Kapitel 31

ZUR SELBEN ZEIT
BERLINER FESTLAND
KOSCHNICK

D ie SMS von einer unbekannten Nummer ging ein, als Koschnick gerade das letzte Stück Currybulette kaute. Vermutlich kam sie von einem Wegwerfhandy wie dem, von dem der Polizist die eingehende Nachricht ablas. Der flüchtende Komplize der Joggerin hatte es mitsamt Sakko und Brieftasche im Wald entsorgt und damit den Boden für den Schlamassel bestellt, in den Trottel-Tratto sie hineinmanövriert hatte. Von der Frau fehlte jede Spur. Aber immerhin war dank Ausweis im Portemonnaie die Identifizierung des männlichen Täters ein Kinderspiel gewesen: Sascha Nebel. Ein Sechsunddreißigjähriger mit einer Strafakte, die seltsamerweise erst in der jüngeren Vergangenheit die ersten Einträge bekommen hatte und nicht wie bei den meisten Kriminellen schon vom ersten Schultag an gefüllt worden war.

»Was gib neuer Erkenntnis?« Die SMS war in hanebüchenem Deutsch verfasst, aber wenigstens nicht in kyrillischen Buchstaben.

»Sind dran«, antwortete Koschnick schnell, dann drehte er sich am Stehtisch zum Geräusch schlurfender Stiefel hinter ihm.

Na endlich!

»Schön, dass du dir nicht noch länger Zeit gelassen hast, dann wär ich nämlich in Rente«, schnauzte Koschnick den Polizeianwärter Tratto an. Sie hatten sich vor einer Stunde an Frankys Curry Station am Theo verabredet, und mittlerweile hatte er so ziemlich alles von der Speisekarte durch, was man für eine gepflegte Herzkranzverfettung so brauchte.

Ihr Tisch stand als einziger isoliert am hinteren Ende der Imbissbude und bot die unspektakuläre Aussicht auf einen Taxistand. Hier waren sie ungestört, und niemand konnte sie bei der anstehenden »Polizeibesprechung« belauschen.

»Sie meinen Pension«, sagte Tratto.

»Hä?«

»Wir als Beamte werden pensioniert und nicht verrentet … Aua.«

War doch immer wieder schön, von jemandem mit erfolgreicher IQ -Diät in der Öffentlichkeit korrigiert zu werden.

»Jetzt ist Ketchup in meinem Haar«, beschwerte Tratto sich über die Kopfnuss.

»Dann bestell dir Pommes dazu.« Koschnick lachte. »So, was hast du für mich?«

Noch am Tatort hatte er die Arbeitsteilung geregelt. Er selbst werde sich um die Einsatzstrategie kümmern, Tratto werde den Rest übernehmen, also im Grunde alles von der Recherche bei Holiday-Charter über die Auswertung des Sakko-Inhalts bis hin zur nochmaligen Untersuchung des zerstörten Wagens. Immerhin hatte der tschetschenische Mafioso was von »Ware« erzählt, die der laut Ausweis auf den Namen »Sascha Nebel« hörende Anzugtyp für ihn besorgen sollte.

»Ich hab mit denen von Holiday-Charter gesprochen. Der Bus ist zum Parkplatz Havelchaussee gefahren.«

»An den Wannsee?«

»Ja. Ist von der Sokrates-Schule für einen Eltern-Lehrer-Kind-Elternabend angemietet worden.«

»Was soll das sein?«

Eine lärmende Hupe unterbrach ihr Gespräch. Der Besitzer eines Kleinstwagens hatte es gewagt, sich an die hinterste Stelle des verwaisten, hundert Meter langen Taxistands zu stellen, und wollte gerade aussteigen. Der einzige sich nähernde Taxifahrer hätte ihn seinem Gesichtsausdruck nach am liebsten mit einer Schallkanone vom Stand Richtung Reichsstraße weggeblasen.

