Kapitel 27

M anchmal ist es nicht so, wie es scheint«, begann ich meine Rede, die ich weder vorbereitet noch eingeübt hatte. Ich folgte einer Eingebung, was, um ehrlich zu sein, nicht immer klug war. So hatte ich schon mal einer Eingebung folgend versucht, mir einen abgebrochenen Zahn mit der Nagelfeile zu glätten und danach den dentalen Notdienst googeln müssen.

»Er hat eine Mathearbeit geklaut und eine Schülerin verletzt. Beides hat er gestanden«, sagte der blonde Witzleben, wobei er nicht anklagend wirkte. Er schien ehrlich an meinen Ausführungen interessiert. »Wie soll da der Anschein trügen?«

»Ich will Ihnen von Frieder Baumknecht erzählen.«

»Wer ist das denn?« Arne lehnte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen zurück und grinste abschätzig. Wenn er anfangen würde zu kippeln, hätte ich auch was zu lächeln gehabt. Der winzige Stuhl knirschte unter dem langbeinigen Gewicht bereits bedenklich. »Frieder ist ein Bekannter von mir. Ich bin mit ihm zur Schule gegangen.«

In Wahrheit hatte ich ihn im Wartezimmer eines Strafverteidigers getroffen, er prahlte mit seinen Vorstrafen und lachte mich aus, dass ich noch nicht einmal im Bau gesessen hatte, doch das zu erwähnen hätte das vertrauensbildende Ziel meiner improvisierten Rede gefährdet.

»Frieder ist durch ein Attentat ums Leben gekommen«, sagte ich, fast wahrheitsgemäß.

»Echt jetzt?«, fragte Frosti.

»Stand sogar in der Zeitung, war aber nicht mehr als eine Randnotiz.«

»Wer hat ihn denn ermordet?«, hakte Frau Tsui mit professionellem 112 -Interesse nach. Mich hätte es nicht gewundert, wenn sie ein Headset aufgesetzt und mit strenger Miene nachgefragt hätte: »Wo befand sich der Einsatzort? Adresse? Wie viele Verletzte?«

»Er wurde das Opfer einer Paketbombe. Dazu müssen Sie wissen: Der Konstrukteur der Bombe war sehr geizig und auch etwas doof. Für sich alleine schon unschöne Eigenschaften. In Kombination aber tödlich.«

Arne plusterte die Wangen auf. »Ich verstehe noch immer nicht, was das mit Hector und Katharina …«

Ich hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen. »Geben Sie mir einen Moment. Schließen Sie die Augen. Und denken Sie an einen technikverrückten Pfennigfuchser, der bei der Paketbombe am Porto spart. Was passiert?«

»Die Post hat sie nicht zugestellt«, rief Chernizky.

»Genau. Das Paket ging zurück zum Absender«, verriet ich die Pointe.

Die Toseweits grinsten, sie hatten es verstanden. Marek musste nachfragen: »Und dieser Frieder …?«

Ich nickte. »Ich sagte doch, er war nicht ganz helle. Er hatte seine Adresse auf das Paket geschrieben. Und vergessen, was drin war, als es wieder auf seiner Fußmatte lag. Er öffnete es und …«, ich schlug in die Hände, »… peng!«

Wilma zuckte neben mir zusammen.

»Glaub ich nicht«, sagte Valentina, lächelte aber. Sie dachte, ich würde ähnlich flunkern wie ihr Mann mit der Geschichte von dem geduschten, geföhnten und zurückgelegten weißen Hasen.

»Aber so war’s. Ich schwöre.« Und nein, ich beging hier keinen Elternabend-Meineid. Genauso war es tatsächlich gewesen, aber wie so oft wurden die echten Geschichten, die das Leben schrieb, als an den Haaren herbeigezogen abgetan.

»Noch mal: Was hat das mit Hector zu tun?«, fragte Arne angriffslustig.

»Frieder wurde mit einer Paketbombe in die Luft gesprengt. Lange Zeit hat man seinen Erzfeind verdächtigt, mit dem er jahrelang im Streit lag. So könnte es bei Hector doch auch sein …«

»Verstehe ich nicht.«

Ich nickte. Denn zugegebenermaßen ging es mir ähnlich.

