter Zeit, also seitdem ihre Mutter uns verlassen hat, Probleme. Die Leistungen sind abgesackt. Deshalb braucht sie dringend gute Noten, um versetzt zu werden. Aber Hector hat zu viel verlangt.«

Er ging an dem rechten Schenkel des Hufeisens auf und ab wie ein Staatsanwalt vor den Geschworenen in einem amerikanischen Justizthriller.

»Katharina hat nicht so viel Taschengeld wie der Arztsohn. Ich bin jetzt alleinerziehend, kann mir als Bürokaufmann kaum was leisten. Meine Kleine konnte oder wollte nicht zahlen. Und da hat Hector zugeschlagen.«

»Woher wissen wir, dass er es war?«, schaltete sich Wilma endlich auch ein. »Ich will Ihrer Tochter nichts unterstellen, Herr Brehmer, aber …«

»Hector selbst hat es gestanden«, klärte Frau Kloppke uns auf.

Mist.

»Letzte Woche. Hat Ihr Mann Ihnen das nicht erzählt?«

Wilma ließ die Frage unbeantwortet. Was sollte sie darauf auch sagen? Vielleicht hatte sich die echte Mama Christin mal wieder im Ausland befunden und wusste wirklich nicht, was Hector in ihrer Abwesenheit angestellt hatte. Lag ja nahe, dass der Fremdvögler-Papa Lutz sich mehr um seine Tinder-Affären als um die Zukunft seines Sohnes kümmerte.

»Der Schuldige hat es gestanden.« Arne fixierte abwechselnd mich und Frau Kloppke. »Und ja, deswegen fordere ich, dass unsere Klasse geschlossen bei der Elternkonferenz den Schulverweis von Hector Schmolke beantragt.«

Ich sah hilflos zu Wilma. Sie schien sprachlos. Auch ihr schien es nicht gut zu gehen. Sah ich da Tränen in den Augen? Seltsam, dass uns das Thema so berührte, obwohl wir beide keinerlei Verbindung zu Hector, seinen Problemen und diesen Familien hatten. Ich musste an Hectors Collage denken und an den Kloß im Hals, den ich beim Betrachten verspürt hatte. Mir wurde etwas schwindelig, und das Bedürfnis, so schnell wie möglich abzuhauen, wurde übermächtig.

»Entschuldigen Sie, ich müsste mal auf die Toilette«, sagte ich mit matter Stimme.

»Ausgerechnet jetzt?«, höhnte Arne.

Nein, schon eine ganze Weile. Aber jetzt ist mir auch noch schlecht.

»Gut, aber bitte beeilen Sie sich«, sagte Frau Kloppke.

Ich versprach, mir nicht zu lange Zeit zu lassen. In der festen Überzeugung, keinen der Anwesenden hier jemals wiederzusehen, sobald ich einen Notausgang gefunden hätte, erkundigte ich mich nach der Lage der Waschräume.

Zu meiner absoluten Verwirrung zeigte Herr Gärtner exakt auf die rahmenlose Tür, durch die mich Polysusi69 vor nur wenigen Minuten ins Kinderklo hatte bugsieren wollen.

»Dort?«, fragte ich verwirrt.

Mehrere Eltern und Herr Gärtner nickten.

»Ähm, gibt es hier keine andere Örtlichkeit?«

»Nicht in der Nähe. Halten Sie es noch eine Stunde aus, bis wir die Bungalows beziehen?«

Frau Kloppke hätte auch als Alternative vorschlagen können, mir auf dem Klapptisch einen Einlauf zu verpassen.

»Nein, wohl eher nicht.«

»Gut, dann sind die Toiletten hinter Ihnen am nächsten.«