»Das hat die Dame von der Busvermietung auch nicht so genau gewusst«, sagte Tratto, als die Hupe nach gefühlt zehn Minuten erstarb. »Anscheinend verbringen die Eltern gemeinsam mit ihren Kindern eine Nacht auf Schilfwerder in einer Freizeiteinrichtung. Das verbinden die dann gleich mit einem Elternabend. Klingt irgendwie spannend.«

»Für Masochisten vielleicht.« Ein Elternabend war ja schon Horror. Und zudem die Bälger dabei? Da würde er eine Woche Einzelhaft in der Revierzelle vorziehen.

»War da noch was in der Karre?«

»Ja. Hier.«

Tratto räumte eine Cola und mehrere Pappschachteln zur Seite und schüttelte den Inhalt eines Beweissicherungsbeutels auf dem Stehtisch aus: Feuerzeug, Kondome, Taschentücher, abgelaufene Parktickets, Mundspray, eine leere Energydrink-Dose, Kleingeld …

»Na prima.« Koschnick klatschte in die Hände und sagte übertrieben freudig: »Da haben wir doch das, was der Tschetschene will.«

»Echt?« Tratto grinste glücklich von einem Ohr zum anderen.

»Ja, na klar.« Koschnick sprach jetzt in einem Tonfall, den Tratto absolut verdiente und den er sich von seinem Nachbarn abgeschaut hatte. Der redete mit seinem erblindeten, halb toten Hund auch immer so, als wäre das arme Tier ein Psychiatriepatient.

»Eine leere 25 -Cent-Pfanddose. Kenne keinen, der dafür nicht ein Auto zu Brei kloppen und die Polizei bedrohen würde.«

»Ach so, das war ein Scherz.«

Deine Zeugung war ein Scherz, lag Koschnick auf der Zunge. Er schluckte die bissige Bemerkung nur herunter, weil Tratto ihm zuvorkam. »Dann ist der Brief wohl auch nicht wichtig.«

»Was für ein Brief?«

»Eher ein Zettel.«

»Gut, was für ein Zettel?«

»Na ja, es ist eher eine Notiz.«

»Verdammt, und wenn es eine Marmorplatte mit Keilschrift wäre …« Koschnick griff sich eine mayobeschmierte Labberpommes und wedelte mit ihr in Trattos Richtung:

»WAS STEHT DRAUF ???«

Ein langsam vorbeispazierendes Rentnerpärchen warf ihnen verstörte Blicke zu und ging kopfschüttelnd weiter.

»Das geht auch freundlicher«, maulte Tratto, zog aber ein in der Mitte mehrfach gefaltetes DIN -A4 -Blatt aus der Hosentasche, öffnete es und las vor:

An den, der mich findet:

Es tut mir leid, aber ich konnte nicht anders. Niemand außer mir trägt hierfür irgendeine Verantwortung oder gar Schuld. Ich musste es tun, denn …

»Das ist alles?«

»Ja.«

»Und was soll das bedeuten?«

»Keine Ahnung. Sieht so aus, als ob der Brief nicht fertig wurde. Oder die Notiz. Oder …«

»… der Zettel, ja, ich weiß.«

»Aber schauen Sie mal hier.« Tratto hielt Koschnick das Blatt direkt vor die Nase, der es sich instinktiv wie eine lästige Fliege mit der Hand vom Gesicht wischte.

»Was wird das?«

»Haben Sie das Wasserzeichen gesehen?«

Koschnick hielt das Blatt ins Gegenlicht der langsam untergehenden Sonne.

»SN .« Zwei durchsichtig eingeprägte Initialen im Papier. »Und was sagt uns das?«, fragte er Tratto.

»Ich denke, das ist das Briefpapier von Sascha Nebel.«

»Hm. Möglich.« Auch ein lobotomisiertes Huhn fand ja bekannterweise mal ein Korn.

»Also hat unser Verdächtiger, der für den Tschetschenen eine Ware besorgen soll, diesen Brief verfasst«, sagte Koschnick. Aber wo war da die Logik? Seine Komplizin zerstört die Karre von diesem Arnold, und Sascha Nebel schreibt Entschuldigungsbriefe?

