S agen Sie jetzt nicht, das hätte Sie überrascht.
Ich habe Ihnen doch schon mit dem ersten Satz einen Hinweis auf meinen Gemütszustand und meine daraus folgenden Pläne gegeben: »Lassen Sie mich diese Geschichte an der Stelle beginnen, an der sie hätte enden sollen.«
Genau. Lara, über die ich eigentlich nie reden wollte (auch das hatte ich auf Seite 9 doch sehr deutlich gemacht), feierte heute ihren sechzehnten Geburtstag. Nicht bei uns. Nicht in meiner, vermutlich auch nicht in Ihrer Welt. Sondern irgendwo anders, hoffentlich.
Ja, ich bin gläubig, wenn auch – das gebe ich offen zu – erst, seitdem meine Tochter vor drei Jahren gestorben ist. An einem Teelöffel Zimt. Ich habe es bis heute nicht geschafft, mir das Video anzusehen. Anders als etwa eins Komma zwei Millionen Menschen, denn die missglückte Mutprobe ging viral. Lara hatte sie vor laufender TikTok-Kamera gemacht. Was war schon dabei? War doch nur Zimt. Gibt es in jedem Haushalt.
Leider auch in unserem, obwohl – und das ist einer von vielen Gründen für meine nicht enden wollenden Selbstvorwürfe – meine Ex mich inständig gebeten hatte, das »ungesunde Zeugs« wegzuschmeißen. »Zimt schädigt die Leber«, hatte sie mir wieder und wieder gepredigt, und ich hatte ihre Mahnungen als übertriebene Panikmache abgetan, so wie all die anderen Lebensmittel-Warnstudien, von denen es täglich eine neue gab, die einer früheren widersprach. Außerdem hatte ich mir die Weihnachtsstimmung nicht vermiesen lassen wollen und ein kleines Päckchen hinter dem Mehl für meine Streuselschnecken versteckt, wo es bis zum Sommer stehen blieb und ich es völlig vergaß. Fünfzehn Gramm davon hatten gereicht, und Lara musste so husten, dass das feine Pulver in ihre Atemwege gelangte. Was viele nicht wissen: Zimt ist biologisch nur schwer abbaubar und trocknete buchstäblich Laras Luftröhre aus. Sie erstickte schneller, als ihre beste Freundin Hilfe holen konnte.
Ha, ha, ha, ha … staying alive. Auch Frau Tsui hätte da nichts mehr machen können. Ein verdammter Teelöffel, und ich hatte alles verloren, was mir im Leben etwas bedeutete: meine Tochter, meine Frau, die mich direkt nach der Beerdigung verließ, meinen Lebenswillen.
Wenn Sie jetzt sagen: »Mensch, das hätten Sie doch auch schon mal früher sagen können«, antworte ich: »Was zum Geier dachten Sie denn, hatte ich mit dem Ledergürtel vorgehabt, der mir, wie ich ausdrücklich erwähnte, im SUV um den Hals schlackerte?«
Ich bin zwar keine Hohlbirne, was technische Abläufe betrifft, hab aber keine Ahnung, wie man einen Fahrerairbag ausschaltet. Mein Plan war es gewesen, den gestohlenen Geländewagen unangeschnallt gegen den Pfeiler einer stillgelegten Bahnbrücke zu lenken. Mein Plan war es nicht, vom Airbag aufgefangen, danach an blinkenden und piepsenden Geräten angeschlossen auf der Intensivstation aufzuwachen, die meinen Zustand als atmendes Gemüse bis in alle Ewigkeit verlängerten. Ein um den Hals gewickelter, mit der Kopfstütze verbundener Gürtel hätte bei einem Aufprall mit Tempo achtzig für klare Verhältnisse gesorgt.
Und ja, klar. Der Brief, den ich hatte schreiben wollen und dessen erste Zeilen ich in dem SUV aus bekannten Gründen liegen gelassen hatte, war ein Abschiedsbrief.
