Kapitel 29

U nsere Kinder?, dachte ich mit einem Pfeifton im Ohr. Ein nur für mich hörbares Zeichen mentaler Überlastung. Im ersten Impuls wollte ich schreien. Dann flüstern, damit Frau Kloppke mich nicht schon wieder verbal kreuzigte, doch angesichts der tosenden Geräuschkulisse, die nach ihrem letzten Satz eingesetzt hatte, wäre ich auch nicht verstanden worden, selbst wenn ich brüllte.

Es war, als hätte in einem ausschließlich mit hyperaktiven Kindern gefüllten Klassenzimmer die Schulglocke zur großen Pause geklingelt. Die Bungalows zu beziehen schien keinen Aufschub mehr zu dulden, vielleicht wollten sie auch nur rechtzeitig vor der Protokollführer-Wahl fliehen – auf alle Fälle wurden Stühle und Tische gerückt, Rucksäcke und Taschen geschultert, Türen und Fenster aufgerissen (Letztere für die Frischluft; so verzweifelt, aus dem Fenster in den Wald zu fliehen, war außer mir noch keiner) und der Tisch von Henrietta und Marek gestürmt wie ein Freibierstand auf dem Oktoberfest. Wilma, die sich schneller als ich aus ihrer Schockstarre gelöst hatte, war bereits im Besitz von Schlüssel Nummer achtzehn.

Ich folgte ihr nach draußen, zog sie außer Hörweite derer, die sich um den Schaukasten scharten, um auf dem Lageplan nach ihrem Bungalow zu suchen, und fragte sie: »Was soll das heißen? Sind die Kinder aus der Klasse etwa hier …?«

»… vor Ort.«

»Und Hector …«

»… hätte niemals erlaubt werden dürfen, hier mitzufahren«, raunzte mich Arne von der Seite an, der im Vorbeigehen zumindest Wortfetzen unserer Unterhaltung aufgeschnappt haben musste. »Wenn’s nach mir gegangen wäre, hätte ich Ihren Sohn ausgeschlossen. Mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken, dass er in Katharinas Nähe ist, aber Frau Kloppke wollte keine vorgezogene Bestrafung, bevor wir das nicht im Klassenkreis diskutiert und entschieden haben.« Er wedelte mit seinem Zeigefinger vor meiner Nase, der genauso lang und behaart war wie seine Beine. »Aber das sage ich Ihnen: Nach diesem Elternabend wird das Hectors letzter Schulausflug gewesen sein.«

Mit diesen Worten flipflopte er wütend davon.

Wilma lächelte mich an. »Schätze, das war die Antwort auf deine Frage.« Sie formte mit deutlich hübscheren, komplett unbehaarten Fingern Gänsefüßchen in die Luft. »›Unser Kind‹ ist mit uns auf der Insel.«

Unerklärlicherweise schien sie das zu amüsieren. Wäre ich nicht selbst in einer emotional so angespannten Situation gewesen, hätte ich mir ernsthaft Sorgen um ihren Gemütszustand gemacht. Halluzinierte Wilma? Sah sie die Welt anders als ich? Erschien ihr eine Müllkippe als Wildblumenwiese und ein Leichenkühlschrank in der Pathologie als Kuschelbett? Ich gewann zunehmend den Eindruck, dass sie sich umso köstlicher amüsierte, je bedrohlicher das Ausmaß der Katastrophe wurde.

Was dachte sie wohl, wie Hector auf uns reagieren würde, wenn er uns gleich sah? Wenn wir ihm ein fröhliches »Hallo, Sohnemann« zuwinkten, ihn mit einer gewaltsamen Umklammerung in die Arme schlossen und ihm mit einem Taschentuch den Mund zuhielten, damit er nicht um Hilfe schrie?

»Hast du Chloroform im Rucksack?«, fragte ich sie.

»Wozu?«

»Stimmt, das brauchen wir ja nicht. Hector wird den Unterschied zu seinen wahren Eltern gar nicht bemerken. Wir müssen nur sagen: ›Hey, wir sind es doch. Mami und Papi. Komm her, lass dich knuddeln. Wie, du erkennst uns nicht? Ach, menno, stimmt, haben wir glatt vergessen, heute Morgen beim Frühstück zu erwähnen. Deine lieben Eltern waren beim Drive-in-Schönheitschirurgen, das geht ratzfatz, wie gefällt dir unser neues Aussehen?‹«

Sie lachte.

Immerhin, Wilma kam trotz ihrer manischen Fröhlichkeit noch zu logischen Schlussfolgerungen. »Das hier wird eine Kombination von Elternabend und Wochenendklassenausflug sein. Ich gehe davon aus, dass die Schülerinnen und Schüler mit anderen Aufsichtspersonen die Fähre vor uns genommen haben.«

Ich ging zur Gießkanne und nahm die Hortensie wieder an mich. »Ach was. Gut, dass du mich aufklärst. Ich dachte bis eben noch, die Eltern hätten ihre Kleinen in den Rucksäcken versteckt und vor meinen Augen unbemerkt in die Bungalows geworfen.«

Ich nahm ihr den Schlüssel ab und stapfte zum Schaukasten.

»Wo willst du hin?«

»Zuerst zum Bungalow!«

In dem es hoffentlich eine Toilette gab.

Mist, wo zum Geier war die Nummer 18 ? Natürlich fand ich auf der Karte nur 1 bis 17 .

Ich sah auf die Uhr, dafür musste ich die Hortensie von einer Hand in die andere nehmen. »Meine Tochter hat noch gute vier Stunden Geburtstag. Ich mache mich kurz frisch, und dann fahre ich zu ihr.«

Endlich hatte ich die Nummer 18 auf dem Plan gefunden. Eine trockene Staubwolke wirbelte auf, als ich mich auf den Weg machte.

»Du willst also zur Feier deiner Tochter«, rief Wilma mir hinterher. »Wie, bitte schön, willst du das schaffen? Ohne Boot?«

»Das geht einfacher, als du denkst …«, motzte ich sie an, ohne mich umzudrehen.

»Na, das will ich sehen!«, sagte sie, blieb aber dankenswerterweise beim Mehrzweckgebäude stehen. Sonst hätte sie womöglich beobachtet, wie ich mich auf den Weg zu Lara machte.

Und den Anblick wollte ich ihr gerne ersparen.

Niemand sollte einem anderen dabei zusehen müssen, wie er sich das Leben nimmt.