Ich hatte den Faden verloren. Worauf wollte ich noch mal hinaus, ach ja …

»Manchmal sehen wir die Fakten und bewerten sie falsch. Weil wir die Motivation nicht kennen. Und dann biegen wir uns die Wahrheit zurecht. Den Ermittlern war es anfangs egal, dass die Umstände irgendwie nicht passten, sie hatten sich auf den Erzfeind von Frieder eingeschossen. Denn wieso sollte ein Paketbombenbauer durch sein eigenes Paket getötet werden?«

»Ich nehme an, Sie sagen uns gleich, worauf dieser Vortrag hinausläuft«, seufzte Frau Kloppke.

»Bei Hectors Geschichte gibt es eine ähnliche Unstimmigkeit. Wieso sollte ein sehr guter Schüler eine Klassenarbeit klauen?«

»Um sie zu verkaufen!«, wandte wieder einer der Witzlebens ein. Diesmal der dunkelhaarige.

»Aber wieso sollte er das tun? Die Schmolkes … äh, also wir … wir verdienen nicht schlecht. Sie haben es von Arne selbst gehört. Hector hat solche Geschäfte nicht nötig. Er bekommt ein gutes Taschengeld.«

Wilma nickte, als würde sie dem kleinen Wonneproppen tatsächlich wöchentlich das Geld in nicht nummerierten Scheinen zustecken.

»Und dann ist da noch etwas …«

Ich sah zu der Wand mit den Bildern. Aber … Ich stutzte. Hectors Collage fehlte.

Mir fiel ein, dass sie sich gelöst hatte, als Polysusi69 zum Frontalangriff übergegangen war.

»Was ist da noch?«, wollte Frau Kloppke wissen.

»Er, äh, unser Junge, er ist sensibel. Die Art und Weise, wie er malt und zeichnet … Das passt nicht zu einem Schläger.«

»Samuel Little hat von seinen Opfern auch sehr hübsche Aquarelle angefertigt«, sagte Arne.

Ich wusste nicht, wen er meinte. Wilma schon. Sie fuhr regelrecht aus der Haut und vom Stuhl hoch. »Wollen Sie jetzt ernsthaft meinen Sohn mit dem schlimmsten Serienmörder aller Zeiten vergleichen?«

Arne zuckte mit den Achseln. »Irgendwann fängt es bei allen Psychos mal an.«

Wilma machte Anstalten, Brehmer über die Kitamöbel hinweg an die Gurgel zu springen. Ich hielt sie mit meiner Hand, Frau Kloppke mit Worten auf.

»Bitte, bitte beruhigen wir uns doch alle und atmen einmal tief durch.«

Ihr Vorschlag wurde in etwa so geflissentlich befolgt wie die Aufforderung einer Stewardess: »Bleiben Sie ruhig sitzen, es ist gar kein Problem, dass die Tragfläche brennt.«

Alle riefen, gestikulierten und schwadronierten durcheinander.

So wild, dass es mir unmöglich war, die Kakofonie dahin gehend zu sezieren, wer im Team Arne und wer im Team Hector spielte. Immerhin gab es einige, die zwar die Taten »unseres« Jungen verurteilten, dennoch aber ein Problem damit hatten, wenn ein Kind als Psycho abgestempelt wurde.

Weder Frau Kloppkes Rufen noch ihr wildes Getrommel auf den Tisch halfen ihr, sich Gehör zu verschaffen. Das gelang kurioserweise erst einem Klimpern. Kaum dass sie mehrere Schlüssel mit roten Anhängern vor sich auf den Tisch gelegt hatte, verstummten nach und nach die Anwesenden, und Henriettas Stimme traf wieder auf interessierte Ohren. »Ich schlage vor, dass wir jetzt erst mal unsere Bungalows beziehen und eine Nacht über das Vorgebrachte schlafen.«

Sie deutete auf die Schlüssel. »Wir haben die einzelnen Gebäude nicht extra zugeteilt, da alle baugleich und jeweils für zwei Personen sind. Nehmen Sie sich einfach einen Schlüssel. Die Nummer auf dem Anhänger ist die Hausnummer. Im Schaukasten finden Sie einen Lageplan.«

Ich atmete erleichtert aus. Endlich. Ich konnte erst auf die Toilette. Dann irgendwie abhauen. Der Wahnsinn hatte bald ein Ende.

Frau Kloppke lächelte. Ihr Blick wanderte über die Runde.

»Schön. Sie können ja schon mal auspacken und sich frisch machen.«

Sie machte eine Pause. Dann sagte sie den bislang für mich verwirrendsten Satz an diesem Abend: »Da fällt mir ein: Ich hoffe doch, Sie alle haben an Ihre Bettlakenkostüme gedacht?«