Gut, der Hinweis mit meinem Anzug war vielleicht etwas subtil. Es gibt Suizidenten, die ziehen sich für den besonderen Anlass etwas Besonderes an. Ich falle wohl in diese Kategorie. Und die blaue Hortensie zählt zu Laras Lieblingsblumen. Unter gar keinen Umständen durfte ich mein Geschenk aus der Hand geben. Sicher, die Wahrscheinlichkeit, dass ich sie Lara im Jenseits irgendwo übergeben konnte, war gering. Andererseits: Wie wahrscheinlich war es, dass jemand, der so kaputt und beschädigt war wie ich, ein so wunderschönes, vollkommenes Lebewesen zuwege gebracht hatte? Gott, Sie hätten sie sehen sollen. Allein die Art, mit der Lara den Nachbarsjungen getröstet hatte, wenn der im Hof mal wieder vom Puky-Rad gefallen war. Das hätte Ihnen alles gesagt. Wenn Sie nur mitbekommen hätten, wie sie ihm die Tränen mit dem Ärmel ihrer Bluse trocknete; wie sie sich nicht zu schade war, ihm mit ihren zarten Klavierspielerinnenfingern die Rotze aus dem Gesicht zu wischen und dabei dieses bescheuerte »Aramsamsam« zu singen, was den Kleinen sofort tröstete – es hätte Ihnen gezeigt: Da war jemand, der so anders war als so viele Idioten, die sehr viel Schlimmeres als nur einen Teelöffel Zimt zu sich nahmen, die sehr viel ignoranter und egoistischer durchs Leben gingen und noch immer weiterleben durften. Menschen wie ich.
Mir ist klar, dass Sie meine drastische Entscheidung jetzt nicht verstehen können. Und das ist auch gut so. Können Sie meine Lebensmüdigkeit jedoch nachvollziehen, muss ich Sie bitten, sofort diese Nummer anzurufen: 0800 1110111
Denn dann sind Sie ähnlich hilfebedürftig wie ich und brauchen eine vertrauenerweckende Stimme der Telefonseelsorge.
Wenn Sie aber zu der Mehrheit derer zählen, die sich jetzt fragen: »Wieso wählt er keinen anderen Ausweg?«, dann sage ich Ihnen: »Herzlichen Glückwunsch. Sie sind gesund.« Zumindest leiden Sie nicht an meiner mentalen Krankheit. Sie können nicht nachempfinden, wie es ist, Tag für Tag in einer dunklen Nebelwolke durchs Leben zu waten. Sich wie ein Schwamm zu fühlen, der, wie sehr man ihn auch auszudrücken versucht, die Schwermut nicht aus sich herauspressen kann.
Ich will nicht sterben. Ich fürchte das Leben nur mehr als den Tod. Das ist ein wesentlicher Unterschied, den ich Ihnen – glücklicherweise – vielleicht nie werde begreiflich machen können.
Wenn Sie bei der Nachricht, dass sich wieder einmal ein Prominenter das Leben genommen hat, die Frage stellen: »Wieso denn bloß, der war reich und berühmt und hatte doch alles?«, beglückwünsche ich Sie ebenso. Sie sind naiv und unwissend, ja. Aber das schützt Sie. Natürlich würden Sie niemals zu einem Mann mit einer akuten Blutvergiftung sagen: »Wieso machst du das? Gibt es keinen anderen Weg für dich, als hier leidend im Krankenhaus zu liegen?« Sie würden keinen Asthmakranken auffordern, mit dem Husten aufzuhören, weil sein Tag doch heute eigentlich ganz schön gewesen war. Sie würden niemals einem Krebspatienten sagen, er solle sich einfach mal zusammenreißen, das Wetter sei doch so herrlich. Nun, ich leide unter seelischem Krebs. Ich habe jede Therapie versucht, das schwöre ich. Ich kann mich nicht einfach zusammenreißen. Und wie ein Gelähmter kann ich nicht einfach aus dem Rollstuhl aufstehen und den Marathon des Lebens weiterlaufen. Wie gesagt, Sie müssen das nicht verstehen. Ich bete sogar, dass Sie das nicht tun und Ihnen nichts widerfahren ist, was Sie das Leben nicht als das wertvollste aller Güter schätzen lässt.
Nur bitte ich Sie, mich nicht zu verurteilen auf meinem Weg, der mich in diesen letzten Sekunden rasch noch einmal in den Bungalow führte in der Hoffnung, dass Wilma sich etwas Zeit damit lassen würde, mir zu folgen. Denn ja, auch das mag seltsam anmuten: Zu dem Wunsch eines todgeweihten Menschen, die Dinge vor seinem Ableben bestmöglich zu regeln und mit sich und allem im Reinen zu sein, zählt auch, alle irdischen Angelegenheiten zu einem ordentlichen Ende zu führen.
Sprich: das letzte Geschäft auf Erden in Ruhe auf einer ordentlichen Toilette zu verrichten.