Nach dem Motto: Du, sorry, dass du jetzt einen neuen Wagen brauchst, aber ich konnte nicht anders. Und irgendwie hat ja keiner die Schuld, denn … meiner Mittäterin ist einfach die Hand ausgerutscht  … oder wie auch immer diese Brief-Zettel-Notiz weitergehen sollte.

»Vielleicht ist es keine Entschuldigung.«

»Sondern?«

»Ich habe Nachforschungen angestellt. Sascha Nebels Tochter Lara ist heute auf den Tag genau vor drei Jahren gestorben.«

»Woher weißt du das?«

»Ich hab so meine Kontakte«, brüstete sich Tratto.

Eine Sekunde nach diesem Satz steckte er in Koschnicks Schwitzkasten. »Du hast keinen Zugang zum Polizeicomputer, also verrat mir jetzt sofort deine Quellen.«

»Guh…«, stöhnte der Polizeianwärter erstickt.

Koschnick lockerte den Griff. »Was?«

»Google«, keuchte Tratto.

Ach so . Das gab’s ja auch noch.

»Okay, was weißt du noch?«

Sein Kollege rieb sich den Hals und räusperte sich. »Lara wäre heute sechzehn geworden. Die Zeitungen haben das Drama damals groß ausgeschlachtet. Ihre große Feier wäre erst am Wochenende gewesen. Sie hing nach der Schule nur kurz bei einer Freundin ab, bevor sie später mit ihren Eltern ins Kino wollte. Doch dazu ist es nicht mehr gekommen. Denn bei der Freundin waren noch andere Mitschüler, und die kamen auf die Idee, Lara für eine Mutprobe einen Löffel Zimt essen zu lassen.«

»Wusste gar nicht, dass das Zeug so gefährlich ist.«

»Ja, das ist erst seit einigen Jahren bekannt, dass in Zimt Phenylpropanoide wie Cumarin drin sind, die starke gesundheitsschädigende Wirkungen …«

Koschnick ballte die Fäuste. »Wenn du nicht meine starken gesundheitsschädigenden Wirkungen erleben willst, dann schlage ich vor, du vertrödelst unsere Zeit nicht mit auswendig gelernten Wikipedia-Artikeln. Sie hat also Zimt gegessen und ist daran gestorben?«

»Ja.«

»Weil ihre Mitschüler sie dazu angestiftet haben?«

»Ja.«

»Verdammt.«

»Ja, so sinnlos«, stimmte Tratto ihm zu. »Da stirbt jetzt zwar nicht jeder dran, aber Zimt bündelt den Speichel und …«

Koschnick unterbrach ihn. »Das meine ich nicht. Ich meine, klar ist das tragisch. Aber noch schlimmer ist der Brief.«

»Wieso?«

»Mann, Mann, Mann … alles muss man selber machen! Du hast die Hinweise auf dem Silbertablett und kannst nicht eins und eins zusammenzählen?«

Tratto zuckte hilflos mit den Achseln, also klärte Koschnick ihn auf: »Diese Lara hat heute Geburtstag. Sie ist wegen ihren Mitschülern gestorben. Also wegen Schulkindern. Und wohin ist ihr Vater am Geburts- und Jahrestag des Todes gerade unterwegs?«

»Zu einem Elternabend!«

»Auf dem Weg zu Kindern einer Schule. Radikalisiert von der tschetschenischen Mafia. Das hier«, er wedelte mit Sascha Nebels Papier, »ist keine Entschuldigung. Das ist ein Abschiedsbrief.«

»Oh, Gott, er wird doch nicht …«

»Doch. Er will sich rächen. Und so viele Kinder wie möglich mit in den Tod nehmen.«

»Himmel, wir müssen Unterstützung anfordern«, sagte Tratto.

»Damit wieder andere die Lorbeeren einsacken? Quatsch, wär doch gelacht, wenn wir den Anschlag nicht alleine verhindern könnten. Wo, sagte die Reisebustante noch mal, sind die mit dem Bus hingefahren?«